Gernulf Olzheimer kommentiert (DLXXII): Überwachungskapitalismus

9 07 2021
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Das Unterbewusstsein ist ein lustig Ding, hin und wieder gaukelt es uns vor, wir besäßen einen freien Willen. Natürlich ist uns längst klar, dass wir von unseren Trieben durch eine komplexe Welt dirigiert werden, die sich unserem Geist und damit lediglich einem sehr kleinen Teil von uns erschließt. Ist es da nicht verhältnismäßig logisch, dass wir versuchen, dieses Steuerungsmodell auf eine ganze Gesellschaft zu übertragen, um die zielsicher am Gängelband zu führen, die ohnehin nicht viel Geist mitbringen, um ihre Rolle als Objekt der Begierde zu begreifen? Das spätkapitalistische Menschenbild hat sich eine ganze Population untertan gemacht, um sie notfalls auch gegen ihren Willen glücklich zu machen mit den Segnungen von Konsum und Sicherheit. Mit dem Überwachungskapitalismus ist das Paradies auf Erden endlich erreicht.

Oder auch nicht. Sicherheit, das hat uns die zwangsgestörte Staatlichkeit der angeblich liberalen Welt exzessiv in die Hirnrinde geschwiemelt, ist nur durch ständige Kontrolle zu gewährleisten, und den besten Schutz bietet vorausschauender Zwang. Um das Verbrechen zu bekämpfen, wenn man keine Gedanken lesen kann, hilft nur die Beobachtung der Willensäußerungen, aus denen sich mit Hilfe von Algorithmen der Inhalt der Black Box extrapolieren lässt – wobei Observieren und Abservieren fließend ineinander übergehen. Die Hölle sind wir selbst, aber wir haben keine Chance, sie erträglicher zu machen, weil wir eine Art der Sklaverei gegen eine andere nur austauschen können, wo wir genügend Bonuspunkte gesammelt haben. Das ist das falsche Leben im richtigen.

Was bereits als soziale Dressur taugt, kann auch im Wettbewerb nicht verkehrt sein. Hin und wieder in die Lebenswirklichkeit der Probanden, vulgo: Verbraucher einzugreifen ist legitim, wenn es dem Markt stetiges Wachstum sichert – um Sicherheit geht es ja, und wer will schon beschränken, ob es immer nur staatliche ist. Oder Sicherheit vor dem Hominiden, der in seiner intellektuellen Ausstattung plötzlich die Schalter für Denken, Widerspruch und Verweigerung entdeckt, bevor man sie ausknipsen konnte. Oder ihn. Je mehr sichere Aussagen über das dynamische Verhalten eines Versuchsmenschen vorhanden sind, desto besser wird er sich steuern lassen, wie ein Insekt im Laborkasten, das nur noch seinem Instinkt folgt, weil andere Einflüsse fehlen.

Wie in einer Gated Community alle schädlichen Außenreize ausgeschaltet werden, damit innen der himmlische Frieden herrscht, beobachten uns im Idealexperiment die Sensoren einer Maschinerie in einem mit Reiz-Reaktions-Mechanik ausgestatteten Käfig, beispielsweise mit einem lernfähigen Gerät, das die Temperaturschwankungen misst, die von der Anwesenheit eines Menschen ausgehen. Je nach Muster erhebt sich die Person aus dem Bett, betritt erst die Nasszelle oder bereitet ein Heißgetränk zu – der Apparat gibt die Reihenfolge, ihre Tempi und Schwankungen an die Datenhalde weiter, die bald Beleuchtungs- und Heizungsbedarf in den weiteren Zimmern vorausberechnet, die Vorräte checkt und in vorauseilendem Befehlston nachbestellt. Das Ding schlägt uns nicht vor, schneller an die Arbeit zu gehen, weil in der Dusche das Wasser langsam kälter wird, es triggert nur unsere Unlust, die sich allmählich in eine emotional unterfütterte rationale Verhaltenswahl hineinsteigert. Zunächst wird es nur der Kühlschrank sein, der sich im Netz der Dinge selbst auffüllt, irgendwann ist es ein Angebot, das der Kunde gar nicht bestellt hat, und ob er sich nun daran gewöhnt oder nicht, es bleibt auf der Liste der zu konsumierenden Produkte. Es wird sich steigern, denn dazu sind Mechanismen da, und was aus der Reaktion auf das Empfehlungsmarketing lesbar ist, wird uns nicht einmal nach langer Analyse klar. Mit der Kontrolle der Informationsinfrastrukturen, die ähnlich wie die Metadaten wichtiger sind als der eigentliche Inhalt, kapern sich technische Systeme Macht über die Masse, die sie nach Belieben durch Werbung, Propaganda, Willensbeeinflussung und Auswahlbeschränkung in jede beliebige Ecke ihres kleinen Stübchens namens Freiheit lotsen kann. Das Verhaltensexperiment sind wir, unsere Freiheit ist, dass wir es nicht bemerken wollen.

Es gibt keine künstliche Intelligenz, die den Musikgeschmack, Veränderungen im Hautbild oder Schrittfrequenzen genau genug zergliedern könnte, um Terrorgefahr auszuschließen oder den Wunsch, sich doch keinen neuen SUV zu kaufen – beides für sich gemeinschädliches Verhalten, wenn man nicht gerade Kriegswaffen herstellt. Also so wird der Algorithmus Korrelation als Kausalität werten, da 0,3% der blauäugigen Veganer nach zweimaligen Herzrhythmusstörungen zu Straftaten neigen, und da ist es allemal besser, einen mehr zu beseitigen als statistisch notwendig. Oder zwei. Oder alle. Für eine sichere Gesellschaft darf es keine Denkverbote geben, wenn sie den Gewinn nicht destabilisieren.

Interessant wird es, wenn die marktkonforme Postdemokratie feststellt, dass sich beide Sphären deckungsgleich aufeinander abbilden lassen; wird allgemein akzeptiert, dass Politik das ist, was die Wirtschaft ihr an Raum lässt, und Wirtschaft der reine Daseinszweck der Dienstboten im politischen Geschäft, so wird es gar keinen Anspruch mehr auf Freiheit geben, auf Wissen, Recht oder Leben. Die Mechanik der Verhaltenssteuerung annektiert die politischen Räume und hat bald kein Problem mehr damit, alles auszulöschen, was ihren Börsenwert dämpfen könnte, alle Prognosen gewinnen mit zunehmender Datenmenge an Verlässlichkeit, und wir werden es normal finden: die Kamera auf dem Klo, die zwei Wochen vor der Krebsdiagnose das Ergebnis an die Krankenkasse und den Arbeitgeber schickt, einen Präsidenten, der im TV Dosenbohnen anpreist, und dieses pelzige Gefühl beim Nachbarn, der im Treppenhaus immer so freundlich grüßt. Er hat offensichtlich nichts zu verbergen. Verdächtiger geht’s ja gar nicht.