„Der Mundschutz sitzt!“ Herr Breschke zupfte sich noch einmal den Schal zurecht und zog dann die Gummihandschuhe an. „Meine Frau hat sie zur Vorsicht vorhin noch mit Spiritus abgerieben, das hält bestimmt vor.“ Umständlich zog er einen Chip aus der Jackentasche und legte ihn in die kleine Mulde am Griff des Einkaufswagens. „Los geht’s!“
Der Supermarkt war menschenleer. Ich ging in großem Abstand hinter dem pensionierten Finanzbeamten her, wie es die Aufkleber auf dem Boden befahlen. „Das ist ja auch einzusehen“, gab er zu verstehen, „und Sie wissen, ich möchte keinen Ärger bekommen.“ Er hielt den Einkaufszettel in der Rechten und streckte die Hand weit von sich weg, da er seine Lesebrille im Auto vergessen hatte. „Dosen“, entzifferte er. „Schauen Sie mal steht hier tatsächlich ‚Dosen‘?“ Ich ging einige Schritte auf ihn zu, doch er zuckte sofort zurück. „Nicht“, rief Breschke, „keinen Schritt näher! Wir werden noch aus dem Laden geworfen!“ „Vorschlag zur Güte“, antwortete ich, „Sie legen den Zettel da aufs Regal, und ich schaue nach.“ Das leuchtete ihm ein. Wir brauchten also Bohnen. Immerhin in der Dose.
Einen Gang weiter, wo Konserven in Gläsern und Büchsen lagerten, wollte Horst Breschke just mit dem Wagen einbiegen, als er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. „Es geht nicht“, keuchte er. „Wir können da nicht rein.“ In der Tat stand eine Dame in der Mitte zwischen den Stellagen und begutachtete in aller Ruhe Erbsen und Möhren in extrafeiner Qualität, konnte sich jedoch offenbar nicht für eines der annähernd gleichen Produkte entscheiden. „Wir müssen da durch“, verkündete er, und es klang wie ein Schlachtruf. Er fuhr in gutem Tempo den Drahtwagen bis knapp vor die Kundin, bremste und fuchtelte mit der Faust. „Ich kaufe hier ein!“ „Das sehe ich“, antwortete sie ungerührt. „Ich will mich nicht einmischen“, brachte ich mich in Erinnerung, und gleichzeitig wurde mir bewusst, dass ich in diesem Augenblick genau das tat: ich mischte mich ein. „Meine Güte“, stöhnte sie, „dann fahren Sie halt vorbei, so schwer ist das doch nicht!“ „Ich will aber nicht vorbei“, quengelte Horst Breschke. „Ich will jetzt an dieses Regal, und nur Sie hindern mich daran!“ Die Dame warf einen mitleidigen Blick auf ihn, dann auf mich, und stellte die Erbsen-Möhren-Dose wieder zurück zu den anderen. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag“, versuchte ich vorsichtig, „ich hole Ihnen eine Dose grüne Bohnen aus dem Regal, lege sie in Ihren Wagen, und wir setzen ganz entspannt unseren kleinen Einkauf fort, ja?“ Die Kundin trat ein paar Schritte zur Seite, so dass ich zugreifen konnte – Herr Breschke war unterdessen zurückgewichen und beobachtete meinen Vorstoß skeptisch – und so stellte ich die Konserve zu den anderen Dingen. „Jetzt aber ganz schnell“, beeilte sich Breschke. „Wir halten auf keinen Fall den Sicherheitsabstand ein, und wir sind insgesamt drei Personen.“
Der kleine Zwischenfall hatte den alten Herrn sichtlich aufgeregt. Noch fahriger als zuvor nestelte er an dem Zettel und hielt ihn mir schließlich vor die Nase. „Da muss irgendwo auch Milch stehen“, sagte er gequält. „Ich weiß es, weil meine Frau heute morgen nach dem Frühstück gesagt hat, dass wir keine mehr im Kühlschrank haben.“ „Da steht Milch drauf“, bestätigte ich, „und meinen Sie nicht, wir sollten es uns ein bisschen leichter machen, indem Sie einfach mir den Zettel geben, statt ihn mir hinzuhalten?“ Man sah deutlich, wie Breschke nachdachte. „Es ist ja keine schlechte Idee“, gab er zurück. „Aber letztlich habe ich doch ein bisschen Angst, dass Sie sich anstecken könnten, wenn ich Ihnen den Zettel einfach so…“ „Herr Breschke“, unterbrach ich ihn, „Sie tragen desinfizierte Gummihandschuhe, und ich habe vorhin fast eine Viertelstunde lang neben Ihnen im Auto gesessen. Man muss doch mal realistisch bleiben.“ Kleinlaut legte er den Zettel in den Wagen, wo ich ihn schließlich aufnahm. „Sehen Sie“, beruhigte ich ihn, „jetzt kaufen wir ganz gemütlich die letzten Sachen ein. Auf der Liste steht Würfelzucker.“
Seine Neigung zu Süßem hatte in den letzten Jahren zugenommen, aber noch hielt es sich in Grenzen. Nur auf den Würfelzucker in seinem Morgenkaffee bestand er, drei Stück mussten sein, wobei er für die letzten Schlucke sogar noch einen vierten hinzufügte. Schwungvoll drehte er den Einkaufswagen nach links und wollte gerade in den Gang mit Backwaren einbiegen, da stieß er frontal mit der Gegnerin zusammen. „Eine Niedertracht“, schrie er. „Sie haben mir doch aufgelauert, damit ich den Sicherheitsabstand nicht einhalten kann!“ Sie tippte sich an die Stirn, doch Breschke war gar nicht mehr zu bremsen. „Das wird Folgen für Sie haben, darauf können Sie sich verlassen!“ „Gibt es hier ein Problem?“ Der Verkäufer, gut erkennbar an seinem himmelblauen Hemd mit dem grellroten Supikauf-Schriftzug, war unbemerkt an den Auflauf herangetreten. Das focht den Alten jedoch keineswegs an. „Sie hat außerdem damit angefangen“, ereiferte er sich. „Und jetzt fährt sie einfach so aus dem Gang heraus! Sie wissen wohl nicht, mit wem Sie es zu tun haben!“
„Ich wusste es auch nicht“, bekannte ich und lud die Einkäufe in den Kofferraum. „Wie soll man wissen, dass sie Regionalleiterin ist und zufällig ein paar Besorgungen macht.“ Breschke zog zitternd die Handschuhe von den Fingern. „Das wird Folgen haben“, zischte er. „Das schwöre ich!“ Ich zog die Tür zu und schnallte mich an. „Wissen Sie was? Ab jetzt kaufe ich ein, oder noch besser: halten Sie den Sicherheitsabstand ein und lassen Sie einfach liefern.“
Satzspiegel