Summchöre quollen über den Schallschutzzaun. Hier war ich wohl richtig. Dabei sah man dem mitten in der sächsischen Landschaft gelegenen Wäldchen samt Einfriedung aus Maschendraht und Selbstschussanlagen gar nicht an, dass sich die Insassen dort so wohl fühlten.
„Zunächst einmal sind das keine Insassen“, stellte Doktor Goebbels fest. Sie musterte mich über den Rand ihrer randlosen Brille mit deutlicher Missbilligung. „Diese Leute zahlen, warum, das hat uns nicht zu interessieren, schließlich sind wir ein kapitalistischer Betrieb. Und deshalb bevorzugen wir es, sie als Gäste zu bezeichnen.“ Ich schaute mich um; wer sich hier als Gast fühlte, musste wohl mehr als ein Problem mitgebracht haben. Doktor Goebbels nickte. „Wir beherbergen bis zu hundert Personen mit autoritärer Persönlichkeit, und sie alle fühlen sich hier sehr wohl.“ Ich deutete nach oben. „Deshalb auch die Attrappen.“ Sie lächelte. „Wenn Sie herausfinden wollen, ob das Attrappen sind, gehen Sie gerne nach Einbruch der Dunkelheit auf den Grünstreifen vor dem Zaun. Einmal klappt es.“
Auf dem inneren Platz war unterdessen ein Zug bunt bewimpelter Demonstranten aufgezogen. „Freiheit“, plärrte es herüber, und: „Muss weg! Muss weg!“ Manche schwenkten rot-blau-orange Fahnen, manche weiß-braune, und fast alle trugen grotesk geformte Kappen aus Aluminiumfolie mit einer albern in die Höhe gezipfelten Spitze auf dem Scheitel. Vielleicht hatte ich hier schon genug gesehen, dachte ich. Vielleicht sollt ich wirklich nicht tiefer in diesen Morast eindringen. Doktor Goebbels lächelte maliziös. „Sie sind doch nicht den ganzen Weg gefahren, um jetzt vor dem Volk den Schwanz einzukneifen.“
„Wir sind das Volk“, bestätigte ein enthemmtes Duo alternder Herren mit dünnem Haar und dicken Armen ihre Selbstwahrnehmung. „Wir sind das Volk!“ „Schön, dass in Ihr Lager inzwischen ein ganzes Volk hineinpasst. Dazu brauchen ja andere gleich einen ganzen Sportpalast.“ Sie guckte etwas sauertöpfisch. „Das lassen Sie mal meine Sorge sein.“ Unterdessen hatte ein gutes Dutzend älterer Männer – es gab hier überhaupt nur ältere Männer, aber das war wohl der Sinn der Sache – sich mit hastig bemalten Transparenten in den Mittelpunkt gestellt. „Freiheit“, johlten sie, und: „Deutscher Käse auf deutschem Brot“, und: „Tri-Tra-Trullala!“ Es war kaum zu ermessen, schon gar nicht Worten, erst recht nicht in vernünftigen, wie viel Inbrunst in diesem Gelalle mitschwang. Vielleicht hatte man den Männern im Schlaf ihr Gehirn durch die Nase abgesaugt, um eine Mumifizierung vorzubereiten – alt genug waren sie ja – vielleicht waren es aber auch einfach Idioten, zumindest solche, die sich auf Grund dieser Tatsache schon für ein eigenes Volk hielten.
„Unser Programm hat viele Facetten“, erklärt Doktor Goebbels. „Zunächst einmal ist es für diese Herren ganz offensichtlich ein entspannendes Moment, ganz unter sich zu sein.“ Das wäre noch keiner Erwähnung wert gewesen, aber es wirkte doch recht plausibel. „Dann“, fuhr sie fort, „hören Sie sich einmal an, was die Menge da vollführt.“ „Huhu-huhu“, drang es durch die Fenster, „Tri-Tra-Trullala!“ „Wenn man mit ihnen zu tun hat“, berichtete die Therapeutin, „hört man sonst immer nur dieselben Sprüche, irgendwas mit Deutschland, irgendwas mit Gas, Sie wissen schon.“ Noch immer tönte das Geschrei hinein. „Aber hier können wir sie wenigstens eine Zeit lang umkonditionieren, um sie vor der kompletten Verblödung zu schützen.“ Ich blieb skeptisch. „Sie nutzen aus, dass diese Leute noch immer das nachgeplappert haben, was man ihnen vorgibt.“ Sie nickte. „Und dann wollen Sie sie vor Verblödung schützen?“
Man sah, dass die Männer auch mit schlechter Marschmusik zufrieden waren, jedenfalls stolperten sie eifrig über den Grasplatz. „Sie verkennen eine wesentliche Tatsache“, erläuterte Doktor Goebbels. „Schauen Sie sich noch einmal ganz genau an, was wir hier aufgebaut haben.“ Es sollte ein Ferienlager sein, aber nach Ferien sah es hier nun wirklich nicht aus. „Und genau das ist der Punkt. Sie wollen es. Ihnen ist es nur noch nicht klar, denn sie sind sich nicht bewusst, dass es eines Tages darauf hinauslaufen wird.“ Irgendjemand musste gerade auf den Grünstreifen gelaufen sein. Etwas knatterte leise. Mehr war nicht zu vernehmen.
„Jedenfalls leben sich unsere Herren hier bestens aus.“ Draußen blökte das Demokollektiv noch immer irgendetwas von Freiheit. Vielleicht war dieser Drang auch zu tief eingewurzelt in diesen Menschen, man bekam ihn ebenso wenig aus ihnen heraus wie die Erkenntnis in sie hinein, dass sie nicht im geringsten wussten, wofür sie hier eigentlich ihre fahnen schwenkten. Für die Freiheit jedenfalls nicht. „Wir setzen ja auch eher auf den Langzeiteffekt.“ Doktor Goebbels reichte mir den Mantel. „Sie kapieren nicht, warum sie das eigentlich machen, jeden Montag – aber sie fühlen sich nachhaltig verstört. Und mit etwas Glück merken sie, dass das alles vollkommen überflüssig ist.“ Die unauffällige Tür im Schallschutzzaun hatte sich schon wieder hinter mir geschlossen. Drinnen war nur noch ein heiser diffuses Gemurmel zu vernehmen, müde geschrieene Stimmen, Parolen, und dann ein Knattern. Freiheit, die sie meinten.
Satzspiegel