Der Teppichschaum verhielt sich vorschriftsgemäß: er schäumte, und dies auf dem Teppich. „Das geht bestimmt nicht raus“, grummelte Anne. „Und wir haben den Teppich im letzten Winter erst ganz neu verlegen lassen.“ Ich shampoonierte und wischte und tupfte, um die rostrote Auslegeware nach dem Kontakt mit einer Schicht Buttercreme nicht noch mehr in Mitleidenschaft zu ziehen.
„Zum Glück ist nicht auch noch ein Teller dabei entzwei gegangen“, quetschte Luzie am Kuchen vorbei. Sie saß mit dem anderen Stück hinter dem Empfangstresen, vielmehr mit dem, was von der Cremeschnitte noch übrig war. Das Corpus delicti – irgendetwas Deliziöses war den Überresten aber nicht mehr anzusehen – hatte Anne auf dem Pappträger ins Besprechungszimmer zu balancieren versucht, bis beides ins Rutschen geraten war und der Schwerkraft folgte. Ein Teller hätte diesen Sturz sicher nicht heil überstanden. So blieb es also beim Beseitigen der Kuchenreste. „Sie hat es nämlich wieder gesagt“, knurrte Anne. „Jedes Mal, wenn ich irgendetwas in der Hand habe, sagt sie es.“ Ich richtete mich halb auf. „Wir würden der Lösung dieses schwierigen Falls näher kommen, wenn Du uns verraten würdest, worum es sich handelt.“ Das mit dem schwierigen Fall, eigentlich war es ja ein schmieriger, hatte die Laune der Rechtsanwältin jedenfalls nicht verbessert, und jetzt war ich an der Sache mitschuldig. Was soll man da machen.
Anne wischte sich noch einen kleinen Rest vom Ärmel, vermutlich Buttercreme, und wollte das Taschentuch in den Küchenmülleimer werfen, da tönte es schon hinter ihr: „Vorsicht mit dem…“
Natürlich hatte Anne noch nicht einmal die Tür hinter sich geschlossen, als sie auch schon beim Verlassen der kleinen Abseite mit dem Ärmel an der Klinke festgehangen war. Ein kurzer, heftiger Ruck am rechten Ärmel, dann sprang der Knopf ab und kullerte über den einigermaßen cremebefreiten Teppich des Eingangsbereichs. Ein Moment der Stille, in dem Luzie sie entgeistert ansah, führte zu einem nur um so heftigeren Ausbruch auf Annes Seite. „Ich hatte es doch ausdrücklich gesagt“, schrie sie, „ich will diese ständigen Ansagen nicht mehr haben!“ So hatte ich die beiden noch nicht erlebt; normalerweise waren die Juristin und ihre langjährige Bürovorsteherin, die nicht ohne Grund mit luziefr zeichnete, ein Herz und eine Seele. „Jetzt beruhigen wir uns erstmal“, mahnte ich, „und dann sprechen wir in aller Ruhe über die Situation und wie wir sie gemeinsam verbessern können.“ Luzie hob wie ertappt die Hände.
„Es ist jedes Mal dasselbe“, rief Anne aus, „ich nehme einen Aktenordner in die Hand, da höre es ich schon hinter mir: ‚Vorsicht!‘“ „Und dann?“ Sie stampfte energisch mit dem Fuß auf. „Dann lasse ich ihn natürlich vor Schreck fallen, und wenn ich Pech habe, fliegen dabei sämtliche Papiere raus.“ Ich runzelte die Stirn. „Kann es sein, dass Du in letzter Zeit ein bisschen unvorsichtig bist?“ „Ich sage ja schon gar nichts mehr“, maulte Luzie. Anne nahm den Kaffeebecher vom Tresen und drehte sich um. „Ich will heute nicht mehr gestört werden, es gibt für die Verhandlung gegen Pick-Lepinski noch jede Menge Arbeit.“ Luzie starrte sie mit einem hypnotisierenden Blick an, und da geschah es: Anne ließ den Becher fallen, er glitt ihr einfach aus den Fingern. Zum Glück ergoss sich der Kaffee just auf die Stelle, die vom Kuchen ohnehin schon getroffen worden war. „Ich habe nichts gesagt“, wimmerte Luzie, „diesmal habe ich aber wirklich kein Wort gesagt!“ „Du wolltest aber“, schrie Anne, die in ihrem Verhalten zumindest den Vorsatz entdeckt zu haben schien. „Moment“, griff ich ein. „Hier haben wir es doch nun wirklich mir einem eklatanten Mangel an Beweisen zu tun, meinst Du nicht?“
Anne war eingeschnappt. Sie hatte das letzte Blatt von der Küchenpapierrolle abgerissen und rieb den glücklicherweise unbeschädigt gebliebenen Becher trocken. „Sie weiß, dass ich weiß, dass sie etwas sagen will.“ Luzie verdrehte die Augen. „Sie braucht es also gar nicht mehr zu sagen, weil ich ja weiß, dass sie etwas sagen will – und schon lasse ich den Becher fallen.“ „Schopenhauer hätte seine helle Freude an ihr gehabt“, knurrte Luzie und nahm die leere Papprolle vom Tresen. „Sie hat damit angefangen“, begehrte Anne auf. „Das ist jetzt eine selbstprophezeiende Erfüllung.“ „Leute“, ermahnte ich sie. „Wir passen alle mal ein bisschen besser auf, was wir tun, sind etwas vorsichtiger und legen nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Wie soll das denn hier noch enden, wenn wir ständig mit Misstrauen auf den anderen sehen?“
Mein Vorschlag zeigte Wirkung. Luzie füllte die Büroklammern in ihrem kleinen Schälchen auf der Tischplatte nach, Anne zog ganz ohne Kommentar oder Bedenken einen Ordner aus dem Schrank, in Ruhe die Verteidigung ihres Mandanten zu planen. Im Nu war die ganze Anspannung der vergangenen Tage dies auch: vergangen, in Luft aufgelöst, und keiner bezichtigte den anderen der psychologischen Kriegsführung. Der Fleck auf dem Teppich würde trocknen, alles würde sich beruhigen, noch war der Tag schön. Das Telefon klingelte. Luzie nahm ab. Während sie eine komplizierte Terminabsprache durchführte, konnte ich natürlich nicht fragen, wo das Küchenpapier gelagert wurde, das nun in der dafür vorgesehenen Halterung fehlte, also sah ich mich in der Abseite um und entdeckte die Packung oben auf dem Hängeschrank. Neben dem Altpapier lehnte ein faltbarer Tritt an der Wand, den ich flugs aufklappte, um mich draufzustellen. „Vorsicht“, rief da Anne durch die Tür. „Du fällst noch runter!“
Satzspiegel