„Die 417 hat aufgehört zu schreien? Das ist okay, Hauptsache, sie hört nicht auf zu atmen. Dann wäre die Behandlung beendet, und wir könnten ihr keine therapeutischen Maßnahmen mehr in Rechnung stellen. Bereiten Sie schon mal den Aderlass vor.
Natürlich sind wir hier alle approbierte Ärzte, wir haben hoch qualifiziertes Pflegepersonal und einen exzellenten Ruf, was intensivmedizinische Versorgung angeht. Drüben haben wir die normale Station, da werden Sie auch nach allen Regeln der Kunst behandelt. Das mag für Fälle wie Herzinfarkt oder Schlaganfall selbstverständlich klingen, ich würde Ihnen das auch empfehlen, aber wir leben in einem freien Land, es gilt Eigenverantwortung, den Rest können Sie sich ja denken.
Ein Teil der medizinischen Versorgung wird ja bereits erfolgreich an die Bevölkerung delegiert. Sie tragen Sehhilfe, also sind Sie bereits betroffen. Und da wir Versorgung nicht mehr ohne unsere eigene betriebswirtschaftliche Kalkulation betreiben, muss man ja im Sinne der Dienstleistungsgesellschaft, die uns laut Hartz-Reformen zu einem erfolgreichen Staat gemacht hat, durchaus die Kernfrage stellen: wie viel Kohle können wir Menschen, die sich in Lebensgefahr befinden, aus den Rippen leiern?
Hat der 429 die perorale Gabe von Chlorbleiche schon geholfen? Dann räumen Sie das Zimmer frei, wir haben gleich den nächsten Patienten. In dem Fall können Sie auf der Todesbescheinigung gerne vermerken, dass er nicht an, sondern mit Corona verstorben ist. Sie sind jetzt vielleicht ein bisschen überrascht, aber wir nehmen Patientenwünsche sehr ernst. Wir stehen alternativen Therapieformen auch aufgeschlossen gegenüber, und wenn jemand auf die Art auf unserer Station versterben will, dann machen wir das gerne. Dazu ist die Medizin nach Ansicht dieser skeptischen Minderheit ja da.
Schröpfköpfe sind immer gut, das ist für das Gesundheitssystem geradezu sprichwörtlich. Wir weisen in den Behandlungsverträgen natürlich auf die wissenschaftlich nicht bewiesen Wirksamkeit der Methode hin, geben aber zu bedenken, dass die unangenehmen Empfindungen durchaus eine Art Placebo-Effekt hervorrufen. Das ist wie mit dem Rauchen, man fühlt sich ja auch nur entspannt, weil bei Nikotinzufuhr die Entzugserscheinungen kurz nachlassen. Für Skeptiker, beispielsweise Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung oder einem anderweitig funktionierendem Verstand, gibt es den Hinweis, dass die mesopotamische, die ägyptische und die chinesische Medizin diese Therapie auch schon als Standard bei allerlei Gebrechen wie Diabetes, Rheuma, Kurzsichtigkeit oder Schnupfen empfohlen haben. Wir befinden uns durchaus in einer Tradition, die schon viele überlebt haben.
Die 428 hatte einen kurzfristigen Herzstillstand, deshalb haben wir ihr nach dem Wissensstand des Behandlungsvertrags Tabakrauch in den Enddarm geblasen. Zur Wiederbelebung. Wie zu erwarten haben wir jetzt einen langfristigen Herzstillstand.
In einer Gesellschaft, in der man den Patienten die Grundregeln der Humanmedizin vortanzen kann und meist zurückbekommt, dass sie alles besser wissen, müssen Sie irgendwann ein konsistentes Therapieangebot machen. Wir haben uns für die allgemein bekannten Verfahren des Mittelalters entschieden, und das war nicht ganz leicht. Ich als Fachmann weiß zum Beispiel, dass die arabische Welt pharmakologisch erheblich weiter war als der Westen, aber erzählen Sie mal einem besorgten Bürger. Die erste endotracheale Intubation wurde 1543 angewandt, das lassen wir natürlich weg, da es sonst als Lügenmedizin gebrandmarkt würde. Die Kunden finden es authentischer, dass wir ihnen bei Irrsinn den Schädel aufmeißeln.
Der Hausmeister ist schon wieder zu früh dran, wie oft soll ich das noch sagen? Wenn der Kerl wieder den ganzen Flur ausräuchert, kann er sich auf ein Donnerwetter gefasst machen! Ich will auf der Station keine verkohlten Ginsterzweige mehr gegen unruhige Säfte, und er soll seine Pestmaske aufsetzen! Wenn er sich diesmal nicht an die Regeln hält, wird er ab morgen zur Vokalatmung versetzt oder zur Klangschalentherapie!
441 ist ja schon länger hirntot, da half auch kein Detox. Der war eigentlich schon bei Einlieferung vegetativ auf Null, weil er uns gesagt hat, dass die Erkrankung, wegen derer er dann gestorben ist, gar nicht existieren kann, da sein Sternzeichen das nicht zulässt. Interessant. Wir könnten ihn jetzt in die Kühlung verlagern, aber er ist Privatpatient, und da nutzen wir jede Möglichkeit, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Wir wenden gerne experimentelle Verfahren an, wenn wir vorher rausgefunden haben, was wir an Wirkung erwarten können. Reinkarnation ist okay, mit Reiki haben wir im Internet gute Erfahrungen gemacht, und Heilsteine dürfen wir nur nach der üblichen Desinfektion anwenden. Das ist immer noch besser als Geistheilung, weil man da nicht genau weiß, wessen Geist eigentlich geheilt werden sollte. Immerhin haben wir eine Zusammenfassung der Eigenurintherapie mit klassischer Harnschau geschafft: erst guckt sich das die Pflegekraft an, dann können die Patienten mit dem Zeug machen, was sie wollen. Falls das irgendwie biodynamisch wirkt, sagen Sie Bescheid, wir integrieren das in die üblichen Behandlungsmethoden.
Heilhüpfen können Sie haben, gerne auch in konzentrischen Kreisen, mit oder ohne Ohrkerzen, und wir machen dazu anthroposophisches Kratzen auf der naturbelassenen Schiefertafel. Alles kein Problem. Globuli? Entschuldigung, hatten Sie das nicht kapiert? Wir sind Ärzte!“
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