Gernulf Olzheimer kommentiert (DXXXVIII): Lifestyleesoterik

30 10 2020
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Früher war Religion noch ein konsistentes Denkmuster. Uga hätte nur einmal die abendliche Bitte an die Sonne vergessen müssen, am nächsten Morgen wieder aufzugehen, und die Sippe hätte ihn ohne zu zögern gelyncht. Vielleicht hat er es nie vergessen, vielleicht wurde die Kontrolle derartiger Rituale auch nur sehr nachlässig betrieben. Oder sie wurden allmählich zum Weg der Freizeitgestaltung, den man aus sozialen Gründen mitging, während doch alle wussten, dass alle wussten, dass es nicht mehr um überlebensnotwendige Handlungen ging. Erst spätere Zivilisationen sollten endgültig die Verbindung kappen zwischen geheimkramender Methode und tatsächlichem Sinn, den es darin zu erkennen gab, gerne auch auf mehreren Ebenen. So entstand unabwendbar die Lifestyleesoterik.

Die typische Wohneinheit einer allein lebenden Grützbirne mittleren Alters in einem eher nicht so spannenden Beruf zeichnet sich eh schon durch ästhetische Verwirrungen aus, die an der Grenze zur Transzendenz nicht unbedingt umkehren. Hier und da gesellen sich buddhistische Dekoelemente zum indianischen Traumfänger, original gedruckte Ikonen aus taiwanesischen Klöstern stehen neben der obligaten Nofretetenbüste auf dem Schränkchen mit Kochbuch und Räucherwerk – um nach dem Meeting den Kopf wieder zu entlasten, rettet sich die Dumpfdüse in eine Runde Ziegenyoga, gerne am veganen Wochentag mit ayurvedischen Drinks direkt aus dem Kühlregal an der 24-Stunden-Tanke.

War die ethische Funktion der Religionen noch aus dem Gefühl entstanden, fortwährend beobachtet zu werden, ballert sich der mystische Schnösel im Zweifelsfall die Bude mit Feng Shui voll, labert am Feierabend die Topfpflanzen zu und hält sich allen Ernstes für spirituell erwacht. Ein psychedelisch wirksames Raumspray wäre hier eindeutig die schmerzfreiere Variante gewesen, aber reicht ein Bausparerabitur bis in diese gedanklichen Gefilde? Gläubigkeit ist immer das, was man daraus macht, insofern darf jeder nach seiner Façon selig werden.

Nebenbei sind ja traditionelle Rückbindungen an die eigentlichen Glaubensvermarkter nicht selten noch produktiv, auch wenn sie im Zuge moderner kapitalistischer Verwertbarkeitsmechanismen nur noch als Einkaufs-, Party- oder Urlaubsgelegenheit wahrgenommen werden. Der hippe Jetztzeitler ist stets imstande, seine synkretistischen Vorstellungen von Göttern und Geistern mit neuen Features zu optimieren, ein bisschen Reinkarnation hier, etwas Karma dort, Sitzmeditation, Kabbala, Klangschalen fürs positive Chi. Das haben die antiken Vorfahren schon gemacht und alles umsemantisiert, was nicht bei drei auf dem Maibaum hockte – viel hilft ja bekanntlich viel, zur Sicherheit in einem Aufwasch Mutter Maria, Isis und Kybele anzubeten kann so falsch nicht sein, wenn alle es machen. Daneben tut man sich aber aus reiner Gewohnheit freitags noch einen Rosenkranz an und lässt den Nachwuchs im Kreise der Familie sowie unter den Augen der buckligen Verwandtschaft taufen. Man weiß ja nie.

Dass sich Spiritualität als Gehhilfe für einen halbwegs stolperfreien Pfad der Erkenntnis eignet, wird keiner bestreiten, der damit sein Geld verdient. Nach dem Genuss mehrerer angesagter Workshops, in denen Reiki als Königsweg gelehrt wird, sich das Fett über den Chakren wegzukneten, fühlt sich die einsame Seele endlich wieder in der Gnadenzone angekommen und genießt den Sinn des Lebens. Die schnelle Lösung ist bekanntlich die beste, man schwiemelt sich ein Pfund Heiligkeit an die Wand und ist schon angekommen im Wir-Gefühl der Knalldeppen. Andere brauchen dafür viel Schnaps oder fünftausend Kilokalorien pro Tag, müssen auf Rollschuhen hinter einem Rennwagen kleben oder am Seil in die Tiefe hüpfen, bis sie inkontinent sind. Einfacher geht’s doch mit linksgerührtem Vollmondwasser, Powerpendeln über dem eigenen Nabel und allerlei glitschigem Engelgedöns. Die Wahrscheinlichkeit, diesen offenporigen Versuch einer Hirnausschaltung zu überleben, liegt immer noch oberhalb derer bei Anwendung von Schnaps.

Die Transzendenz hat ihre Funktion verloren, und wer sie einem gekonnt wiedergibt, sind meist nur dödelige Sektenfuzzis, die in die psychischen Notstandsgebiete gründlich gestresster Großstädter einfallen wie die Borg in einen Kindergarten. Nach sattsam bekannten neoliberalen Spielregeln wird das als Patentrezept verkauft, das wirken muss, weil man ja daran glauben kann – und keiner würde für ein allseits beliebtes Abführmittel aus Überzeugung eine Menge Geld ablaschen und sich dann als der eine outen, der sein Problem immer noch an der Backe hat. Dann nimmt man die Sinnsuche schon beherzt in die eigene Hand und weiß, dass es von jedem selbst abhängt, Erlösung zu finden. In einer freien Gesellschaft lassen sich alle zur Verfügung stehenden Mittel und Wege frei kombinieren, alle phänomenologischen Sperenzchen, alle dogmatisch verquasten Zerlebungsanzeichen einer Kasperade, die sich selbst für relevant hält. Es geht uns gut. Wir sind immer noch imstande, selbst zu unseren schamanischen Geistheilern zu humpeln. Macht die Nachbarin ja auch. Natürlich nicht, ohne sich einen Christophorus in die Karre zu pappen.