
Gernulf Olzheimer
Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.
Es muss passiert sein, als sich die Hominiden entschlossen haben, ihr Nomadenleben gegen die Behaglichkeit der Behausung einzutauschen. Die Objekte zur Lebenssicherung waren nicht mehr nur auf Verlastbarkeit und schnellen Einsatz optimiert, was man heute in Grenzerfahrungen wie Camping oder Angriffskrieg zu schätzen weiß, und der materielle Besitz ging in andere Dimensionen über, insbesondere in das Beharren über mehr als eine Generation. Mit dem Ansatz zur Transzendenz aber litt der Überblick über die Zweckmäßigkeit der Dinge, die nicht immer eine spirituelle Bedeutung für die Urbewohner haben mussten. Manchmal reichte es, wenn die Realitätsverweigerung mit spontanem Anlauf auf die Habe des Dummbeutels fiel, auf dass das Zeug für immer und ewig in die Ritzen des Stofflichen wucherte. So sammelte sich Kruscht auf Krempel, Kram auf Klumpatsch. Es staubte ein und verfiel, und nur die Beschränkung der dreidimensionalen Stätte setzte dem Sammeln ein Ende, bis Eulen (Esel, Trolle) aus Keramik (Seife, Kerzenwachs) den Sauerstoff verdrängten. Wie anders, wie gleich aber, als wir auf digitale Entitäten umstiegen und feststellten, dass dabei doch alles gleich geblieben war.
Nur eben nicht, dass mit der Umstellung auf das Nichtstoffliche auch die schlechthinnige Stapelei zum erliegen gekommen wäre. Mitnichten, erst ab einer ungebremsten Speicherkapazität von 1,44 MB bekam der Nutzer des digitalen Endgeräts zittrige Finger, konnte er doch hier dies und jenes, vor allem jenes, in sparsamer Form konservieren für eine Ewigkeit, die ihm jenseits der Diskette noch nicht einmal klar war, denn irgendwo dräute auch das Leben, die Lesbarkeit der Binärhieroglyphen schwand zusehends, und alles, ach, ging den Weg des Irdischen, wenngleich nicht analog. Mehr und mehr türmten sich die ungelesenen E-Mails, bevor man sich mit Weltrettung und ähnlichem Zeugs auch nur hätte befassen können. Hier und da lag die vollständige Zusammenfassung der Dokumente des hörbaren Welterbes an Popmusik vor, nicht nach Niveau geordnet, aber durchaus sorgsam archiviert und für außerirdische Zivilisationen passgenau verschlagwortet, falls die Schalala und Tralala nicht würden trennscharf auseinanderhalten können. Alles aber musste gegen die aus dem Kohlenstoffzeitalter geerbte Sucht zurücktreten, die sich mit dem manischen Bildwerk in die Wirklichkeit schwiemelte, wie es nicht zuletzt durch die beginnende Knipsomanie eine erschreckende Plage hatte werden können.
