Es roch muffig, die Papierkörbe waren voll, es gab kaum Sitzgelegenheiten. Ich hätte es sofort für ein Arbeitsamt gehalten, hätte ich nicht genau gewusst, dass ich ins Universitätsklinikum gekommen war.
Die Helferin nahm meine Einladung – es war eigentlich eine Vorladung, aber man nannte sie selbst im Arbeitsamt nicht mehr so – entgegen und musterte meinen Ausweis. „Wir haben Sie gar nicht in der Kartei.“ Ich zuckte die Achseln. „Sie müssen doch in den letzten Jahren wenigstens einmal in ärztlicher Behandlung gewesen sein?“ „War ich“, bestätigte ich. „Allerdings ist das über zehn Jahre her, und es war auch nicht so schlimm.“ „Sind Sie jetzt immun?“ Wieder gab ich meinem Nichtwissen Ausdruck. „Es war eine Prellung am rechten Knie. Keine Ahnung, wie lange das vorhält.“ Sie reichte mir den Ausweis zurück und drückte mir einen Papierstreifen in die Hand. Vorerst durfte ich mein Leben weiterführen, nur nicht mehr in ihrem Raum.
„Wir haben für Sie noch keinen Wert ermitteln können.“ Der Arzt war tatsächlich einer, nur bekam ich den Gedanken vom Arbeitsamt nicht mehr aus dem Kopf. Vielleicht ging es aber doch um eine medizinische Frage. Er reichte mir einen Stern. „Man schaltet ihn dort an, und so können Sie ihn an Ihre Jacke stecken.“ Das Gerät, etwa so groß wie meine Handfläche, verhielt sich ordnungsgemäß. Es leuchtete gelb. „Sie brauchen noch ein paar Tage, bis es wechselt. Vielleicht noch länger.“ Er wusste es also selbst nicht, und das war auch schon alles, was ich wissen musste.
Das Abzeichen sollte ermitteln, wie sicher der Umgang mit mir war. Grün bedeutete, dass von mir keine Gefahr ausginge. „Wobei wir natürlich nicht wissen, wie lange das anhält.“ Ich hielt den Stern in der Hand. „Und Sie stufen mich dann zurück?“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Eben nicht. Unser Urteil ist viel zu unsicher, deshalb überlassen wir es dem System.“ Ich blickte ihn an. „Nun ja“, sagte er unbeholfen, „dem System eben – Sie verstehen?“ Immerhin wusste ich schon vorher, dass wir alle vernetzt waren. Sie hatten Zugriff auf die Sterne, je nachdem, wo ich mich aufhielt, würden sie mich von der neutralen zur kritischen Person machen und mich aus dem Verkehr ziehen. Ich würde es selbst merken, wenn die Farbe plötzlich umschlüge. „Sie müssen sich dann selbstverständlich noch einmal melden“, informierte er mich. „Wir wissen schon, dass Sie dann als kritisch eingestuft sind, aber das System setzt selbstverständlich auf den mündigen Bürger, der eigenverantwortlich handelt, um keine Sanktionen zu erhalten.“
Ich steckte das Ding an meinen Mantel. „Gibt es offizielle Hinweise, wie ich mich verhalten muss, um nicht als kritisch eingestuft zu werden?“ Er schüttelte den Kopf. „Natürlich sollten Sie sich von Menschengruppen fernhalten, wenn Sie nicht die negativen Werte übertragen haben wollen. Aber wir berechnen das ja auch nur anhand eines…“ „Wir?“ Er war wie zuvor verlegen und krümmte sich, damit ich ihm nicht ins Gesicht sehen musste; gut, dass ihm mein Wohl so am Herzen lag. „Ich weiß ja nie so richtig, was in diesem System wie gewichtet wird, aber wir müssen das irgendwie…“
Ich wollte schon gehen, aber er ließ es noch nicht zu. Vielleicht hatte er aus vielschichtigen Gründen gefolgert, dass ich nicht überzeugt war. „Sie sollten doch noch ein paar Sicherheitsregeln lernen, damit Sie…“ Er entnervte mich, und ich ließ mich nicht bitten. „Wahrscheinlich hat man Ihnen erzählt, dass ein gewisser Prozentsatz der Bürger nicht an die Virusinfektion glaubt. Sie sind an diesen lustigen Aluhüten zu erkennen.“ „Sie wissen das also schon?“ Nichts wunderte mich, dass ihn das nicht wunderte. „Sie müssen vor allem große Menschenansammlungen meiden“, schärfte er mir ein, „ich würde an Ihrer Stelle jetzt nicht mehr mit der S-Bahn fahren.“ Ich musterte ihn, doch mit recht wenig Erfolg. „Warum“, fragte ich, „hat man dann nicht die gesamte Bahn stillgelegt?“ „Es ist ja Ihre freie Entscheidung“, stammelte er, „ob Sie nun durch die Bahn zur kritischen Person werden oder durch den Kontakt durch zu viele Arbeiter, das ist gesetzlich nicht vorgesehen.“
Irgendetwas piepste plötzlich. Auf dem Monitor erschien eine Zahlenkolonne. Der Arzt drehte sich kurz um und kniff die Augen zusammen. „Das sind meine Werte“, murmelte er. „Wir aktualisieren sie alle paar Minuten, aber diesmal scheint es einen Fehler gegeben zu haben.“ Er drückte einige Tasten, worauf sich der ganze Bildschirm erneuerte. „Das ergibt keinen Sinn.“ Zwar wusste ich nicht genau, was ihn störte, doch mein Stern wechselte die Farbe und wurde rot. „Ich kann mir das nicht erklären.“ „Soll ich’s versuchen?“ Er sah mich an, verängstigt und verwirrt. „Vielleicht ist Ihr Urteil zu unsicher, weil Sie sich nicht auf das System verlassen.“ Mechanisch drückte er ein paar Tasten und wartete, bis sich die Zahlen auf dem Bildschirm bewegten. „Ich kann das hier nicht ändern.“ „Natürlich nicht“, wandte ich ein, „das System eben. Das müssen Sie schon verstehen.“
Die Helferin führte mich den Gang entlang zu einer Treppe, die ins Untergeschoss führte; dort würde man mir alle weiteren Schritte erklären, wie ich mich nach einer Einstufung als kritische Person würde verhalten müssen. Als sie mich durch die Tür schob, sah ich, wie der nächste Patient das Sprechzimmer betrat. Das System machte keine Fehler.
Satzspiegel