05:44 – Die ersten schwachen Sonnenstrahlen erhellen die Grünflächen der Straßenzüge in der Reihenhaussiedlung Oleanderbogen. Der junge Tag verspricht trocken zu bleiben, so lässt sich Rentner Heinrich J. (73) mit Klemmlupe und Nagelschere auf dem Rasen nieder, um die eine oder andere Kante um Rosenbeet und Vogeltränke wieder zu begradigen. Während ihm die Sehhilfe aus dem Auge rutscht, sticht er sich die Schere in den Daumen. Ein kurzes, aber heftiges Zischen entfährt dem früheren Damenfrisör.
05:55 – Mühsam hat sich Ewald S. (72) aus dem Bett gearbeitet. Schlaftrunken öffnet der ehemalige Hausmeister die Rollläden einen Spalt weit und stellt entsetzt fest, dass die Nachbarn ohne ihn mit der notwendigen Gartenpflege begonnen haben. Um die schlummernde Gattin nicht zu wecken, schleicht er nicht in den Keller, sondern entnimmt der Küchenschublade geräuschlos die für Kräuter gedachte Schere mit fünf Schneiden. Es geht los.
06:12 – Im Schein einer 20-Watt-Lampe pflegt Feldwebel a.D. Gustav K. (83) seinen Schnauzbart, als er durch das Küchenfenster auf der anderen Straßenseite erblickt, wie sich S. mit deutlich sichtbaren Rückenproblemen über die Grasnarbe schleppt. Der Veteran humpelt zum Besenschrank, wo er einen akkubetriebenen Trimmer hervorzieht und mit kaiserlich aufgezwirbelten Bartspitzen den Vorgarten betritt. Ein kleiner Knopfdruck auf das Stielgerät, in dem ein Nylonfaden kreiselt, und die Luft erfüllt ein unmelödiöses Sirren.
06:26 – Nachdem der Schäferhundrüde Tasso vom Waldrand seiner Erregung durch das hochfrequente Störgeräusch so anhaltend wie deutlich Ausdruck verliehen hat, öffnet Frührentner Rudolf F. (61) das Wohnzimmerfenster. Der vierbeinige Freund ist nicht amüsiert. Gleichzeitig erkennt F., dass sich der Rest der Nachbarschaft gegen ihn verschworen haben muss. Er legt sich mit einer Rosenschere bewaffnet hinter der Hecke in Lauerstellung.
06:51 – Monteur Ulf Z. (44) kehrt zurück von der Frühschicht in der Fertigungsabteilung des lokalen Zulieferers für konventionelle Angriffswaffen. Während der Facharbeiter seinen Wagen rückwärts in der Garagenauffahrt parkt, nimmt er Geräusche um ihn wahr, die ihm den Angstschweiß auf die Stirn treiben: der Vorgarten ist nicht gerichtet und der Besuch der Schwiegereltern steht bevor. Hastig setzt er wieder aus der Auffahrt auf die Straße. Jetzt muss professionelles Equipment her.
07:14 – Immobilienmakler Claus O. (54) betritt mit dem von seinem Großvater geerbten Gerät den Vorplatz. Das Modell Gulliver Sport verfügt über einen Satz gerader Scherklingen, die konzentrisch um die Antriebsachse montiert sind. Eine gründliche Schärfung vorausgesetzt wäre das Nachmähen von knapp drei Quadratmetern Rasen damit eine Kleinigkeit. Leider handelt es sich weder um eine kleine Wuchskorrektur noch hat O. den Apparat innerhalb der letzten Jahre besonders gut gewartet.
07:33 – Das Quietschen des mechanischen Mähers treibt Tasso in den Wahnsinn. Nachbar Peter D. (34) dreht das Radio noch ein bisschen lauter, um das Tier nicht hören zu müssen. Da D. bereits kurz nach dem Einzug seinen Vorplatz mit zehn Zentimeter Kies ausgelegt und das Geröll gründlich zementiert hat, sieht er nun keine Notwendigkeit, das Haus zu verlassen.
