Stammbaumforschung

29 07 2020

Hier war schon länger nicht mehr gelüftet worden. Aber das passte zu der düsteren Kneipe, in deren Ecke Doktor Doppler den Inhalt seines Köfferchens ausbreitete. „Die ersten werden gleich da sein“, erklärte der Politologe. „Bestellen Sie sich schon mal ein Bier, dann können wir gleich anfangen.“

Unter einem Dorfkrug hatte ich mir etwas anderes vorgestellt, aber auch das hier war durchaus bezeichnend. Aus dem Hintergrund dudelte kratzig und monoton ein Spielautomat, die Aschenbecher wurden vermutlich einmal im Jahr grob gesäubert, das Getränkeangebot entsprach in etwa der Genfer Konvention: wer hier reingeriet, verdurstete nicht. Damit war der Kultur aber auch Genüge getan. Der Wirt, ein faltiger Mann von undefinierbarem Alter in einer Lederweste, die noch älter sein musste als er selbst, ließ in stoischer Ruhe Bier in die Gläser laufen. Langsam betraten die Gäste den Raum, einer nach dem anderen, und setzten sich missmutig auf Bank und Stühle. „Lahnstein“, murmelte einer der Herren, eher verärgert als erfreut, mit der halben Andeutung eines Kopfnickens. Er und der zweite, der sich später als ehemaliger Postbote zu erkennen geben sollte, hatten schon die Gläser vor sich stehen. So hätte der Abend enden können.

„Sie haben dies sicher schon gelesen“, begann Doppler die Runde, indem er ein Schriftstück in die Mitte des Tischers schob. „Tja“, sagte Jensen, „da macht man nun so Aufhebens davon, dabei ist da gar keiner zu Schaden gekommen.“ Der seit Jahren pensionierte Verwaltungsbeamte, der überwiegend im Rathaus seinen Dienst versehen hatte, wiegelte ab. „Dass die das nicht als Postbrief verschicken, sondern als elektronische E-Mail, das ist ja auch zu bedenken. Das hätte man einfach löschen können.“ „Jedenfalls hätte ich einen Drohbrief sofort bei der Polizei angezeigt. Sofort!“ Theodor Motzfeld, als Feuerwehrmann mit 64 im Ruhestand, sank in den Stuhl. „Ich will gar nicht wissen, woran Du einen Drohbrief erkannt hättest“, warf er ein. Hubert kniff beleidigt die Augen zusammen. „Am Umschlag. Nach spätestens zwanzig Jahren weiß man, was in einem Brief steht, und muss ihn nicht mehr…“

„Und einen Doppelten“, brummte Zeisig. „Wie immer“, bestätigte der Wirt und stellte die beiden Gläser vor den Pferdewirt. „Es handelt sich hierbei um schwerste Straftaten“, wandte Doktor Doppler ein. „Na“, sagte Motzfeld bedächtig, „es sind nicht nur Ausländer gewesen.“ „Die können doch wieder nach Hause ziehen“, gab Jensen zurück, doch Karl-Friedrich Lahnstein wusste es besser. „Manche von denen sind hier geboren.“ „Dann sind es eben keine Ausländer“, beharrte Zeisig und kippte den Kurzen. „Deshalb auch die Mails“, bestätigte Jensen. „Wenn man Ausländern schreibt und nicht weiß, wo die sich gerade aufhalten, macht man das per Mail, weil die überall zugeschickt wird.“ Keiner konnte der Logik widersprechen. Sie schauten beruhigt in ihre halbvollen Biere.

„Der Skandal ist doch aber“, mischte sich der Doktor erneut ein, „dass es sich um einen Polizisten gehandelt hat, und um seine Frau.“ Motzfeld legte die Stirn kraus. „Um einen ehemaligen“, korrigierte er. „Ein ehemaliger Polizist, also handelt es sich nicht mehr um ein Dienstvergehen.“ „Und wie kam er dann an einen Polizeicomputer?“ „Das muss er doch wissen“, stichelte Lahnstein. „Wer einmal zur Verwaltung gehörte, der ist immer noch gern als Gast gesehen und kann, nur mal so als Beispiel, den Pritschenwagen vier Wochenenden hintereinander als nicht fahrtauglich melden, weil seine Tochter gerade am Waldpark das Häuschen baut.“ Jensen grinste. „Ich wäre ganz vorsichtig“, antwortete der bullige Brandmeister. „Sonst kommt noch raus, dass einer seit 1975 die Fotokopien fürs Archiv des Anglervereins im Bürgermeisterbüro macht.“

„Sagen Sie mal“, ergriff Zeisig das Wort, „Sie sind doch einer von der Staatspresse, richtig?“ „Wie kommen Sie darauf?“ Doktor Doppler war ehrlich entrüstet. „Ich arbeite für das Bundesministerium des Innern!“ Der Wirt begann sofort, die Schnäpse wieder nachzufüllen. „Das ist doch fast dasselbe“, motzte der Briefträger. „Entweder Sie finden raus, was die am nächsten Tag im Fernsehen sagen sollen, oder das Fernsehen sagt Ihnen, was Sie am nächsten Tag rausfinden müssen!“ Zeisig goss den Korn in den Hals. „Wollen Sie uns denunzieren, weil wir uns von dieser kommunistischen Diktatur nicht den Mund verbieten lassen?“ „Das darf man ja alles in der Öffentlichkeit schon gar nicht mehr sagen“, ereiferte sich Motzfeld. „Ich kenne genug, die sind von der Polizei abtransportiert worden!“ Ich stellte das Glas ab. „Gut, wen denn?“

„Es hat keinen Zweck.“ Doktor Doppler ging noch einmal die Anweisungen des Protokolls durch, bevor er den Koffer schloss. Es war auch schon dunkel geworden. Jeden Augenblick musste das Taxi kommen, das uns bis zum Bahnhof in der Kreisstadt fahren würde. „Dennoch halte ich es für eine gute Idee, wenn man in diesen politisch so unruhigen Zeiten den Konflikten auf den Grund geht und sich genau überlegt, woher diese irrational aufgeladene Haltung kommt und wie sie sich auf die sozialen Spannungen auswirkt.“ Hastig zündete er sich eine Zigarette an. Nach ein paar Zügen wirkte er schon entspannter, aber auch resigniert. „Wir müssen es wohl zugeben, es gibt immer noch eine gewisse Schicht, die sich nicht integrieren will und auch gar nicht integrieren kann. Was meinen Sie, so als verfassungstreuer Staatsbürger – ob man die einfach aufgeben soll?“