Anne schlug die Kofferraumklappe zu. „Wenn ich diesen Wicht in die Finger kriege, kann er unter dem Teppich Trampolin springen!“ Ich entfaltete den Korb, suchte nach einem Chip für den Wagen und schritt über den Parkplatz. „Er wird sie sitzen lassen“, knurrte sie. „Und dann wird er mich kennenlernen!“ Kurz nach Feierabend war es im Supikauf richtig voll. Die perfekte Zeit, um schlechte Laune zu haben.
Annes Bekanntschaft mit Max Hülsenbeck, dem aufstrebenden Juristenkollegen, war recht stürmisch gewesen, lag aber schon einige Jahre zurück. Nach einigen Anzeichen offensichtlicher Untreue hatte sie ihn aus ihrer Kanzlei und sowie allen privaten Zugängen entfernt. Sie hatte mit ansehen müssen, wie er sich an ihre Freundin, die jüngste Tochter von Staatsanwalt Husenkirchen heranschmiss, um auch sie nach Strich und Faden auszunehmen. „Wenn er sich jetzt auch noch an Breschkes Tochter vergreift, kann er sich einsalzen lassen!“ Wütend schmiss sie Nudeln in den Einkaufswagen, während ich die Regale nach passablem Olivenöl absuchte.
Da packte sie mich am Arm. „Wenn man vom Teufel spricht“, grinste ich. Tatsächlich stand dort Hülsenbeck, gedankenvoll in die Tiefkühlauslage starrend, während schon Dosenbier und Chips in seinem Korb sich stapelten. „Halt mich zurück“, keuchte Anne. „Sonst haue ich diesem Drecksack den verdammten Einkaufskorb in seinen…“ „Aber nicht doch“, beruhigte ich sie. „Meinst Du, er wird sich noch an mich erinnern?“ Unsicher sah sie mich an. „Was hast Du vor?“ Ich gab ihr meinen Zettel. „Es steht alles drauf, wir rechnen nachher ab.“
Tatsächlich erinnerte sich Hülsenbeck nicht an mich, wie ich plötzlich suchend neben ihm stand und auf die haltbarkeitsbedingt preisreduzierten Gefrierbackwaren guckte. Er nahm mich gar nicht wahr. Zögernd schob er den Deckel beiseite und griff nach einem Apfelstrudel. Max sah den Kuchen an, wie man im Heimwerkermarkt einen billigen Akkuschrauber betrachtet: das Ding war sein Geld nicht wert, würde aber schnelle Befriedigung liefern und war deshalb schon so gut wie gekauft. „Ihre Großmutter, oder?“ Er zuckte leicht zusammen. Ich sah ihn mit melancholischem Lächeln an. „Ist bei mir auch so, ich habe diese Erinnerungen immer noch.“ Vermutlich würde er gleich irgendeine Frage stellen. Ich musste ihm zuvorkommen, doch nein: er suchte angestrengt nach dem Preis. Ein knallroter Aufkleber verkündete schon, dass auf den Strudel dreißig Prozent Nachlass gewährt wurde.
Alles, was man über Breschkes Tochter wissen musste, konnte man an den Hinterlassenschaften ihrer Tätigkeit als Reiseleiterin entnehmen, die sich im Keller ihres Elternhauses stapelten. Neben dem ausklappbaren Weihnachtsbaum, der so natürlich war, dass er gleich beim ersten Auspacken das ganze Wohnzimmer vollgenadelt hatte, lagerten hier schmelzbares Mikrowellengeschirr und Dosenbrot aus der Zeit Ferdinands II. Nur die beiden Flaschen ostukrainischen Wodka hatte ihre Perle Sofia Asgatowna ihrem Bruder überlassen, der bis heute keinen besseren Pinselreiniger kennt. Wenn der Preis stimmt, sagt man, achtet sie nicht auf Qualität.
„Ich weiß nicht recht“, murmelte Hülsenbeck. „Es ist für eine ganz besondere Frau“, antwortete ich im Brustton meiner Überzeugung, „und glauben Sie mir, sie muss es wirklich wert sein.“ Vielleicht hatte ich ihn damit überfordert; schon machte er Anstalten, die Truhe wieder zu öffnen. „Sie will sich nicht mit Marmorkuchen zufriedengeben, am Ende gar mit Keksen – es muss ein Erlebnis sein, das Sie beide emotional verbindet.“ Er begann mich zu verstehen. „Ich wollte sie morgen Nachmittag zum Kaffee einladen“, erklärte er. Seine Stimme war außergewöhnlich nervös. „Ich dachte, vielleicht ist ein Stück Kuchen…“ Ich packte ihn am Arm. „Können Sie sich mehr emotionale Verbindung zwischen zwei Menschen vorstellen?“ Hülsenbeck schluckte. „Das ist eine einmalige Stunden in Ihrem Leben, glauben Sie mir!“ Er drehte den Strudel hin und her. Jetzt musste ich den entscheidenden Stoß führen. „Ich frage Sie ungern, aber: ist sie wirklich die Richtige?“ Er war vollkommen verwirrt. „Wenn sie nämlich nicht die Richtige ist“, fügte ich fast verschwörerisch hinzu, „wie soll sie dann in einem so entscheidenden Moment begreifen, dass es Ihnen um eines der tiefsten Gefühle geht – Apfelstrudel, die wirklich wichtigen Erinnerungen…“ Von mir selbst völlig ergriffen brach ich ab. Was würde Max Hülsenbeck jetzt tun mit dem kalten Knochen, der sich laut Packungsaufdruck in eine verführerische Köstlichkeit verwandeln würde, sobald man ihn in den vorgeheizten Backofen schöbe? Ich lächelte, doch meine Augen umflorte eine geradezu zuckrige Melancholie. Er zitterte. Entschlossen riss ich den Deckel auf. Es gab passables Vanilleeis, nicht ganz so passables Vanilleeis sowie etwas, das laut Lebensmittelrecht als Vanilleeis in Verkehr gebracht werden durfte. Ich nahm hastig eine Packung und drückte sie ihm in die Hand. „Machen Sie keinen Fehler“, brachte ich mit erstickter Stimme hervor und drehte mich um.
„Irgendwas mit Honig“, moserte Anne, „aber ich konnte Deine Schrift natürlich mal wieder nicht lesen.“ Sie hielt mir den Zettel hin. „Seife“, las ich. „Handwaschseife mit Mandelextrakt und Honig, es macht aber nichts, ich habe noch einen kleinen Rest zu Hause.“ Sie schnallte sich an. „Und was war das mit den Erinnerungen?“ „Ach, nichts.“ Während ich mich anschnallte, öffnete Anne die Fenster. „Wenn Frau Breschke für eins seit fünfzig Jahren berühmt ist, dann für ihren Apfelstrudel. Wer den einmal gekostet hat, ist für alles andere verloren.“
Satzspiegel