Schnupfen

14 01 2020

„Mindestens siebenunddreißig-neun“, flüsterte Herr Breschke. „Vielleicht sogar achtunddreißig Grad, ich hatte ja die Brille nicht auf.“ Der alte Herr krümmte sich auf dem Sofa zusammen und hustete in sein Taschentuch. Alles sah nach einer durchaus lebensbedrohlichen Krankheit aus, wir mussten uns auf alles gefasst machen. Es war Schnupfen.

Den Korb mit den Besorgungen hatte ich in die Küche verfrachtet und las die Liste vor: „Vier Hühnerbeine, Suppengemüse, Äpfel, ein Päckchen Ostfriesentee, und sie hatten Stollenkonfekt.“ „Da hat meine Frau noch eine kleine Freude“, ächzte er. „Ich kriege ja nichts mehr herunter, vielleicht noch einen Löffel Hühnersuppe, aber ob das in meinem Zustand noch etwas nützt?“ Ich stützte ihn und zog das Kissen unter seinem Nacken ein Stückchen höher. „Sie sind seit dem Wochenende ein bisschen erkältet“, konstatierte ich, „vermutlich haben Sie sich kürzlich in dieser Theaterveranstaltung etwas weggeholt. Die Leute haben ja gehustet wie die Weltmeister.“ „Kann gar nicht sein“, stöhnte der pensionierte Finanzbeamte. „Es war sogar eher zu warm in diesem Saal, da erkältet man sich doch nicht.“ Bismarck hob den Kopf; er hatte bisher ganz still, quasi im Halbschlaf, auf dem guten Sessel seines Herrn gelegen, was er eigentlich nicht durfte, und regte sich nun, um kurz nachzuschauen, ob sich an der ausweglosen Lage etwas verändert hatte.

„Erkältungen“, dozierte ich, „holt man sich ja nicht wegen der Kälte. Ihr Immunsystem wird ein bisschen angegriffen sein, da passiert das schon mal.“ „Nicht möglich“, stöhnte Breschke. „Das ist ganz und gar unmöglich. Meine Frau hat es doch auch nicht bekommen.“ Bismarck rümpfte die Nase, oder vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, und beschloss, sich wieder auf dem Sessel in der richtigen Schlafposition zusammenzudrehen. „Sie sollten viel trinken“, beschloss ich. „Diese Heizungsluft im Theatersaal hat Ihre Schleimhäute über Gebühr angegriffen, und jetzt gibt Ihnen die mangelnde Feuchtigkeit den Rest.“ „Ich lutsche ja schon diese Pastillen“, erwiderte er matt, „aber solange meine Frau nicht zu Hause ist, was kann ich da tun?“

Während ich in aller Ruhe Hühnerbeine und Suppenbund in den Kühlschrank räumte, näherte sich leise der dümmste Dackel im weiten Umkreis. Immerhin lief er mir nicht instinktiv zwischen die Beine, während ich das Teewasser aufsetzte, aber das mag daran gelegen haben, dass ich nicht sein Herrchen war. Bei Horst Breschke hatte Bismarck etwas weniger Feingefühl. Und er war auch viel öfter angeleint. So füllte ich das Teesieb mit einer angemessenen Menge, hob zwei Tassen auf das geblümte Tablett, setzte das gusseiserne Stövchen dazu und trug alles zusammen ins Wohnzimmer, wo ich es auf dem Tisch drapierte. „Mir war eben so, als hätten Sie etwas von Stollenkonfekt gesagt?“ Der Hausherr zitterte nur noch mäßig unter seiner leichten Kamelhaardecke, offensichtlich ging es ihm besser. Ich ließ mir jedoch nichts anmerken und legte das zwiebelgemusterte Teegeschirr auf. Er seufzte. „Das war wohl doch das Fieber, nicht wahr?“

Vermutlich hatte er heute noch nicht viel mehr getan, als sich auf dem Sofa mit Frühstück und der Tageszeitung, der Fernbedienung für den Fernseher sowie Taschentüchern bedienen zu lassen. Allem Anschein nach handelte es sich wirklich um einen ausgewachsenen grippalen Infekt, den man nur sehr schwer überlebt, vor allem dann nicht, wenn man ganz alleine zu Hause liegt, weil sich die Gattin beim Frisör befindet. „Ich wollte mit ihr ja nach Spanien“, jammert Herr Breschke. „Diesen Sommer wird das nichts mehr, wer weiß, wann ich diesen schrecklichen Husten los bin – ach, hoffentlich entwickelt sich daraus keine Tuberkulose? Man weiß ja nie!“ Ich zog eine Augenbraue in die Höhe. „Sie lesen nicht so viel ausländische Zeitungen“, bemerkte ich, „aus Indien ist nämlich gerade die Lungenpest wieder stark auf dem Vormarsch.“

Ich hätte das nicht sagen sollen. Jedenfalls quollen dem Kranken schier die Augen aus dem Kopf – möglicherweise hatte er sich im Vorfeld auch eingehend mit der Symptomatik beschäftigt – und er keuchte erschöpft, ob ich ihm nicht eine Tasse Tee reichen könnte. „Viel Flüssigkeit“, befand ich, „das müsste Ihren Zustand deutlich stabilisieren, und dann sollten Sie eine Kleinigkeit zu sich nehmen. Sie fallen mir ja sonst noch vom Fleisch.“ Schon griff ich nach der Teekanne, da richtete sich der Hund auf, spitzte einmal über den Tisch und erstarrte. Beim Anblick des Tellers zwischen den beiden Teetassen reckte er sich ganz nach vorn, die Vorderbeine fest auf die Sessellehne gestemmt, und mit einem Satz stand er auf dem Tisch, wo er flugs die Schnauze in den Gebäckteller hielt. „Bismarck!“ Mit einem Aufschrei warf Horst Breschke die Decke von sich, stürmte auf den Tisch zu und versuchte, den Dackel noch am Halsband zu erwischen. Doch es war zu spät. Mit einem Stück Stollenkonfekt im Maul sprang Bismarck herunter, geradewegs an uns beiden vorbei, und verschwand auf der Treppe ins Obergeschoss. Keuchend hielt sich Herr Breschke an der Stuhllehne fest. „Ich würde Sie damit als geheilt entlassen“, stellte ich fest. „Wenn Sie mögen, setze ich gleich noch die Hühnersuppe auf, Ihre Frau kommt sicher in einer Viertelstunde zurück und kann sie in aller Ruhe bis heute Abend kochen lassen.“ Er tastete nach dem Fernsehsessel. „Ach“, stöhnte er, „man kann hier ja nicht einmal in Ruhe krank sein – wie soll man so gesund werden?“