Gernulf Olzheimer kommentiert (CDXCV): Verteidigung ohne Angriff

3 01 2020
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Sie haben es wieder getan. Sie werden es wieder tun. Seit Rrt beobachtet hatte, dass die Männer vom anderen Stamm, der gerade über die Savanne zog, viel schneller auf die Buntfruchtbäume klettern und sie in wenigen Stunden abernten konnten, grübelte er verbittert über einen Grund, diese Invasoren zu vernichten. In seiner Horde hatte sich allmählich eine Allergie gegen das Obst herausgebildet, von der kaum jemand verschont wurde. Nur wenige vertrugen das süßliche Fruchtfleisch, und auch die nur in geringer Menge. Außerdem wuchsen an der westlichen Felswand noch genug Buntfruchtbäume, es gab also keinen wirtschaftlichen Druck. Rrt rang sich wirre Erklärungen ab, spitzfindige Kasperaden ohne Sinn und Verstand, nichts, was einer genauen Prüfung oder Nachfrage würde standhalten können, doch das befriedigte ihn nicht. Und so trampelten noch am nämlichen Tag die brüllenden Hominiden das Gras nieder und hieben mit Steinen auf die wehrlosen Buschmenschen ein. Später würde man sich erzählen, es sei auf Grund unterschiedlicher Sprachen zu schweren Missverständnissen bei der Verhandlung gekommen, aber das war natürlich nur vorgeschoben. Keiner hatte verhandelt. Sie mussten eine Großmutter beleidigt haben. Das wurde von der Rotte allgemein akzeptiert.

Zwar wurde auch hier nicht geklärt, um wessen Großmutter es sich gehandelt hatte – keiner besaß einen Überblick über Verwandtschaftsverhältnisse in der unbekannten Gruppe – und man einigte sich schließlich darauf, dass es eine der zahlreichen Großmütter gewesen sein müsse, die aber für die anderen Großmütter, von denen man auch weder Namen noch Anzahl kannte, stellvertretend stehen sollten. Das war insofern bemerkenswert, als dass lange vor der offiziellen Erfindung der Moral schon ein hoch abstraktes moralisches Empfinden als Grund für einen Präventivschlag durchging. Wer eine Großmutter beleidigte, so ging die Überlegung, beleidigte damit sämtliche Großmütter über den sozialen Zusammenhang der eigenen Gesellschaft hinaus, da das moralische Empfinden durch eine Absolutsetzung das primitive Welt- und Ichbild der Sippenkasper sowie deren Handlungen rechtfertigt, jetzt und in alle Ewigkeit, über Gut und Böse. So wird jeder, der nicht angegriffen wird, trotzdem und a priori angegriffen und hat damit jedes Recht auf Verteidigung.

Nun braucht niemand sich einzubilden, es gehe den Dumpfdüsen tatsächlich um Anstand; zwar ist der Ruf der eigenen Familien-Bande vordergründig für sie von Belang, doch eben nur dort, wo er als Abzeichen von Macht herhalten kann, die eigene Aggression zu rechtfertigen, wenn sie wie üblich jeden Anstrich von Sittlichkeit vermissen lässt. Die Primaten haben ein ausgeprägtes Drohverhalten, das von außen betrachtet meist lächerlich wirkt. Es ist im Stammhirn verankert und wird ausgelöst, wo die Impulskontrolle durch einen zu schwachen Intellekt versagt. Auf eine einfache Kränkung reagiert der Stärkere durch demonstrative Ruhe; wo er sich aber nicht als Stärkere zeigen darf, sondern sich angegriffen fühlen muss, bedarf es stets einer Sanktionierung des nicht hinnehmbaren Verhaltens, vor allem bei einer narzisstischen Kränkung, die aus dem Rudelverhalten heraus zwangsläufig die eigene Position der ambivalenten Stärke in der Unterlegenheit unterstreichen muss. Vollkommen nebensächliche, im weiteren Verlauf gerne auch frei erfundene Grenzverletzungen werden zum casus belli hochgeziegelt, da in dieser Wirklichkeit doch nur sein darf, was nicht ist. Oder umgekehrt.

Es liegt an der brüchigen Identität, die den Tierversuchsresten mangels Individualbewusstsein nicht zur Verfügung steht. Wo bei anderen die Autonomie als denkendes Wesen sitzt, haben sich die Spielfäden einer Marionette verhakt. Für sie ist es praktischer, sich einen absurden Feind aus ad hoc zusammengestammelten Versatzstücken zu kreieren, als sich ihr eigenes Scheitern an einer idiotischen Ideologie zu gestehen. Der Blödföhn auf Sündenbocksuche ist zum Erfolg verdammt, und er findet ihn auch; seine Existenz ist Jammern über den verlorenen Krieg, und er sorgt dafür, dass das so schnell nicht aufhört.

So baut sich der humanevolutionäre Ausschuss munter einen Popanz nach dem anderen auf, der seine Niederlagen an sich selbst verantworten soll, statt die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen, die auch ohne sie auskommt. Ob Sippe oder Volk, mittelfristig pfeift die Population auf den marschierenden Brüllmüll, der durch mangelnde Anpassung an die Koexistenz innerhalb des Habitats unangenehm auffällt und sich letztlich ohne Not aus der ökologischen Nische herauskickt. Die anderen werden ihn nicht vermissen. Solange der Aggressor immer einen findet, der sich mit besseren Mitteln verteidigt, bleibt es ein blutiges Nullsummenspiel, an dem nur die jeweilige Gesellschaft zugrunde geht. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.