Gernulf Olzheimer kommentiert (DXCVIII): Das Geknipse

21 01 2022
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Anzeichen ästhetischer Selbstverwirklichung gab es früh. Schon der Cro-Magnon-Hominide beschränkte sich bei der Ausstattung seiner Höhlen nicht auf kultische Großformate, wie sie etwa in der Sixtinischen Kapelle bis heute Touristen aus aller Welt anziehen, er folgte ganz der Inspiration des Augenblicks. Jetzt ein Stück Protein, dachte der Kreative des späten Pleistozän, und flugs hatte er mit farbigen Fingern die so formschön wie auch schmackhafte Säbelzahnziege an die Wand gemalt. Von hier bis zum durchschnittlichen Honk, der sein Schnitzel fotografieren muss, weil man ihm sonst dessen Existenz nicht abnimmt, ist nur ein kleiner Schritt, der vordergründig mit dem Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduktionsfähigkeit zu tun hat. Wenn es denn um Kunst ginge bei diesem ganzen Geknipse.

Seit Erfindung der Box als frei verkäuflichem Billigapparat, dem noch lange der Ruf vorauseilte, albernes Spielzeug zu sein, stolpern Pausenclowns mit Kleinkameras durch ansonsten schmucke Städte und Museen, Tier- und Biergärten sowie alles, was sich schwimmend, fliegend oder vom Boden aus erreichen lässt. Sie drückend lachend ihren Finger in den Auslöser rein, schwiemeln sich ein Dutzend Abbildungen zurecht von Tauben im Rinnstein, dem gelben Sonnenschirm über dem Eiscafé in Bad Gnirbtzschen oder dem kleinen Flüsschen nahe der Pension in der Badgasse, wo der Großonkel schon vor fünfzig Jahren einmal übernachtet haben muss. Unvergessliche Momente wie die Hochzeit von Dings und dieser einen da, wie hieß sie noch, aber das Kind war schon da, und die Taufe ist auch auf dem Film, werden erst auf Celluloseacetat gebannt, in handliches Format für ein Einklebealbum oder die Geldbörse auf allmählich gilbendes Papier mit leicht abknickbaren Ecken transformiert und landen schließlich in der zweituntersten Staubschicht, die während der Verschmelzung mehrerer Seiten auf niedermolekularer Ebene zu einem Festkörper wird, der jeder mechanischen Verformung abhold nicht mehr zu benutzen ist und im Container endet. Es heißt, Heisenbergs Unschärferelation sei Produkt eines Familienfotobuchs, das damals noch nicht im Internet bestellt und originalverschweißt dem Müll zugeführt wurde, sondern durch Photoneneinfall in Verwendung gebracht werden sollte, was direkt zur physikalischen Katastrophe führte.

Das Problem ist weniger die qualitative Beurteilung des Outputs, der bei vernünftiger Beherrschung der handwerklichen Mittel sowie beherztem Wegschmeißen sämtlicher Fehlversuche nicht einmal den Vergleich mit der professionellen Bilderzeugung scheuen muss, immer vorausgesetzt, es handelt sich um Waffengleichheit: der Irrglaube, man erlange durch Erwerb und Mitführen einer Ausrüstung im Wert eines fabrikneuen Spähpanzers die höheren Weihen eines qualifizierten Fotografen, ist ungefähr so weltfremd wie der Plan, durch die Anschaffung eines Konzertflügels die Ausbildung zum Pianisten zu sparen. So produziert auch der Berufslichtbildner allerlei experimentellen Schrott bar jeglicher Brillanz, ödes Zeug und fehlbelichtete Spreu, die aber dank digitaler Möglichkeiten nicht mehr in die mühselige Korrektur gehen, sondern gleich in den Orkus. Die Lernkurve ist steil, es gibt allerhand wohlmeinende Ratgeber, und spätestens bei ‚Sonne lacht – Blende 8‘ merkt dann auch der obenherum eng gedübelte Hutträger, dass es sich beim Bildermachen selten um Hexenwerk handelt, sondern vielmehr oft um pure Technik.

Es ist einerseits die Wahl des Motivs. Neben der üblichen Alltagsdokumentation, die angesichts der Anzahl von Bildern belegter Brötchen klar Abstand nehmen lässt von der These, dieses Material werde aus historisch-forensischen Beweggründen in die Linse gedrückt, sind es Freizeitaufnahmen aus dem Sockelbereich des Banalen: Kevin mit Eiffelturm, Kevin am Hotelpool, Kevin mit belegtem Brötchen. Auch paartherapeutischen Ansätzen könnte man zustimmen, wären die Abbildungen signifikanter Anderer nicht tiefenschärfenmäßig ungefähr in der Kategorie der Brötchenbilder. Wahrscheinlich wird sich der Schöpfer irgendwann nicht mehr an die Reise mit dem Ding da erinnern, aber Hauptsache, er hat dann noch ein Foto davon. Und so sieht es ja auch aus.

Es ist andererseits das Zwanghafte der Belästigung, mit der die gesamte Mitwelt das ewige Geknipse sieht und hört und auf die eigenen Geräte geschickt bekommt, als könnte keiner nur einen Tag ohne Hohlhupe am Hotelpool mitsamt belegter Brötchen überleben. Die Einheit von Subjekt und Objekt perfektioniert den Prozess, für das längst zum Goldstandard der Fotografie gereifte Selfie ist nicht einmal mehr ein nennenswerter Hintergrund notwendig. Mit der Sättigung der Kameradichte ist das Fotografieren zum quasi reflexartigen Vorgang geworden, der jeglichen Anspruch künstlerischer Daseinsäußerung preisgibt. Denn wer würde sich, auch ohne erkleckliche Kenntnisse, mehrmals am Tag in sein kleines Zimmerchen zurückziehen und ein Streichquartett komponieren, auf die Gefahr hin, dass er niemanden findet, dem er damit auf die Plomben gehen kann?