08:08 – Auf den hinteren Grundstücken Richtung Fliedergasse sind die ersten Schwingungen angelangt. Zahnarzt Jens G. (47) entnimmt dem Geräteschuppen sein elektrisches Mehrzweckgerät, das an einem gestielten Handgriff sowohl trimmt als auch schneidet. Der Grobaufsatz verursacht eine unerwartete Lärmentfaltung, was G. aber nicht sehr irritiert. So rasiert er fröhlich die Gänseblümchenmischung hinter dem Liguster.
08:16 – Mit seiner lautstarken Klage hat Tasso offensichtlich die Aktivierungsfrequenz von Robi getroffen. Der Mähroboter fährt schnurrend aus seiner wetterfesten Ladestation im Garten der Anlageberaterin Jenny E. (38) und bahnt sich seinen Weg über den Spielrasen. Da er diese Fläche jedoch tags zuvor instandgesetzt hat, schaut sich der Schnitthelfer nach anderen Einsatzgebieten um.
08:20 – Die Garage des rotbraun geklinkerten Bungalows öffnet ihr Tor, heraus schreitet Tim W. (32) samt einem verhältnismäßig neuen Modell von Motormäher. Muskulös und im Vollbesitz seiner Kräfte zieht der Freizeitbodybuilder an dem Draht, der den Anlasser starten soll. Die Frauen auf der gegenüberliegenden Straßenseite fühlen sich ad hoc kreislaufmäßig herausgefordert. Gardinen rascheln, hier und da greift eine Hand in die Kakteen auf der Fensterbank. Ein metallisches, gut artikuliertes Geräusch zeigt an, dass der Zug soeben gerissen ist. Der nur mühsam unterdrückte Schmerzensschrei von W., der von der unübersehbaren Schnittwunde an seinem Handgelenk herrührt, hat denselben Ursprung.
08:29 – O. und seine stumpfen Messer haben den Graswuchs nicht nennenswert angetastet. Noch immer schiebt der schwitzende Glatzkopf das Gerät über das Grün, das zwar deutliche Ermüdung zeigt, aber weiterhin fest verwurzelt in der Erde steht. In der Zwischenzeit hat Tasso im Wohnzimmer den Teppich, zwei Fernsehsessel sowie eine Fußbank durch Flüssigkeitszufuhr individualisiert.
08:38 – Der Baumarkt ließ Z. keine andere Wahl als das Aufsitzmodell Goliath 3000. Die hastig improvisierte Anhängerkupplung, die zum Transport des Gartengeräts an Ort und Stelle ans Fahrgestell geschweißt wurde, ist noch nicht ganz ausgekühlt. Entsprechend schwierig gestaltet sich der Bremsvorgang, bei dem das Garagentor, ein Teil der Garage, ein Teil des Hauses sowie viele der bis dahin noch verwendungsfähigen Komponenten des Kraftfahrzeugs nachhaltig zerstört werden. Glück im Unglück: dem Goliath 3000 ist nichts passiert.
08:55 – F. hat inzwischen das Grundstück verlassen und robbt sich hinter den feindlichen Linien entlang in Richtung Norden. Die Rosenschere hat er dabei stets im Anschlag, um aus dem Nichts auftauchende Reptiloiden in die Flucht zu schlagen. Kurz hinter der Ecke Enzianweg kauert er sich mit einem Krampf im Bein auf den Gehweg.
09:05 – Noch immer ist G. mit dem E-Trimmer zugange, als er plötzlich unachtsamerweise in die Nähe der Hauswand gerät. Der nicht komplett aufgerollte Gartenschlauch, den am Vorabend die Gattin lediglich mit dem Griffventil gesperrt hat, erweist sich gegenüber den Fangzähnen des Grasschneiders als nachgiebig. In einem unsauber angesetzten Schnitt zerfetzt G. den Schlauch, aus dem druckvoll das Wasser spritzt. Widerstand ist in diesem Fall zwecklos: kurz, aber spannungsfrei fließt der Strom durch den Körper des Dentisten, bevor die Hauptsicherung mit einem sonoren Knall aufgibt. Die Nachbarin sieht den Arzt zuckend auf der Wiese liegen und informiert geistesgegenwärtig einen Rettungswagen.
09:08 – D. hat die Musik nun auf volle Lautstärke gestellt. Die Doppelverglasung seines Eigenheims lässt keinen Störschall mehr hinein, dafür vibrieren die angrenzenden Grundstücke ab einer Bodentiefe von fünf Metern im Rhythmus volkstümlicher Schlager.
