Beherbergungsverbot

20 10 2020

Vier Minuten nach zehn klingelte es. Er war spät, aber ich wollte mich nicht gleich am ersten Tag ärgern. Ich schloss die Wohnungstür und stieg die Treppe hinab, wo er mich empfing. „Kurzbein“, sagte er junge Mann mit einer kleinen Verbeugung und reichte mir sofort die Hand. „Ick wer nu Ihr Fremdenführa, wa!“

Natürlich hatte ich nicht seine Hand geschüttelt, dies war ja schließlich eine Maßnahme gegen die Ausbreitung der Pandemie. „Denn kommense ma“, lud er mich ein. Der Tag war etwas neblig, aber für die Jahreszeit angenehm hell. „Ick schlahre vor, wir jehn nu ersma nachn Hafen.“ Und so folgte ich ihm, wie er gemächlich die Straße hinab vor mir herging, den interessierten Blick links und rechts, ob es nicht etwas zu entdecken gab. Auf der anderen Seite hob Doktor Klengel grüßend seinen Spazierstock in die Luft und nickte herüber. „Det is die Kirche äääh… Sankt Borumil.“ „Bonifatius“, korrigierte ich, und ich musste es wissen. „Det neujotische Jebäude war im fuffzehnten Jahrhundat von Paul Göthe…“ „Der Mann hieß Jöhte“, warf ich ein, „bis auf das Jahrhundert ist der Rest richtig.“ „Jut“, murmelte Herr Kurzbein. „Det wer’ck ma merken.“ Ich runzelte leicht die Stirn. „Sie kommen wohl nicht von hier?“ Er lächelte erfreut. „Hört man det?“

Ab hier verlief der Weg ein bisschen holprig. An der Hauptpost konnte ich meinen Führer gerade eben noch davon abhalten, links in die Kaiserstraße abzubiegen. „Zum Hafen müssen wir natürlich hier lang“, bestimmte ich. „Jut“, antwortete Kurzbein. „Det wissense ehm bessa, wa!“ Es fing allerdings doch an zu nieseln, und so aufregend war der Hafen auch nicht, zumindest nicht, wenn man nur einen Steinwurf entfernt wohnt. Also beschloss ich, den Tag in meinem Feriendomizil zu verbringen. „Hier ist die Garderobe“, erklärte ich dem Guide, „wenn Sie sich frisch machen wollen, es hängt ein gelbes Handtuch für Gäste an der Tür.“ „Nee“, antwortete Kurzbein. „Ick bin ja keena.“

Auf dem Couchtisch lagen wie geplant ein paar alte Zeitschriften – sonst hätten mich Fischfang und Motorräder nicht so interessiert, aber im Urlaub war das etwas anderes. „Ick wer nu det Bett machen“, teilte mir Herr Kurzbein mit. „Dürft ick Ihn ooch ’n Heißjetränk ßubereitn?“ „Das ist sehr aufmerksam“, sagte ich, „einen Kaffee nehme ich gerne.“ „Is jut.“ Das Wetter verschlechterte sich zusehends, daher schloss ich das Fenster; normalerweise hätte ich das Personal dafür bemüht, aber man hat ja nun einmal so viel Zeit. „Sahrense ma“, ließ sich Kurzbein aus der Küche vernehmen, „wo hamse eijentlich den Vollautomatn vasteckt?“ „Im linken oberen Schrank finden Sie die Dose mit dem Kaffee, Filterpapier sowie die Mühle“, instruierte ich ihn. „Rechts ist der Filter, und den Wasserkocher sehen Sie ja.“ Er kratzte sich am Kopf. „Jut, denn wer’ck Ihnen ma so’n Kaffee kochen. A nich, det Se meckern dhun, det is keen Matschato.“ „Lassen Sie mal“, beruhigte ich ihn. „Ich bin das so gewohnt.“

Es dauerte eine halbe Stunde, bevor ich einen lauwarmen Kaffee serviert bekam. „Das ist schon mal sehr schön“, lobte ich. „Machen Sie das doch gleich noch einmal.“ Kurzbein runzelte die Stirn. „Det is nich inbejriffn“, murrte er. „Ick bin nua Faktotum, a det is ja nu keen Hausanjestallta.“ Jetzt wurde es mir aber doch zu bunt. „Herr Kurzbein“, begann ich, „dies ist ja nun einmal Teil eines großen Experiments – einer Urlaubssimulation, bei der die Gäste davon profitieren, dass die Hotelangestellten ihre Dienste vor Ort anbieten.“ Er lauschte stumm und misstrauisch. „Würde ich diesen Urlaub nicht buchen, hätten Sie auch keine Möglichkeit, Ihren Service direkt am Kunden auszuüben.“ „Det sahren Sie“, grummelte er. „Det Beherberjungsvabot, det hamse ausjedacht, damit det billija wird, wa!“ Das war harter Tobak. Oder sollte er am Ende recht haben und das alles war nur eine ausgeklügelte List der Tourismusindustrie, um Kosten zu sparen? „Jenau jenomm dürft ick Ihn jah nich uffnehm.“ Das verstand ich nicht. „Ick komm ja direktemang ausn Risikojebiet“, erläuterte er. „Da dürft ick Ihn jar keen Zujang jewährn, vastehnse?“

Es klingelte; Herr Kurzbein öffnete die Tür und nahm eine monströse Kühltasche entgegen, deren Inhalt er im Kühlschrank verstaute. Es handelte sich um je drei abgepackte Portionen eines Fertigmenüs, die im Wasserband erhitzt werden konnten. Auf dem Küchentisch lag eine geschmackvoll gestaltete Karte, die ich von nun an drei Tage lang bekommen sollte, um mir ein Abendessen auszuwählen. „wenn det nich passen dhut“, informierte mich Kurzbein, „denn könnwa ooch Pizza komm lassn.“ Das musste man dem Reiseanbieter zugestehen, er setzte auf regionales Kolorit und Kundenfreundlichkeit. Ich sah schon, ich würde mich in diesen drei Tagen wie zu Hause fühlen.

„Ick wer denn soweit.“ Mein Gastgeber hatte sich bereits angezogen und war drauf und dran, mich für den Rest des angebrochenen Tages mir selbst zu überlassen. „Die Örtlichkeitn kennse ja, im Kühlschrank ha’ck Ihn Bier rinjestellt, wennse noch Wunsch hättn, Zimmaßörwiss is innahalb von ßwee Stundn da.“ „Das hört sich gut an“, teilte ich ihm mit. „Bringen Sie bitte morgen noch ein paar von diesen Zeitschriften mit, die hier werde ich wohl heute ausgelesen haben.“ Herr Kurzbein verbeugte sich und ging, nicht ohne das Formular ausgefüllt und unterzeichnet zu haben, dass er allen vertraglichen Pflichten nachgekommen sei. Ratlos blieb ich zurück. Warum beschwerten sich so viele Menschen, dass sie nicht in die Ferne würden reisen können, wo es doch zu Hause auch schön ist?