Alles auf Zucker

13 11 2019

„Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiund… heiliger Bimbam, jetzt kann ich mit dem ganzen Mist noch mal von vorne anfangen! Wie oft habe ich der Klinikleitung gesagt, bei Lungenentzündung nur bis zu zehn mal C20, sonst muss ich meine Brille aufsetzen!

Sie müssen gar nicht so gucken, wir sind eine ordentliche Klinik, mal abgesehen von meinem Schreibtisch, aber sonst ja. Die Landesregierung hat uns die Zulassung gegeben, und jetzt machen wir hier einen Langzeitversuch. Ursprünglich sollten die homöopathischen Mittel nur als Alternative zu Antibiotika getestet werden, jetzt haben wir uns entschlossen, grundsätzlich auf schulmedizinische Medikamente zu verzichten. Das ist nicht ganz so einfach, wie es sich kompliziert anhört.

Zunächst finden Sie mal die richtigen Ärzte dafür. Also nicht, weil es nicht genügend Ärzte geben würde, die an Homöopathie glauben. Es gibt ja auch Leute, die haben einen Schulabschluss und können sich die Schuhe zubinden und wählen dann trotzdem Nazis. Aber wenn Sie im Studium gelernt haben, dass man einem Patienten in der Klinik die richtigen Tabletten gibt mit Wirkstoffen und so weiter, und dann müssen die hier auf Globuli umsteigen, dann wird das schon schwierig. Wir sind hier nicht beim Allgemeinarzt, wo man den Leuten gegen 11.000 Symptome Schwefel geben kann und dann einfach nur warten muss, ob sie es halbwegs überleben oder gleich zum richtigen Mediziner gehen. Wenn hier ein Patient mit Herzinfarkt eingeliefert wird, müssen Sie erst mal überlegen, ob Sie den adäquat versorgen können. Vor allem bei akuten Schmerzen wird das schon mal komplex. Da kommt nicht nur der Patient an seine Grenzen. Und wenn Sie den hinterher noch operieren sollen, dann haben Sie ein Problem. Nicht, was Sie jetzt denken, OP-Säle haben wir hier, genug Personal vorhanden, alles gut. Aber wie kriegen Sie so eine Narkose mit Zuckerkügelchen hin?

Noch eine Schwierigkeit haben wir bei der Anamnese. Um das richtige Mittel und die korrekte Dosierung zu finden, müssen Sie ein paar Fragen an den Patienten stellen, also Senkfüße, Nachtschweiß, Ernährungsgewohnheiten. Und dann kriegen Sie einen Notfall rein, der sich beide Beine an der Kettensäge abgetrennt hat. Senkfüße können Sie da schon mal ausschließen, aber dann wird es richtig kompliziert. Sie müssen den ja irgendwie richtig therapieren. Dass er garantiert nicht zwischendurch zum richtigen Mediziner läuft und sich eine zweite Meinung einholt, ist auch nur ein schwacher Trost. Irgendwas müssen Sie da machen, also geben Sie nach Möglichkeit eins von diesen Allheilmitteln. Schwefel, Sepia, Kochsalz. Brechnuss ist auch sehr beliebt, Faustregel: wer kotzt, ist noch nicht tot. Also alles auf Zucker.

Was die Theorie angeht, wir sind da heute schon viel weiter als noch vor ein paar Jahrhunderten. Die haben damals noch geglaubt, dass man sich eine Infektion holt, wenn man an sich herumspielt. Das ist natürlich Unsinn. Wir wissen heute aus der anthroposophischen Literatur, dass man nach einer Impfung die Lebensenergie schädigt und dann ein paar Inkarnationen später hinkt. Oder zum Lispeln neigt. Oder Schwindsucht bekommt.

Das nächste Problem sind die Beschriftungen. Wir hatten neulich den Fall, dass wir dem Patienten mit chronischem Magengeschwür die Globuli von seinem Zimmernachbarn gegeben haben. Der war wegen eingewachsener Fußnägel hier. Gut, gewirkt hat beides nicht, also kann es ja so schlimm nicht gewesen sein, und die Fußnägel sind ihm auch nicht spontan eingewachsen. Aber was soll’s, wir hatten die Unterschrift, und das war’s.

Wenn es schief läuft, können wir das mit der richtigen Dosierung von Brechnuss auch wieder rückgängig machen. Dabei wird eine fehlerhafte Gabe von Schwefel oder Kochsalz einfach aus dem Körper entfernt. Da war zwar vorher auch nichts drin, aber sicher ist sicher. Wenn so ein Patient vom richtigen Arzt wiederkommt und aus Versehen die richtigen schulmedizinischen Medikamente in der richtigen Dosierung eingenommen hat, dann wird der hier kurz geblitzdingst, und dann machen wir da weiter, wo wir vorher aufgehört haben. Falls wir den wiederkriegen.

Das macht ja auch unsere Studie so schwierig, wir können nicht genug Fälle zu Ende behandeln. Die meisten gehen uns zwischendurch verloren, ein paar haben irgendwann eine Fehldosierung oder wir kriegen die Globuli durcheinander und dann wissen wir am Ende nicht, ob die Ergebnisse stimmen. Dass die Patienten dabei zufällig überleben, das ist ja ganz schön, aber das wussten wir vorher halt auch schon.

Sagen Sie es nicht weiter, aber wir arbeiten hier heimlich an neuen Wirkstoffen. Es werden ja immer mal wieder Krankheiten entdeckt, die sich nicht mit den alten Mitteln kurieren lassen, deshalb müssen wir uns neue Wirkstoffe überlegen und probieren die dann an unseren Patienten aus. Das darf aber natürlich niemand wissen, weil die Medikamente noch nicht zugelassen sind. Offiziell sind in den Globuli Quecksilber oder Petroleum, also nur ganz harmlose Sachen, aber manchmal fällt aus Versehen schon mal eine Kopfschmerztablette in den Tiegel. Also nur, wenn es passen könnte. Zum Beispiel bei Patienten mit Kopfschmerztablettenvergiftung. Ein paar Antibiotika haben wir auch im Kühlschrank, falls es mal zu Zwischenfällen kommen sollte. Aber das haben Sie nicht von mir!

Oh, ein Notfall. Entschuldigen Sie mich bitte, ich muss den Würfelzucker suchen.“