„Geben Sie mir noch eine Minute.“ Siebels lutschte hektisch an seinem Hustenbonbon, während der Aufzug gerade herabgerauscht kam. „Wir nehmen einfach den nächsten.“ So spät war in der Redaktion sonst nichts mehr los, die Moderatoren prüften ihre Moderation, die Gäste saßen bereits in der Maske oder telefonierten an, wie weit sie sich verspäten würden. Der ganze Stab von Das wird man doch wohl noch sagen dürfen war in heller Aufruhr. Irgendjemand würde die Sendung retten müssen.
„Genau das erwarten sie von uns“, knurrte der Produzent. „Eine Woche lang gurkt dieser ganze Haufen unprofessioneller Vollidioten herum, nichts funktioniert, und wir dürfen dann die Kastanien aus dem Feuer holen.“ Der Aufzug war im zehnten Stock angekommen. Die Türen öffneten sich. Der Richtungsanzeiger für die Talkshow wies nach ganz rechts. „War ja zu erwarten“, sagte ich lakonisch. Siebels nickte. „So habe ich es auch in Erinnerung, aber ich möchte gerne wissen, warum sie uns jetzt noch herholen. Anscheinend stimmt etwas nicht mit den Gästen.“ Frau Doktor Hüserich war dann auch entsprechend sprachlos. „Furchtbar“, jammerte sie, „es ist wirklich furchtbar! Wir können die ganze Sendung gar nicht mehr machen! Es gibt da auf einmal so viele Bedenken, ich weiß gar nicht, wo di alle herkommen!“
Die Kärtchen an der Pinnwand zeigten sämtliche Teilnehmer der Sendung. „Hannelore Bahsmann“, las ich. „Rechtsanwältin, die sich mit den Fehlurteilen den Justiz beschäftigt.“ „Lesen Sie die ganze Karte“, empfahl Siebels. „Frau Bahsmann wurde für die Aussage gebucht, dass die ganze Kuscheljustiz den deutschen Rechtsstaat zerstöre.“ „Das ist doch unsinnig?“ Frau Doktor Hüserich nickte. „Ja, aber Sie dürfen nie vergessen: man darf den Zuschauern nie sagen, dass sie dumm sind, aber man darf es auch nie außer acht lassen.“ Siebels legte die Stirn in tiefe Falten. „Sie ordern eine Strafverteidigerin, deren erste Aufgabe es ist, ihre Mandanten vor einem zu harten Urteil des Gerichts zu schützen, und wollen von ihr hören, dass die Gerichte nicht hart genug urteilen.“ Die Doktorin betrachtete sehr eingehend ihre Schuhe.
„Dann hätten wir da einen Kommunalpolitiker, der irgendwas mit Ausländern erzählen soll.“ Siebels sah sich die Karte nicht einmal an. „Das ist schließlich die Aufgabe von Kommunalpolitikern.“ „Aber entschuldigen Sie mal“, begehrte ich auf, doch er winkte nur müde ab. „Ich meine das in Bezug auf Talkshows. Oder haben Sie dort von denen jemals etwas in anderem Zusammenhang gehört?“ Ich schwieg betroffen.
„Unser Problem ist jetzt zunächst dieser junge Mann“, erklärte Frau Doktor Hüserich. „Er hatte in der letzten Woche einen schweren Autounfall, aus dem er wie durch ein Wunder gänzlich unverletzt herauskam, und jetzt hat er sich geschworen, nur noch im Sinne des christlichen Menschenbildes seiner Partei zu handeln.“ Siebels sah sich um; es gab keinen Kaffeeautomaten mehr, also musste er noch ein Hustenbonbon aus der Jackentasche holen. „Er sollte bei uns erklären, dass die Kriminalität in seinem Landkreis ansteigen würde, und jetzt ist er nicht mehr dazu bereit.“ „Sie haben die Statistik natürlich parat“, quetschte der legendäre TV-Macher an seiner Süßigkeit vorbei. „Es gab diesen spektakulären Fall von Steuerbetrug im letzten Jahr, oder täusche ich mich da?“ Bevor die Redakteurin etwas antworten konnte, fuhr Siebels ihr über den Mund. „Wie häufig sind denn Geflüchtete aus dem Sudan im Aufsichtsrat eines Finanzdienstleisters?“
Einzig der nächste Zettel versprach ein wenig Hoffnung. „Der Mörder kommt frei“, tönte die aufgeklebte Schlagzeile. „Ich erinnere mich.“ Siebels wusste, worauf ich hinauswollte. „Nach heutigen Maßstäben ein Soziopath, der ein paar Jugendliche provoziert und beleidigt hat. Leider hat er einen von ihnen den Mann ums Leben gebracht, nach dem Urteil des Jugendrichters ein Totschlag. Die Strafe ist abgesessen. Nur dieser Knalldepp hat es noch nicht begriffen.“ „Ich kann doch nicht den Chefredakteur eines…“ „Lassen Sie das meine Sorge sein“, sagte Siebels. „Sie laden ihn einfach ein und überlassen uns dafür die redaktionelle Verarbeitung.“
Der Aufzug war besetzt. Es gab hier keinen Automatenkaffee mehr. Dennoch war Siebels erstaunlich entspannt, als wir die Kabine bestiegen und wieder ins Foyer hinabfuhren. „Sie hat nicht ganz begriffen, dass ihr redaktionelles Modell mit der Wirklichkeit bricht und dass nur eins davon für den Zuschauer wirklich relevant ist. Nämlich die Wirklichkeit.“ Er zog ein neues Hustenbonbon hervor. „Was hatten Sie denn da noch so eilig in der Redaktion zu tun?“ Siebels steckte sich das kleine knisternde Stück Einwickelpapier zurück in die Tasche. „Ich habe etwas an der Anmoderation gearbeitet. Diese Sprechpuppen im Fernsehen sind ja ohne ihre Pappkärtchen gar nichts.“ Es klingelte, die Tür ging auf. Applaus brandete auf vor dem Titelgedudel. In der Eingangshalle liefen schon die Monitore und zeigten live das Abendprogramm. „Guten Abend“, knödelte der Moderator. „Das werden wir ja sehen“, murmelte Siebels. Die Titelmelodie verebbte. „Wozu noch Wahrheit, wenn wir sowieso alles besser wissen? Können wir den Arschlöchern, die für uns im Publikum sitzen, die Wirklichkeit zumuten? Herzlich willkommen bei Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!“ Siebels steckte die Hände in die Hosentaschen. „Und genau jetzt wissen Sie wohl, warum es Talkshow heißt.“
Satzspiegel