Gernulf Olzheimer kommentiert (DIV): Die Lebensangst

6 03 2020
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Wir wissen nicht, wie viele Generationen es gedauert hat, bis Ugas Vorfahren eine halbwegs auf Empirie fußende Risikoabschätzung entwickelt hatten. Monokausale Erklärungen – unreife Früchte vom Buntbeerenstrauch sorgen für Heiterkeit, die alsbald die Atmung beendet, eine Säbelzahnziege mit Nachwuchs ist kein geeignetes Jagdziel, wenn man die Jagd überleben will, und wer die Felsspalte mit Hilfe einer Liane überqueren will, sollte sich vor dem Manöver von der Stabilität ihres Wuchses sowie ihrer Befestigung überzeugen – gingen stets ein bisschen rascher ins allgemeine Wissen ein, je komplexer jedoch die Zusammenhänge wurden, die oft erst aus ihren Erscheinungsweisen erschlossen werden konnten, desto bedrohlicher wurde alles, was sich nicht ad hoc erschloss. Noch bis weit in die Neuzeit hinein waren dem Volk essentielle Kausalitäten in Medizin und Physiologie nicht oder nicht ausreichend bekannt; mitunter schwiemelte es sich aus Zuckerkügelchen und Märchenbüchern ein neues Konzept von Verleugnung zusammen, um das lästige Denken zu vermeiden. Insgesamt aber ist der durchschnittliche Depp nur überlebensfähig, wenn er eine irrationale Angst entwickeln kann, die ihm die ganze Existenz komplett versaut.

So irrational die diffusen Vorstellungen höherer Wesen sind, die den Menschen erschaffen, erhalten und irgendwann wieder von der Platte putzen, so vernunftwidrig diffus sind auch seine Auffassungen von Gefahr. Meist wird sie ihm vermittelt durch die Bilder, die Vorurteile auslösen: finstere Viertel sind Brutstätten der Kriminalität, niemand wird lebend aus ihnen herauskommen, da dort das Gesetz nichts gilt – dass niemand ohne Grund in Problembezirke reiste und sich als Katastrophentourist zu erkennen gäbe, ignoriert der Angstbürger geflissentlich. Dass die Wahrscheinlichkeit erheblich höher ist, an einer handelsüblichen Influenza zu versterben, statt bei einem islamistischen Attentat in Europa in die Luft gesprengt zu werden, irritiert ihn nicht.

Dabei wird grob fahrlässiges Verhalten jeder Art zuverlässig ausgeblendet. Im Vollrausch des autonomen Kontrollverlustes tritt der Bescheuerte neben der Lkw-Kolonne das Gaspedal durch und jodelt zielsicher in die Baustelle, die sich aus purer Gehässigkeit nach den angebrachten Hinweistafeln schnellmaterialisiert. Gern zeigt der Hominide seine intellektuelle Überlegenheit, die in mathematischer Grenzberechnung kulminiert, hier experimentell am Beispiel des Beschreitens von Gleisanlagen im Zwischenbereich heruntergelassener Halbschranken demonstriert, um zu beweisen, dass Darwin seine Theorie der Anpassung ans Habitat nicht auf rein körperliche Merkmale beschränkt wissen wollte. So unwirtlich kann keine Welt sein, dass der Bekloppte ihre Feindlichkeit nicht durch eigene Dummheit noch zu steigern wüsste. Sein Bausparerabitur lässt den Realitätsphobiker selektiv wahrnehmen, was er für gefährlich hält, und dies ist dank des Mythos von der technischen Beherrschbarkeit der Welt die Welt selbst, die sich überraschenderweise Millionen von Jahren ohne den Menschen hat über Wasser halten können. Selbstverständlich ist die Natur kein Kindergeburtstag, immerhin hat sie gefährliche, dämliche und vollkommen lebensfeindliche Bestien wie Homo sapiens sapiens hervorgebracht, der sich samt Habitat nicht nur mit Bordmitteln zu zerstören verstünde, sondern das zur Profitmaximierung auch planvoll unternimmt.

Die wirklichen Gefahren, das klimabedingte Absaufen oder Verbrennen ganzer Landstriche, die Verwüstung im Sturm, die Verseuchung durch aus dem Ruder gelaufene Ökosysteme, alles das aber scheint leicht und lässlich, da sich die gründlich verdübelten Nanodenker nicht mit globalen Größen beschäftigen, wenn in ihrer Vorstellung nur der Gartenzaun als letzte Grenze der Erfahrung bleibt. Auch die Angst muss überschaubar und damit gut konsumierbar sein, durch die tägliche Dosis an Unterhaltung und Drogen gut wegzuklappen ins kollektiv Unerwünschte, als würde das Aufsagen eines Gebetssprüchleins schon genügen, um unser Seelenheil mit dem notwendigen Aufprallschutz aufzupumpen. Gleichzeitig verlangt die Mehrheit der Flusenlutscher ein Rundum-Paket, damit die schrecklichen Wahrheiten nicht mehr so kicken.

Nichts verwundert da weniger als die Rückkehr des vorwissenschaftlichen Zeitalters, in dem der Sinn der Schutzimpfung ebenso angezweifelt wird wie die Existenz von Krankheitserregern als dem fiesen Endgegner der Erdscheibenjünger, die die Mondlandung für Science Fiction halten und die Aufteilung ihrer eigenen Spezies in Rassen für genetisch gesichert. Angst macht nicht zwangsläufig doof, sie verengt nur den Horizont wie kein anderes bewusstseinseinschränkendes Mittel. Nicht einmal eine inhaltlich zertifizierte Religion kann hier mithalten, denn die ist immerhin interpretationsfähig. Wir werden alle sterben, das steht schon einmal fest. Bis dahin werden wir es in dieser unbehaglichen Unsicherheit schon noch aushalten müssen. Auch wenn es länger dauern sollte als ursprünglich befürchtet.