Mit unbewaffnetem Auge

13 07 2021

„Ich weiß nämlich gar nicht, um wie viel sich der Versicherungsbeitrag erhöht.“ Herr Breschke gab mir den Brief. „Da müsste es stehen, aber ohne meine Brille kann ich es einfach nicht lesen.“ Ich warf einen Blick auf das Schreiben. „Und Ihre Frau, könnte die Ihnen nicht helfen?“ Er schüttelte den Kopf. „Sie weiß auch nicht, wo die Brille liegt.“

Nein, der pensionierte Finanzbeamte hatte noch keine geistigen Ausfallerscheinungen, jedenfalls nichts, das nicht auch bei anderen Menschen seines Alters regelmäßig vorkäme. Bis auf ein paar ganz harmlose Marotten, an die man sich als Gast und Freund schnell gewöhnt hatte, kam nichts vor, nur seine Sehhilfe, genauer: die Lesebrille ging ihm von Zeit zu Zeit verlustig und tauchte an merkwürdigen Orten wieder auf. Seine leichte Vergesslichkeit ließ ihn nun auch diese Fundorte wieder vergessen, so dass es eines gewissen kriminalistischen Spürsinnes bedurfte, um eine Art von Mustererkennung zu entwickeln, mit der sich die Augengläser im Haus finden ließen. Jedenfalls hatte mir dies mehrmals geholfen, die Brille zu entdecken.

„Gestern haben Sie also ferngesehen“, stellte ich fest. „Bis zehn“, bestätigte Horst Breschke, „dann habe ich mir noch eine Tasse Tee aufgebrüht, und dann bin ich zu Bett, weil Bismarck auch schon im Körbchen lag.“ Hier war das gesucht Objekt also nicht beteiligt gewesen; der Hausherr pflegte sich auch zu nachtschlafenden Zeiten ganz ohne Brille einen Tee aufzugießen, er las nicht im Bett, meist blieb die Brille neben der Fernsehzeitschrift oder auf dem Beistelltischchen neben seinem Sessel liegen, bis er sie am folgenden Tag wieder brauchte. „Davor hatte ich allerdings aus dem Nähkörbchen eine Schere genommen, weil der Faden aus dem Hemdknopf so stark abstand – ich musste das aus der Nähe sehen, sonst hätte ich am Ende noch den Knopf abgeschnitten.“ Flugs griff in das Körbchen, das neben dem Sofa stand, doch die gewünschte Brille lag nicht darin. Entweder hatte er sich den Faden mit unbewaffnetem Auge abgeschnitten, mit der Fernbrille, oder seine Erinnerung trog ihn. So kamen wir nicht weiter.

„Ich war im Keller“, fiel ihm ein. „Meine Frau wollte, dass ich eine Dose mit eingelegtem Hering hole, vielleicht…“ Schon befand ich mich auf der Treppe ins Tiefgeschoss, da dämpfte Herr Breschke meinen Elan. „Wir hatten nur noch eine Dose, also musste ich auch nicht nach dem Datum schauen, und sie stand auch gleich links auf dem obersten Regal.“ Sicherheitshalber hatte ich doch den ganzen Weg auf mich genommen; eine kleine Spur im Staub an der angegebenen Stelle zeigte an, dass vor nicht langer Zeit dort eine Dose gestanden haben musste. Jedenfalls war dies auch mit bloßem Auge zu erkennen, sogar im funzeligen Kellerlicht, das die vollgeräumten Stellagen kaum erreichte.

„Denken Sie scharf nach“, forderte ich ihn auf. „Wann haben Sie zuletzt das Auto bewegt?“ „Letzte Woche“, überlegte er, „Mittwoch habe ich meine Frau zum Frisör gefahren, danach war ich beim Gärtner, und auf dem Rückweg habe ich meine Frau wieder abgeholt.“ Auch das schied aus, weil er am Wochenende die Sonntagszeitung gelesen und die Abrechnung des privaten Haushaltsbuches vorgenommen hatte, beides Tätigkeiten, bei denen die Lesebrille unerlässlich ist. „Das Kreuzworträtsel habe ich aber erst am Montag gelöst.“ So näherten wir uns der Wahrheit Stück für Stück, wie auf einer ziemlich komplizierten Schatzsuche.

Die üblichen Fundstellen, Bücherregale, der Küchenschrank, das Telefontischchen im Flur, sie blieben alle ergebnislos. Nur zur Vorsicht hatte ich den Garten inspiziert, falls sich hier auf dem Tisch oder auf dem kleinen Mauervorsprung, der zur Kellertreppe führte, die Brille anfinden sollte. Aber auch das blieb erfolglos, ebenso Bismarcks Korb, der neben der Decke, einem Kissen und dem fest schlafenden Hund nichts enthielt. „Vielleicht kann er die Brille ja finden“, überlegte Herr Breschke. „Die Frage ist nur“, antwortete ich, „woran er die Fährte aufnehmen soll.“ Auch das wussten wir nicht zu beantworten, es blieb schwierig. „Nach dem Kreuzworträtsel kam die Post“, fiel Breschke ein, „da habe ich den Brief geöffnet und hatte nur die erste Zeile gelesen, dass die Versicherung teurer wird.“ „Wo haben Sie das denn gelesen?“ Er kratzte sich am Kopf. „Das muss in der Küche gewesen sein, aber da hatte ich die Brille sicher noch auf.“ Ich hatte eine Idee. „Lassen Sie Bismarck doch an der Fernbrille Witterung aufnehmen.“ Er sah mich skeptisch an. Vielleicht war der Gedanke doch nicht so klug, aber irgendwo musste man schließlich mit der Suche ansetzen. Wenn es nur irgendetwas gäbe, was gleichzeitig mit Herrn Breschke und seiner Lesebrille zu tun hätte…

„Das Etui!“ Breschke war erstaunt. „Dass wir darauf nicht längst gekommen sind!“ Der Plan war so einfach wie genial: Bismarck würde an dem Etui schnuppern und uns zur Brille führen. „Exzellent“, jauchzte Herr Breschke, „jetzt müsste ich nur noch…“ Ich runzelte die Stirn. „Sie wollen mir jetzt nicht auch erklären, dass Sie nicht wissen, wo das Brillenetui liegt?“ Er dachte angestrengt nach und öffnete die Tür zum Arbeitszimmer. Dort lag das ersehnte Objekt, ein tiefrotes Lederfutteral, direkt darunter der zum Versicherungsbrief passende Umschlag. Die Brille steckte ordnungsgemäß in diesem Etui. Horst Breschke hüstelte, dann setzte er sich die Lesebrille auf. „Na“, sagte er, „das ist ja noch mal gut gegangen.“ „Dann können Sie jetzt ja in Ruhe den Brief studieren.“ Herr Breschke starrte auf den Teppich. „Wenn ich nur wüsste, wo ich den hingelegt habe…“