Es war später Nachmittag, Siebels musste schon eine Menge schlechten Automatenkaffee gehabt haben. „Bedaure“, murmelte er an seinem Zahnstocher vorbei, „sie wollte den Termin auf jeden Fall noch heute.“ So standen wir etwas verloren an der Pförtnerloge des Studiogeländes und warteten, bis jemand uns durchwinken würde.
Spotzke war noch nicht lange im Sender, und so geschah es tatsächlich, dass Siebels, die graue Eminenz des deutschen Unterhaltungsprogramms, ihm den Weg in die Kantine zeigen musste. „Im Grunde genommen haben wir ja eigentlich nicht nur ein Ziel vor Augen, das wir miteinander verbinden wollen.“ Ich schloss reflexartig die Augen; Siebels musste es, obwohl er hinter mir stand, bemerkt haben. „Kommen Sie zum Punkt“, warf er ein, „Sie hatten uns ja ausführlich mitgeteilt, dass Sie keine Zeit haben.“ Spotzke war verwirrt, wahrscheinlich nicht verwirrter als sonst, aber immerhin sah man es ihm an. „Wie gesagt, wir suchen Experten, und wir hatten gehofft, dass Sie und dabei helfen würden.“
Sein Blick, der mich mehr als deutlich musterte, verhieß nichts Gutes; offenbar hatte mich Siebels nicht ohne Grund mitgenommen. „Sie kennen sich doch mit einigen Sachen aus, hat man mir gesagt.“ Ich wand mich. „Sachen“, brachte ich hervor, „was denn für Sachen?“ „Naja“, säuselte Spotzke, „so Sachen eben – was man im Fernsehen halt braucht für ein interessantes Programm. Politik, Wirtschaft, Verbrechen.“ Siebels runzelte die Stirn. „Die Übergänge sind da ja fließend.“ „Und wie soll ich Ihnen da helfen?“ Spotzke deutete eine leichte Verbeugung an. „Hin und wieder senden wir einen Kommentar“, erläuterte er, „eine Einschätzung zur Lage, kurz: eine Expertenmeinung. Und da hatten wir eben an Sie gedacht.“
Ganz zufällig befand sich ein Mikrofon sowie ein Aufnahmegerät in der Kantine, und wie von ungefähr näherte sich auch eine Tontechnikerin aus der gegenüberliegenden Ecke, als Spotzke ihr zunickte. „Wir wollen doch diese Gelegenheit auch gleich nutzen“, schwafelte er. „Sie könnten uns in ein paar knappen Sätzen die politische Situation beschreiben, in der wir uns gerade befinden.“ Mit so einer präzisen Aufgabenstellung hatte ich nicht gerechnet, deshalb fragte ich noch einmal nach, was genau er sich unter der politische Situation denn vorstellte. „Erklären Sie einfach“, drängte er, „das können wir hinterher dann immer noch schneiden.“ Die Technikerin drehte an zwei Knöpfen und schob einen Regler nach oben. „Die Situation ist aktuell angespannt“, begann ich, „Europa ist auf dem Weg in eine…“ „Bisschen mehr“, zischte Spotzke. „Und bitte!“ „Wir befinden uns aktuell in einer sehr stark angespannten Gesamtsituation, die Europa keinen anderen Weg mehr lässt als eine entschiedene…“ „Nein!“ Er winkte ab. Die Tontechnikerin drückte auf die Pausentaste. „Ich meinte doch nur: etwas lauter, aber ansonsten war es schon ganz gut.“ „Und wenn es nun um Amerika geht, wollen Sie das dann auch senden, wenn es gar nicht dazu passt?“ Er hob beschwichtigend die Hände. „Keine Sorge, wir machen eine Sendung über Deutschland, da passt es auch nicht rein.“
Einige Exkurse später über die angespannte Lage der Wirtschaft sowie diverse internationale Spannungen auf dem Gebiet der internationalen Entspannungspolitik fragte ich nach, wie er sich diese Zusammenarbeit denn nun vorstellen würde. „Wir rufen Sie rechtzeitig an“, versicherte er. „Die moderne Technik würde es auch erlauben, dass Sie von zu Hause aus kommentieren – es sei denn, wir könnten Sie für unseren Fernsehsender gewinnen.“ „Sie schicken dann doch hoffentlich einen genauen Überblick über das Thema“, wandte ich ein. „Wie sonst soll ich komplexe politische Sachverhalte ohne einen Überblick über die Nachrichtenlage…“ Doch er schüttelte den Kopf. „Vergessen Sie das.“ Ich verstand erst nicht. „Zeitung lesen und ab und zu das Radio anschalten, das reicht meistens für die Kommentare aus. Wir sagen ihnen dann Bescheid, ob wir dreißig Sekunden Politik oder zwanzig über die Börsenentwicklung benötigen.“
Siebels beäugte kritisch seinen Kaffeebecher. „Eigentlich“, merkte er an, „hatten Sie ja nur für die Kulturabteilung gesucht.“ Spotzke nickte. „Richtig, da sind die Preise in letzter Zeit auch ein bisschen verrutscht, das heißt, eigentlich zahlen wir da gar nichts mehr.“ Ich wollte mich schon geräuschvoll zum Gehen wenden, da griff er nach meinem Arm. „Wir können es ja mal ausprobieren, der Ton läuft einfach mit. Klavierkonzert von Jorge Kempinski?“ Ich räusperte mich. „Der Solist überzeugte in den Solopassagen durch eindrucksvollen Anschlag.“ Spotzke begann zu strahlen. „Vernissage von Lola Bumsheim.“ „Wo?“ „Galerie Dingsbums“, warf Siebels ein. „Das Werk lebt von seinem nahezu unverstellten Ausdruck.“ Er klatschte in die Hände. „Und nun noch eine neue Ballettinszenierung vom Tanztheater Bad Gnirbtzschen.“ „Die Tanzsprache der Compagnie wird dominiert vom Willen zum eindrucksvollen Ausdruck.“
Siebels hatte es gerade noch verhindern können, dass der Ressortleiter mir um den Hals fiel. So kam ich mit einem nicht besonders lukrativen, dafür aber auch nicht unbedingt anspruchsvollen Nebenjob aus der Sache raus. Vermutlich würde ich schon bald einen Anruf erhalten, um eine Opernpremiere oder einen Erdrutsch zu besprechen. „Ich würde zu gerne wissen, wie dieser Laden bisher Experten besorgt hat.“ Siebels spie das Streichholz im hohen Bogen in den Papierkorb. „Wenn Sie Zeit haben, erzähle ich Ihnen, wie man hier Bundeskanzler wird.“
Satzspiegel