Gernulf Olzheimer kommentiert (DVII): Politik für das Gestern

27 03 2020
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Es gab Sippenälteste, Stammeshäuptlinge, dann Tyrannen und Könige aus allerlei Geschlechtern, die von Usurpatoren und empor gespülten Fürsten ersetzt wurden, Kaiser, Diadochen, schließlich die Schicht der professionellen Politiker, die sich der Wahl durch eine sogenannte Bevölkerung stellen, alle Jahre wieder. Was es auch gibt, das nicht endet, ist der Verdruss angesichts tönender Versprechen und ihrem kärglichen Ende, das zwischen Dichtung und Wahrheit in ebendieser Verantwortung keimt. Was hatten sie nicht alles aus dem Hut gezaubert, echte Demokratie, Wohlstand für alle, Tugend und Ethik mit Zuckerguss, hurra! Was bleibt, ist je und wieder ein Abglanz, so dünn wie verschlissen, von der Politik für das Gestern, das nie vorbei ist.

Das waren die schönen Tage, in denen es noch genug Zukunft gab, so viel Zukunft, dass man sich als Bürgerlicher Vergangenheit leisten konnte. Man hatte nichts gegen Macht, die ja in regelmäßigen Abständen regelrecht bestätigt wurde. Ab und zu ließ man das Volk befragen, guckte hier und da in die Antworten hinein, ignorierte, was sich nicht mit Parteiprogrammen und Freundschaften in Industrie und Verbänden vertrug, so ging es immer weiter, analog, harmlos-christlich bis feucht-völkisch im Abgang, alles verschwiemelt zu einer schillernden Tunke, die direkt ins Gestern floss. Die kognitive Dissonanz dieser offensichtlich hilflosen Schläue strebte das Nichts an, den abstrakten Fortschritt, in dem aber alles blieb, wie es nie war, ein Zerrbild, nur durchsichtig. Strukturen sind wichtiger als der Inhalt; Menschen sind, man sieht es, austauschbar.

Denn immer wieder erweist sich eine eklatante Lücke zwischen der gefühlten Wirklichkeit in den Köpfen der politischen Entscheider und der weit in die Zukunft denkenden Einstellung der Wähler, die sich nicht mit theoretisierendem Kleinkrempel die Metadiskussion verquarken lässt, sondern, horribile dictu, praxisbezogen denkt und lösungsorientiert vorgeht. Der Krümmungswinkel der EU-Gurke ist ihnen nicht wichtig, aber der Treibhausgasausstoß geht ihnen auf die Plomben. Die Subventionen für Kurzstreckenflüge zur Sicherung fetter Boni in den Chefetagen der Airlines ist für sie kein soziales Ziel, weil sie Kurzstreckenflüge längst für ein nicht mehr benötigtes Relikt aus dem mobilen Neandertal halten. Das Unverständnis der Bürger, auch und gerade der aufgeklärten Mittelschicht, gerinnt zu hässlicher Wut, wenn sie Lobbyopfer ertappt, wie sie Postkutschenbauer, Schreibmaschinenfabriken und Kohlekraftwerke retten wollen, indem sie ihnen Löcher in die Erde buddeln, damit sie sich vor der Sintflut verstecken können. So wie wir Lochkarten und Wählscheibenfernsprecher überwunden haben, werden wir auch Fotovoltaik und Windkraft nicht aus purem Willen wieder los, schon gar nicht in der Vernunftvorstellung der Mehrheit.

Mit etwas grober Logik könnte man ihnen, den alten Männern (die nicht einmal alle weiß sind), die reine Machtgier unterstellen oder einfacher noch Abhängigkeit von wirtschaftlichen Verflechtungen. Es wäre nicht einmal weltfremd. Warum dann aber strategisches Denken ebenso der Vergangenheit angehört, kann das nicht erklären. Das Ende einer mehrheitskompatiblen Politik erinnert an den jähen Tod der Saurier, die noch einmal träge in den Himmel linsen, den Meteoriten schon pfeifen hören und phlegmatisch äußern, es werde vielleicht einen oder zwei von ihnen erwischen, der Rest werde es aber morgen schon verdrängt haben. Es gab kein Morgen. Es gab nicht einmal jemanden, der sich an das Gestern noch hätte erinnern können.

Die Erzählung von der Kontinuität ist gründlich kaputt, weil die Parole Weiter so ohne ein überlebbares Ziel blieb. Hinter all dem tumben Motivationsgeballer, das uns permanent einbläut, jede Krise als Chance zu sehen, damit wir uns über den großen Vorrat an Krisen freuen können, steht die bräsige Ignoranz, dass sich sämtliche Variablen verändert haben, vermutlich sogar die gesamte Umgebung nicht mehr existiert oder demnächst von der schiefen Ebene in den Abgrund rauscht. Sie haben den Arbeitern die 40-Stunden-Woche gegen die kapitalistischen Unternehmer erkämpft, jetzt bringen sie uns bei, dass wir mehr arbeiten müssen, weil es nicht mehr genug Arbeit gibt, obwohl sie alles tun, um die Technik zu zerstören, die uns die Arbeit abnehmen würde – bei voller Rendite für die kapitalistischen Unternehmer. Jede Diskussion mit ihnen ist eine intellektuelle Nahtoderfahrung, und so diskutiert der Betroffene nicht mehr mit, sondern längst ohne, häufiger noch gegen die Wortspender und ihr verbales Granulat. Noch fehlt ihnen der nötige Organisationsgrad, um sie über die Kante zu kippen, doch das ist angesichts der Vernetzung und täglich anwachsender Zukunft nur noch eine Frage der Zeit, die keiner mehr hat. Ein Gestern aus reiner Ungleichheit, das Führer und Geführte kennt, und eine Mainstream-Politik, die ihre komplette Energie mit dem Widerstand gegen die Selbstzerstörung verbraucht, sind wie Einsteins Endgegner. Nicht die Dinge verändern sich, ein Koordinatensystem aus Raum und Zeit beult sich in Zeitlupe aus, wenig, aber messbar. Keiner weiß, wie lange es noch hält. Bis gestern ging es noch.