Himmelangst und Zwirn

5 03 2020

„Ja, wir werden alle sterben, das ist korrekt. Wir können da leider gar nichts tun, und bevor Sie fragen, die Bundesregierung ist dafür auch nicht zuständig. Finden Sie sich damit ab oder brauchen Sie noch mehr Erklärungen?

Das ist auch nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen. Wir sind alle erfahrene Kundenberater, die meisten haben schon im Krisenmanagement gearbeitet, einige von uns schon bei der Deutschen Bahn AG in der Beschwerdestelle, aber das hier ist eine ganz eigene Herausforderung. Die jetzige Lage ist schwierig, die Klientel ist schwierig, wir fangen hier die größten Knalltüten auf. Das Problem ist nur, dass wir den Leuten keine Unwahrheiten mehr erzählen. Obwohl sie die am schnellsten glauben und dann Ruhe geben. Aber das hält selten an, die meisten wollen dann noch mehr Unwahrheiten.

Panikhotline, was kann ich für Sie tun? Ja, man kann daran sterben. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie das Virus erwischen, ist zwar verhältnismäßig gering, und wenn Sie es wirklich einmal erwischt haben sollten, dann sehen Ihre Überlebenschancen auch sehr gut aus, aber theoretisch besteht immer die Möglichkeit, an so einer Infektion abzukratzen. Machen Sie sich darauf gefasst, dass das früher oder später in Deutschland auch irgendjemandem passieren wird. Haben Sie zufällig Krebs? Oder sind Sie Kettenraucher und warten auf Ihre ersten Metastasen? Was mich das angeht? Na, Sie wollten doch eine medizinische Einschätzung, ob Sie zur Risikogruppe gehören. Wenn Sie Ihr Immunsystem vorsätzlich schädigen, dann müssen Sie sich nicht wundern. Vielleicht haben Sie auch keine atypische Lungenentzündung, sondern nur erste Anzeichen für ein Karzinom. Die gute Nachricht ist, dass Sie von der Sache viel länger etwas haben. Da kriegen Sie noch richtig was geboten für Ihr Geld.

Ja, das ist das Problem mit den Leuten: wenn sie eins nicht vertragen, dann ist es die Wahrheit. Diese Angst vor datengestützter Risikobewertung ist eine Plage, das kann man den Anrufern einfach nicht klarmachen. Die erwarten, dass man ohne Folgen auf der Autobahn Rollschuh laufen kann. Ich habe manchmal den Eindruck, die legen es nur darauf an, dass ihnen einer reinfährt, dann haben sie endlich wieder Spaß an ihrer verdammten Opferrolle.

Panikhotline, was kann ich für Sie tun? Ihr Nachbar ist also gestern in die Klinik eingeliefert worden? Und was genau habe ich damit zu tun? Hat er gehustet? Oder in Ihrem Bett geschlafen? Oder eventuell beides? Nicht? Tun Sie mir bitte einen Gefallen und rufen Sie wieder an, sobald das Stockwerk über Ihnen abgerissen und der Rest vom Haus ausgeräuchert wird?

Meine Güte, ich kenne den Mann nicht, warum soll ich dann freundlich zu ihm sein? Wenn ich ihn jetzt in Sicherheit wiege und ihm erzähle, dass die meisten Patienten, die blau im Gesicht sind und auf einer Trage liegen, wegen einer Herz-Kreislauf-Erkrankung ins Krankenhaus kommen, dann glaubt er mir doch sowieso kein Wort. Wir sind hier total chancenlos.

Sie können den Leute auch erzählen, dass sie sich hundertmal am Tag die Hände waschen sollen, damit sie nicht direkt in den Infektionsherd fassen, aber ob Sie das vortanzen oder als Musical bringen, das interessiert keine Sau. Sie können es die Leute unterschreiben lassen, sie werden sich hinterher an kein Wort mehr erinnern. Im Zweifel haben Sie den Rechtsanwalt an der Backe, der sie verklagen will, da sie angeblich den Text oberhalb der Unterschrift ausgetauscht haben. Oder weil das in der BRD GmbH sowieso nicht gilt. Sie sind verloren.

Panikhotline, was kann ich für Sie tun? Nein, ein Japaner in der Straßenbahn ist nicht dafür verantwortlich, dass Sie Halsschmerzen haben. Der ist nicht einmal dafür verantwortlich, dass Sie ein dummes rassistisches Arschloch sind. Das waren Sie nämlich schon vorher, man merkt es nur jetzt erst so richtig. Bitte, gern geschehen.

Stellen Sie sich eine richtig schlimme Infektion vor, die durch eine moderne Großstadt zieht, nicht gerade die Pest, eher Typhus oder Cholera. Die Menschen sind unvorsichtig, die medizinischen Kenntnisse sind zwar in Ansätzen vorhanden, aber keiner vertraut ihnen, weil man Desinfektionsmittel für wesentlich effektiver hält als eine Armlänge Abstand und Kernseife. Die Mobilität befördert den Keim in die entlegensten Winkel der Welt, jeder ist alarmiert. Aber die Leute fassen alles an, weil sie immer schon alles angefasst haben, und vertrauen auf die Magie ihrer Zeit: Gesichtsmasken und die Verantwortung auf jemanden abwälzen, der ihnen das Denken abnimmt. Schon praktisch, oder?

Erzählen Sie mir bitte nicht, dass wir in einer Zivilisation leben. Wir sind nicht mehr weit davon entfernt, dass wir den Kranken eine Mitschuld an ihrer Infektion geben, weil das ins neoliberale Deutungsmuster passt, und gleichzeitig entlasten wir durch gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit unser Gewissen als Gesellschaft. Wenn die Zeitung mit den großen Buchstaben fragt, ob man noch Glückskekse anfassen darf, dann wissen Sie, was die Stunde geschlagen hat.

Panikhotline, was kann ich für Sie tun? Ein Rezept für Dosenravioli? Warten Sie, könnten Sie bitte erst mal mit der Schere nachprüfen, ob bei Ihnen noch genug Strom in der Steckdose ist?“