09:10 – Marvin T. (16) hat den Lärm satt. Der Gymnasiast muss erst zur dritten Stunde in die Schule und stört sich an den vibrierenden Fenstern seines Jugendzimmers. Spontan schaltet er die Anlage an die legt das neue Live-Album der Apocalyptic Armageddon Assassinatörs auf.
09:11 – Tasso zerlegt ein Sofakissen in Kleinteile.
09:25 – Z. ist es in der Zwischenzeit gelungen, den Aufsitzmäher vom Anhänger zu wuchten, ohne sich oder den Mäher mehr als nötig zu beschädigen. Mit Bedauern stellt er fest, dass sein Auto trotz Abgasnorm Euro 6 immer noch einen Dieselmotor besitzt. Die Kraftstofffrage schwebt im Raum.
09:28 – Der Rettungswagen fährt mit vollem Signaleinsatz und quietschenden Reifen in die Haarnadelkurve Ginsterweg Ecke Lilienstraße. Kurz vor der Einmündung Schneeglöckchenstieg verreißt Fahrer Ingolf A. (27) das Steuer, als er frontal in eine Schallwand brettert, die vor dem Obergeschoss des Wohnhauses von Familie T. auftürmt. Der Wagen kommt seitlich an der Gartenmauer zum Stehen. A. wird umgehend vom Rettungsassistenten Oliver H. (28) reanimiert. Nachbarn ordern sofort einen zweiten Wagen für G., dessen Zustand sich offenkundig nicht verändert.
09:38 – Robi ist gemächlich unterwegs in Richtung Fliedergasse. Kurz vor der Ecke Enzianweg touchiert er hinterrücks den dort an der Hecke sitzenden F. Dieser springt schreiend auf, wobei er sich einerseits an seiner Rosenschere verletzt, andererseits durch den Schrecken nicht unbeträchtlich einnässt. Unbehelligt rollt der Roboter weiter.
09:45 – Mit Hilfe eines Gummischlauchs hat Z. aus dem immer noch herrenlos im Vorgarten von W. stehenden Mäher den Kraftstoff entzogen. Er spürt eine leichte Reizung der Atemwege. Die als Auffangbehältnis dienende Gießkanne, aus der der Waffenschmied das Benzin in den Goliath 3000 träufelt, stellt dieser achtlos auf den Gehsteig vor seinem Haus.
09:51 – Jacqueline C. (29) geht aufreizend langsam in Richtung Mülltonne. Sie hatte auf den feschen Facharbeiter schon seit langem ein Auge geworfen, deshalb trägt sie ihr farbenfrohstes Make-up. Leider verhaken sich beim Leeren des Restmüllbeutels die künstlichen Wimpern ihres linken Auges, so dass sie den Halt ihrer Filterzigarette nicht mehr unter Kontrolle behält.
09:52 – Eine ungefähr zwei Meter hohe Verpuffung färbt C. zumindest von vorne in ein einheitliches Blauschwarz. Z. wird nach hinten geschleudert, wobei er vom Sitz des Rollmähgeräts fliegt. Das gartenbautechnische Fahrzeug setzt sich tuckernd in Bewegung.
09:53 – Synchron zu der Gasexplosion war der zweite Ambulanzwagen aus der Gladiolengasse eingebogen. Fahrerin Signe Ö. (28) tritt ruckartig auf die Bremse, so dass das Auto heckseitig ausbricht. Reflexartig springt Postbote Hajo I. (58) über den Jägerzaun und legt eine Punktlandung auf dem noch nicht ganz abgebundenen Zement von Kreisoberverwaltungsrat Martin B.s (55) Auffahrt hin.
10:07 – Kristian U. (48) nutzt das gute Wetter, um nicht nur horizontales Grün in Ordnung zu bringen. Er nennt eine elektrische Heckenschere sein eigen und setzt das Gerät nun zunächst für den deutlich zu stark geratenen Grasbewuchs ein. Die akustische Emission ist wie zu erwarten stark.
