Verhältnisse

26 05 2020

„Und deshalb setzen Sie jetzt auf selbstbestimmte Maßnahmen?“ „Auf selbstbestimmtes Verhalten. Wir wollen, dass die Bürger sich solidarisch zeigen in einer…“ „Also mit anderen Worten: erst krepiert Thüringen, und dann der Rest von Deutschland?“

„Seien Sie doch mal ehrlich, die Menschen sind von den Maßnahmen der Bundesregierung einfach nicht mehr zu überzeugen.“ „Und was fällt Ihnen da als Lösung ein?“ „Wir arbeiten selbstverständlich auch weiterhin präventiv: da wir davon ausgehen müssen, dass die Menschen jetzt auch von den Regelungen auf Landesebene die Schnauze voll haben, delegieren wir die Prävention auf die kommunale Ebene.“ „Und das heißt jetzt was?“ „Wenn man einen Infektionsherd hat, dann muss man ja nicht gleich das ganze Land lahm legen. Es reicht ja aus, wenn man einzelne Landkreise und Städte abriegelt.“ „Vorher haben Sie noch betont, man würde die Länder gar nicht abriegeln können, wenn man in einzelnen Städten…“ „Kann man ja auch nicht. Wie stellen Sie sich das vor? Und was für einen wirtschaftlichen Schaden würde man da riskieren?“

„Was machen Sie denn jetzt, wenn es einen Infektionsherd im Land gibt?“ „Man kann ja die einzelnen Städte oder Landkreise nicht komplett abriegeln.“ „Eben hatten Sie noch gesagt, dass das notwendig sei.“ „Ja, das stimmt auch. Aber dass das nicht geht, das muss man doch nicht betonen.“ „Damit riskiert die Landesregierung, dass sich ein einzelner Fall…“ „Es müssen schon mehrere sein, wir sprechen ja immerhin von Infektionsherden.“ „Die gehen aber auf Einzelfälle zurück.“ „Das kommt eben dabei raus, wenn einzelne Kommunen sich nicht an ihre Vorschriften halten.“ „Ich dachte, dass das jetzt nur noch den Bürgern obliegt?“ „Das ist richtig, aber es ist ja auch nur als Empfehlung gedacht.“ „Aber…“ „Schauen Sie mal, dem Land und den Kommunen vertrauen die Bürger doch nicht mehr, weil sie befürchten, dass sich hinter den Vorschriften eine faschistische Ideologie verbirgt, mit der ein neuer Führerstaat vorbereitet werden soll.“ „Und jetzt sagen Sie den Bürgern, sie sollen sich um ihre eigene Sicherheit kümmern?“ „Naja, die Bürger werden wohl am wenigsten einen neuen Nationalsozialismus vorbereiten wollen.“ „Da wäre ich mir in Thüringen nicht zu sicher.“

„Wir setzen doch nur auf die Einsichtsfähigkeit der Bürger.“ „In allen anderen Bundesländern haben wir Infektionen, wo es den Leuten völlig schnurz war, ob sie einen Meter oder zehn Meter Abstand hielten oder ob sie ohne Mundschutz mit drei Dutzend in einer Eckkneipe waren.“ „Das sind dann eben Fälle, in denen die Landesgesetzgebung sich nicht ausreichend durchgesetzt hat.“ „Wenn in Thüringen zwei oder drei solcher Hotspots für eine Infektionswelle sorgen, dann hat doch der Rest von Deutschland auch etwas davon.“ „Deshalb setzen wir vorläufig auch nur auf die Vorsicht der Bürger in Thüringen. In den anderen Ländern werden sich die anderen Bürger selbst um ihre Sicherheit kümmern müssen.“

„Und was machen Sie, wenn ein einzelner Fall die ganze Scheiße wieder hoch kochen lässt?“ „Dann haben wir ja immer noch die Alarmsysteme auf kommunaler Ebene.“ „Wo denn?“ „Na, in den Gesundheitsämtern.“ „Die haben doch jetzt schon kaum Personal!“ „Wenn es sich bald wieder beruhigen wird, müssen wir doch jetzt nicht auch noch Leute einstellen, die wir sowieso bald wieder rausschmeißen. Hahaha, das würde der Palmer bestimmt total witzig finden!“ „Selbst, wenn Sie die Leute hätten, die müssten sich doch vor allem um die Infektionsketten kümmern, oder wie wollen Sie diese verdammte Corona-App betreiben?“ „Ja, die kommt halt auch erst, wenn der ganze Zirkus schon vorbei ist. Oder halt nie. Aber das kommt ja so ziemlich auf dasselbe hinaus.“ „Dann melden sich die Infizierten bei Ihnen und…“ „Moment, bevor die sich alle als infiziert bezeichnen oder bevor Sie das tun: haben die einen Test gemacht?“ „Machen die das denn nicht bei Ihnen im Gesundheitsamt?“ „Mit welchem Personal denn?“ „Aber Sie haben doch eben gerade gesagt, dass Sie Alarmsysteme auf kommunaler Ebene vorhalten?“ „Ich habe auch gesagt, dass ich die Kommunen nicht abriegeln werde, weil es notwendig ist und mir trotzdem am Arsch vorbeigeht. Sie hören anscheinend auch immer nur das, was Sie hören wollen.“ „Wenn Sie hier Verhältnisse haben wollen wie in Schweden, dann bekommen Sie halt eine viermal so hohe Sterberate und eine Wirtschaft, die trotz offener Läden abkratzt.“ „Wir wollen keine Verhältnisse wie in Schweden. Wir haben eine florierende Wirtschaft, insbesondere in der Logistik: viele Arbeitsplätze unterhalb des Mindestlohns, sehr viele davon in Teilzeit, befristet oder in anderen atypischen Arbeitsverträgen. Das ist hochgradig systemrelevant.“ „Dafür riskieren Sie, dass es in Deutschland zu einer zweiten Welle kommt?“ „Keiner von uns hat die Absicht, Bundeskanzlerin zu werden, und auf den CDU-Vorsitz legt hier auch keine Sau gesteigerten Wert.“

„Sämtliche Epidemiologen und Virologen raten von dieser überstürzten Lockerungen ab.“ „Die müssen ja auch nicht unseren Landeshaushalt bezahlen.“ „Dann wird es irgendwann einen echten Lockdown auf kommunaler Ebene geben.“ „Das ist eine Demokratie, und wir leben nicht vom Zwang, sondern von geteiltem Wissen und Mitwirkung.“ „Moment mal, das hat doch die Bundeskanzlerin genau so gesagt? sogar wörtlich!“ „Ja, leider.“ „Wie jetzt, leider!?“ „Naja, sie bezieht sich auf die Bundesebene. Wir aber…“