Gernulf Olzheimer kommentiert (DLXXXVIII): Der abschreckende Sozialstaat

29 10 2021
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Wer immer in diesem Land mit dem Konzept des aktivierenden Sozialstaates konfrontiert ist, der weiß um den Zauber, der dem Ermessensspielraum einer Behörde innewohnt. Ausgedient hat Hilfe zur Selbsthilfe, an ihre Stelle tritt autoritäre Fürsorge, die mit intensiver Arglist dem Kunden – Bürger ist man nur, wenn man seine Rechte nicht in Anspruch nimmt – klarmacht, dass er als Schadenfall gilt. Die Hauptaufgabe der Gesellschaft ist so auch nicht mehr Integration und Qualifikation, sonder nur noch Aufdecken mutmaßlichen Missbrauchs, wie er in der Schicht der Herrschenden offensichtlich normal ist, sonst würde man ihn nicht in jeder Situation wie selbstverständlich mitdenken. Du kriegt keine Chance, sagt die Steuerungsmacht, also nutze sie. Der neue Regelfall ist der abschreckende Sozialstaat.

Haben sich gerade in jüngerer Zeit Brüche in Konjunktur und Arbeitswelt ereignet, die Menschen den Boden unter den Füßen wegrissen, so trafen die angeblichen Modernisierungen am Arbeitsmarkt sie als institutionalisierte Abwertung von Bedürftigkeit, wie sie der neoliberale Grundriss erfordert, um aus Opfern Täter zu machen, während man dennoch auf ihren herumregiert. Wer in dieser Gesellschaft nicht die Verwertbarkeitskriterien erfüllt, gilt bereits als verdächtig, sie nicht erfüllen zu wollen. Dabei wird mutwillig unterschlagen, dass einerseits das System nur funktionieren kann, wenn es genug disponible Arbeitskräfte als Druckmittel gibt, dass es aber andererseits durch fehlerhafte Voraussetzungen von Anfang an aussiebt, wer für die Rolle als Dropout vorgesehen ist; Armut und Bildungsmangel schon im Jugendalter reproduzieren die Verhältnisse, die sich verfestigen und die Abhängigkeit von einem als Last bezeichneten Sozialstaat nie durchbrechen.

Dazu kommt überbordende Bürokratie, die den ohnehin schon verschwiemelten Prozess durch eine Papierflut biblischer Dimension aufbläht, so dass am Ende weder Verwaltungsapparat noch Opfer die Auswirkungen ihres Verzögerungsgewürges im Auge behalten können – jeder Antrag auf Erteilung der Bewilligung des Darlehens zur Reparatur einer Waschmaschine, die nicht einmal in reiner Existenz dem Antragsteller bewilligt würde, degeneriert zur Farce, wenn in der Zwischenzeit unter zehn Pfund Briefpost der Zweck beerdigt wird. Wer je diese Gummibaumgärtner bei der Förderung sinnfremden Belegtourismus durch die Etagen eines Amtszirkus beobachten musste, wird von der Entdeckung der Langsamkeit überrollt in raumübergreifende Trauer sinken und freiwillig verseifen, bevor er durch ein ohne Unterschrift gültiges Schreiben aufgefordert wird, selbiges eigenverantwortlich im Rahmen der Mitwirkungspflicht zu tun. All das verhüllt dürftig, dass Erzeugen, Vergrößern und Fortsetzen von unüberblickbarem Unfug die einzige planbare Tätigkeit der Administrationsorgane ist, die sich zudem zuverlässig als größte Kostenfalle entpuppt. Würde man nicht drei Sachbearbeiter einen halben Tag lang mit der Berechnung einer Rückzahlung in Höhe von zehn Cent beschäftigen, die hernach in drei Stufen schriftlich bis zur Pfändung betrieben wird, diese Welt versänke deutlich seltener in den Schlaglöchern ihres eigenen Niveaus.

Zwischen vertreibender Hilfe, die Überlastung als Kriegswaffe gegen Formen der Armut einsetzt, und Verfolgungsbetreuung, die eine ganze prekäre Schicht kriminalisiert, weil die sich für die falsche Herkunft entschieden hat, vollzieht sich planvoll eine Enthumanisierung, die den Bürger nur noch als Kostenfaktor sieht, als angebliches Gegenbild zum Leistungsträger, dem man allerdings mit Zumutungen wie Steuern und Abgaben nicht auf die Plomben gehen darf, da er sonst sein Kapital auswandern lässt. Das Kapital, das ist die frohe Botschaft, besitzt immerhin noch Freizügigkeit. Die Politik wird weder Kosten noch Mühen scheuen, ihm Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Nur selten gerät das ohnehin windschiefe Werteraster ins Kippen, beispielsweise bei nicht Sesshaften, bei denen sich die Frage stellt, ob man sie durch den Zwang zur Arbeitsaufnahme besser demütigt oder durch die Pflicht, zunächst einmal eine Bleibe zu organisieren – hier funktioniert Eigenverantwortung noch bestens, wenn man davon ausgehen kann, dass sie keine Folgen zeitigt.

Bestimmt brauchen wir auch ein Diktat des Gesundheitswesens, uns anständig zu ernähren, da sonst das Rollkommando den Kühlschrank leert. Die bürgerliche Freiheit zur produktiven Gestaltung der eigenen Existenz greift ja immer erst oberhalb der Grenze, ab der auch Ordnungswidrigkeiten als Witz gelten. Sind sie doch dafür verantwortlich, dass wir nach der Lektüre der Zeitung erfahren, wie dieses Land durchschnittlich im Wohlstand lebt, noch nie so reich war und sich gleichzeitig vor den ärgsten Prüfungen durch Grundrechtsmissbrauch in Acht nehmen muss. Offensichtlich liegt die höhere Gesellschaft entspannt am Abgrund und schlürft Champagner aus den Briefumschlägen, in denen die Ablehnungsbescheide der Bundesagentur für Arbeit versandt werden. Terra incognita: Arbeit. Mit dem Leistungsmissbrauch kennt sich diese Schicht ja bestens aus.