10:10 – Z. rennt seinem Mähfahrzeug hinterher. Zunächst geht er davon aus, dass das Objekt ohne lenkende Person sich nur geradeaus bewegt, ist aber beim Einbiegen in den Moosröschenring irritiert, dass ihm sein Goliath 3000 mit nicht ganz geringer Geschwindigkeit entgegenkommt. Schon will er auf den Mäher steigen, als ihm von hinten Robi die Füße wegreißt. Z. kippt auf den Sitz, verliert aber durch den Aufschlag auf dem Steuerrad das Bewusstsein. Mit einer verkehrsuntüchtigen Person auf dem Sattel, die mit vollem Körpergewicht auf dem Gaspedal steht, nimmt das Mähzeug seinen Weg in Richtung Lilienstraße Ecke Ginsterweg.
10:22 – Nachbarn haben G. inzwischen so weit reanimiert, dass er außer Lebensgefahr zu sein scheint. Sie wundern sich nur, dass es in dieser stadtnahen Umgebung so lange dauert, einen Rettungstransport zu bekommen. Zur raschen Wiederherstellung des Telefonnetzes hat Elektriker Otto R. (56) den Stromkreis im Hause G. wieder in einen ordnungsgemäßen Zustand versetzt.
10:23 – F. hockt mit durchnässter Hose nur wenige Meter entfernt unter der Ligusterhecke und tastet sich mit der bewaffneten Hand vor in feindliches Territorium. Beim ersten Berühren eines festen Gegenstandes schnappen die Finger seiner Rechten sofort zu: mit einem Schnitt durchtrennt F. die Zuleitung des im Prinzip noch funktionstüchtigen Elektrotrimmers. Während R. nach einem kurzen Flackern wiederum das Verlöschen von Oberlicht und Ventilatoren bemerkt, steigen Rauchpilze aus F.s Ohren. In Embryonalstellung rollt er unter das Grundstücksbegrenzungsgrün.
10:29 – Auch bei O. liegen die Nerven blank. Erst jetzt stellt er fest, dass sein mechanischer Mäher die erhoffte Leistung aus technischen Gründen gar nicht erbringen kann. In einem Wutanfall fährt er sich auch noch über die fast neuen Golfschuhe und schleudert den Gulliver Sport aus der Drehung mit durchaus her Eleganz in die Fensterfont seines Wohnzimmers. Dann wirft er sich wie im Rausch in seinen Sportwagen. Mit stark überhöhter Geschwindigkeit nimmt O. Kurs auf die angrenzende Gemarkung Sperbertal.
10:42 – Noch ist nicht alles verloren. Der dritte RTW biegt mit Lichtorgel und Folgetonhorn auf Stufe MAX aus dem Ginsterweg. Winkende Anwohner signalisieren Fahrer Guntram Sch. (32) schon von Weitem, wo sich der Einsatzort befindet. Leider hat Z. in seinem Zustand weder einen klaren Überblick über die örtliche Verkehrsführung noch über die Handhabung von Sonderrechten bei Einsatzfahrzeugen. Sch. ist nicht mehr in der Lage, dem Goliath 3000 auszuweichen, der eine Abkürzung über zwei unbebaute Grundstücke genommen und nun ungebremst auf ihn zurollt. Das Gartenkleingerät wird bei der Kollision erheblich in Mitleidenschaft gezogen.
10:45 – Röhrend donnert eine gewaltige Maschine den Oleanderbogen entlang. In einer paranoiden Regung hat O. beschlossen, seinen Gulliver Sport durch einen am Feldweg parkenden Mähdrescher zu ersetzen. Nach einigen Kleinwagen sowie einem Kabelverzweiger mangelt O. auch gut fünfzig Meter Hecken, Zäune und Pfosten nieder, bis er auf die Einmündung Geranienallee zurollt. Mit einem unelastischen Stoß touchiert die landwirtschaftliche Großmaschine die Hausfront von D. Die fußläufig herbeigeeilten Notfallsanitäter ziehen den traumatisierten Hausherrn aus den Trümmern seines einsturzgefährdeten Bungalows. D. hört nichts mehr. Auf die beiden Retter gestützt taumelt er ins Freie und lallt „Resi, i hol Di mit mei’m Traktor ab“. Aus sicherer Entfernung kläfft ein Hund. So endet der Morgen in einer Reihenhaussiedlung, deren Bewohner einfach nur ihren Rasen mähen wollten.
Satzspiegel