Die ersten deppentauglichen Datenträger hatten im wahrsten Sinne des Wortes die Bildfläche betreten, da schwoll die kollektive Erinnerung des Prolletariats schwunghaft an. Ritsch-ratsch. Tante Else (Hildegard, Helga) im Bademantel (Nerz, kleinen Schwarzen) vor dem Kolosseum (Kölner Dom, Heimatministerium). Es braucht dafür keine Schrankwand mehr, die Forstwirtschaft atmet auf, aber die Menge der vergesslichen Daten poppt in die Höhe – keiner schreibt mehr Urlaubspostkarten, mit malerischen Fotos versehen kommunizierend, dass auf Borneo anständige Schweineschnitzel zu haben sind, wenn man nur seine nationale Identität heraushängen lässt. Doch die Flut an Elektropost, deren Hälfte nervendes Gepopel ist, davon noch mindestens zwei Drittel unsinniger Schrott bräsiger Bratzen, wie souverän könnte man das alles beim Umstieg auf einen anderen Apparat in den Orkus kloppen. Wie ängstlich bewahrt der digitale Dummschlumpf die Dialoge in Chatanwendungen auf, um nicht dermaleinst auf dem frühen Totenbett eingestehen zu müssen, er habe am Samstag nicht die Nachricht nach billigem Discounterschwein auf der Nervkrücke gelesen und quittiert? Gut 280 Milliarden Mails pfropft diese offenporige Spezies auf dem Weg in die Röststufe durch die Leitungen, immer in der Hoffnung, dass ihren Schmodder auch ein geistig zurechnungsfähiges Wesen liest. Allein es ist in den meisten fällen ein Sammler, ein Horter, und es gibt keine Hoffnung, dass es sich ändert. Der durchschnittlicher Benutzer, privat oder beruflich, wird immerzu getragen, dass er durch Feiertage (Hirnschlag, Frührente) irgendwann einmal so viel Tagesfreizeit bekommt, dass Immobilienangebote im deutschen Osten von 1953 ihm Altersvorsorge und Weltbild begradigen, schmerz- und drogenfrei. Sie denken nicht an ein sozialkonformes Ableben, denn sie halten sich im Sinne der kapitalistischen Ethik, die noch immer über den Erdball Macht (Immobilien, Kohle aus Cum-Ex-Geschäften) und andere Sammlerobjekte verteilt. Der Ramsch ist irgendwo weggetuppert, und nur eins haben sie gemein mit dem Schalterbeamten, der seinen Urlaub am Ammersee anankastisch in die Cloud kloppt, das Vertrauen darauf, dass alles dort bleibt und doch irgendwann im Terabytenebel wegsuppt.
Von Ewigkeit zu Ewigkeit schleppt also der Normalverbraucher eine Staubwolke kosmischen Ausmaßes mit sich herum, stets von der Implosion bedroht, und wird nicht von Sortieren, Verwerfen und mählicher Vergessenheit unterstützt. Er muss den Tinnef in der Tasche mit sich durch die Fährnis führen, wie auch immer – keiner hat versprochen, dass das nomadische Dasein nicht wieder einmal hip sein würde, auch wenn der klebrige Erdenrest sich jetzt auf eine Schrilliarde Selfies beschränkt. Keiner hat rechtzeitig gerafft, dass der Firlefanz keinen Joy sparkt, und keiner, wenigstens nicht vor dem finalen Aussetzen der Atmung, wird uns mit der brachialen Entrümpelung von Dienstplänen (Feiertagen, Wunschzetteln, Todeslisten für digitale Dummdeppen) die Existenz vermasseln. Nicht umsonst gibt es Berufe, die Materie am nicht ganz passend erscheinenden Fleck eliminieren, und wo dies routiniert zu bewerkstelligen machbar scheint, wird es vermieden. Denn wir wollen nicht über die Dinge verfügen, wir wollen sie besitzen. Ein Ende ist nicht in Sicht, wenigstens nicht für uns. Eher schmeißen wir das Bett über die Balkonbrüstung als die Pappstapel, eher löschen wir uns selbst. Wir wissen nicht, wie wenig ein paar Gigabyte sind, wenn man uns nicht rechtzeitig von der Hybris des Unendlichen befreit, und selbst dann wüssten wir es nicht. Bestimmt würden wir Nachbargalaxien mit dümmlichen Hirschen vollschmoddern, gäbe es dort ausreichend Höhlen. Raum war nie die schwierige Größe in der Relativitätstheorie, die Zeit macht uns Pickel. Vielleicht werden künftige Generationen, die diese Schussfahrt ins Nichts überleben, die Bilder der Jugend überliefern. Tante Helga vor dem Kettenkarussell. Herzkasper im Freizeitpark. Mit der stumpfen Seite der Axt durch die Deppenhorde. Daran wird man sich erinnern. Das vergisst man nicht.
Satzspiegel