Vibrationsalarm

13 08 2019

Man sah ihm die dunklen Augenringe an; dennoch verbarg Siebels sie hinter einer dunklen Brille. „Die letzten Tage waren nicht einfach“, stöhnte er. „Ich hoffe, dass wir bald diese dämliche Sommerpause hinter uns gebracht haben.“ Und er stürzte schon den zweiten Becher mit billigem Automatenkaffee hinunter.

Das Studio war unbeheizt, und die Morgenfrühe unterstützte die Zugluft. Wer nicht gerade im Licht der bläulichen Scheinwerfer saß und demonstrativ entspannt in die Kamera blickte, bewegte sich mit zusammengeschobenen Schulter und steifbeinig durch die Kulisse. „Sie haben den Sessel doch noch rechtzeitig fertiggekriegt“, brummte Siebels, und aus seinen Worten hörte ich eine tiefe Befriedigung. „Das Möbel sieht ein bisschen plump aus“, befand ich. „Warten Sie ab“, murmelte er. „Warten Sie ab.“ Frieder Marx, seit mehreren Jahren schon nicht mehr auf der Mattscheibe zu sehen, führte ein ganz normales Gespräch mit einem der zahlreichen Experten, die für alles und nichts unter jedem beliebigen Stein hervorkriechen, wenn eine Kamera oder wenigstens ein Mikrofon in der Nähe sind. Es sirrte von irgendwo her, ein ganz leiser und sehr hoher Ton, der recht unangenehm in den Ohren nachklang. Siebels nickte.

„Wir müssen die Steuersenkungen unbedingt noch in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen“, verkündete der Nachwuchspolitiker im billigen schwarzen Polyesteranzug. „Nur wenn die Spitzenverdiener über ein stark ansteigendes Nettohaushaltseinkommen verfügen, kann die…“ Weiter kam er nicht. Das immer noch leise, aber immer deutlicher vernehmbare Summen schwoll unvermittelt an, und dann war auch zu sehen, woher es kam. Der klobige Sessel war nicht einfach nur ein Sitzmöbel, er vibrierte. Und er vibrierte mit solcher Stärke, dass der jugendliche Schwätzer auf dem Sitz durchgeschüttelt wurde und kaum noch verständliche Laute von sich geben konnte. „Wenn ich Sie richtig verstehe“, begann Marx seine nächste Frage, aber er musste sie gar nicht mehr stellen. Niemand konnte noch etwas verstehen.

„Eine Art Vibrationsalarm“, erklärte Siebels. „Wir haben uns diese Möglichkeit überlegt, um den üblichen TV-Formaten wieder ihre journalistische Schärfe zu verschaffen, damit nicht so viel Unfug vor der Kamera geredet wird.“ Er knüllte seinen Pappbecher zusammen und warf ihn in einen der vielen Papierkörbe hinter der Kulisse. „Aber wir haben doch in den meisten Sendungen inzwischen einen Faktencheck“, wandte ich ein. Siebels zog nur leicht die Augenbrauen in die Höhe. „Das stimmt“, antwortete er. „Aber erstens kommt dieser Teil erst nach dem eigentlichen Gelaber in der Glotze, was auch dazu führt, dass er von kaum jemandem auch nur zur Kenntnis genommen wird, und zweitens sind es nicht nur die offensichtlichen Lügen und Verdrehungen, sondern auch Framing oder Hetze durch Kampfbegriffe. Das wird durch einen reinen Faktencheck nicht einmal erfasst.“ Ein Praktikant hielt uns ein Tablett mit Kaffeebechern hin. Wir griffen zu. „So kommt es auch zustande, dass ein Faschist mit aller Unterwürfigkeit in einem groß angekündigten Interview seinen rassistischen Dreck vom Stapel lassen darf, ohne dass ein Redakteur einschreitet und ihm den Saft abdreht.“

Inzwischen hatte sich die Diskussion fortbewegt und war bei einer Erhöhung der Mehrwertsteuer angekommen. Der Schnösel verteidigte vehement die ermäßigten Steuersätze für Luxusgüter. Man verstand es nur nicht. „Offenbar ist er der Ansicht, wenn man Rennpferde nur steuerlich begünstigt, hat bald jeder Geringverdiener eines im Vorgarten stehen.“ Siebels sah gelangweilt, wie der Sessel den Talkgast durchrüttelte. „Und das hilft?“ „Das werden wir sehen“, brummelte er. „Zur Not muss man mit Druckluftfanfaren arbeiten, um den größten Müll zu übertönen.“ Ich sah das skeptisch. „Das würde aber das Studiopublikum doch ziemlich erschrecken, meinen Sie nicht?“ Der Produzent nahm einen Schluck von der kaffeeähnlichen Brühflüssigkeit. „Wer sagt denn, dass das Publikum die Druckluft abkriegen soll?“

Die Vibrationsmechanik hatte ihren Dienst getan, der Gast war bis beinahe zur Erschöpfung durchgerüttelt worden wie eine Dose Farbe im Baumarkt. Er konnte kaum noch stehen und musste von einer Assistentin in die Garderobe geführt werden. „Vermutlich wird er jetzt in seiner Lieblingszeitung mit den großen Buchstaben das Lied von der Einschränkung der Meinungsfreiheit jodeln“, sagte Siebels ungerührt. „Für die Fraktion ist ja jegliche Kritik ein Grundrechtsbruch, und dass sich keiner für ihr dusseliges Gerede interessiert, wollen sie vermutlich demnächst unter Strafe stellen.“ „Meinen Sie nicht, dass Medien hier ganz klar ihre Kompetenzen überschreiten?“ Siebels stellte den Becher auf den kleinen Tisch neben dem Mischpult. „Haben Medien die Aufgabe, als reine Verstärken den Schwachsinn und die Lügen von Soziopathen zu verbreiten, oder sollen sie das Ergebnis einer Differenzierung darstellen?“ „Das ist eine Frage der Darstellung“, wandte ich ein. Aber er ließ es nicht gelten. „Dann berücksichtigen Sie aber auch, dass Zuschauer intellektuell beschränkt sind.“ Und schon hatte der nächste Gast Platz genommen, ein älterer Herr mit aufgezwirbelten Schnauzbart. „Der deutsche Widerstand ist nötig“, schnarrte er. „Die Flüchtlingskanzlerin hat widerrechtlich die Grenzen geöffnet, um die…“ Wir zuckten unter dem lauten Knall zusammen. Der Alte verkrampfte sich röchelnd in die Armlehnen. „Er wird es sicher überleben“, stellte Siebels fest. „Sehr gut, das gefällt mir. Sie haben meine Idee wirklich zu Ende gedacht, ich sehe eine deutliche Differenzierung, was die Aussagen angeht und ihre Tragweite.“ Er blickte auf die Liste, die auf dem Tischchen lag, und dann über die Schulter. „Nehmen Sie auch noch Kaffee? Gleich geht’s um Klimawandel.“


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