Rollenspielplatz

8 03 2022

Das Gelände war weitläufig. Irgendwann einmal hatte sich hier eine Kaserne befunden, zwei große Verwaltungsgebäude und eine Menge Garagen. Die Klinkerbauten sahen heruntergekommen aus, aber der Schein trog. Schon im Erdgeschoss der Zentrale war eine üppig gestaltete Eingangshalle entstanden, von der aus ein gläserner Aufzug in die Höhe fuhr. Dies also war die Schaltstelle der Macht.

„Fassen Sie nichts an“, bat mich die Leiterin. „Es sieht aus wie Marmor, aber Sie kriegen von diesem billigen Plastik einfach keine Fettflecken ab, ohne den Aufdruck zu beschädigen.“ Eine Dame im Stewardessenkostüm lächelte hinter dem Counter. Sie war, wie mir Frau Bruhn bestätigte, den ganzen Tag damit beschäftigt, hinter diesem Tresen zu sitzen und so zu tun, als würde sie telefonieren. „Es reicht, wenn wir dafür Ein-Euro-Kräfte einsetzen.“ Der Lift ging auch nur bis in den zweiten Stock. „Sie können natürlich auf alle Knöpfe drücken, aber er hält eben schon vorher.“ Ich kniff die Augen zu. „Das sind Plastikblumen und eine Fototapete.“ Sie nickte. „Von unten sieht es aus wie ganz normale Büroetagen, Glastüren, das ganze Programm. Aber mehr als zwei Stockwerke brauchen wir eben nicht für den Mummenschanz.“ Wir stiegen ein.

Im ersten Stock fand ein sehr wichtiges Meeting statt, vielmehr: die drei älteren Herren, die an dieser Gesprächsrunde teilnahmen, kamen sich wichtig vor. „Als hoher politischer Funktionär kann man nur schwer loslassen“, konstatierte Frau Bruhn. „Er hatte es eigentlich schon kapiert, aber wir haben ihn seit gut zehn Jahren regelmäßig als Gast.“ Hinter der Glastür sah man die Teilnehmer heftig mit den Händen gestikulieren. „Worum geht es dabei?“ Sie blickte kurz auf ihre Papiere. „Sie wissen es nicht, aber das ist auch nicht wichtig. Die Tatsache, dass man sie zu einem Meeting einlädt, ist wichtiger.“ Ab und zu bediente sich einer der jungen Männer am Kaffee. Auch sie, wurde mir klar, waren nur als Staffage geordert, Laiendarsteller, die jemanden spielten, der von irgendeinem Institut geschickt wird, um in irgendeiner Sitzung zu irgendeiner Frage mit dem Kopf zu nicken. „Ein bisschen viel Aufwand“, bemerkte ich. Die Leiterin lächelte. „Als Kanzler oder Bundesminister ist man schon mehr gewohnt, normalerweise gibt es großartige Sicherheitschecks, stapelweise Papier, das vorher nicht gelesen und hinterher sofort weggeschmissen wird – wir bedrucken es gar nicht erst, und für die nächste Sitzung lassen wir es gleich in der Mappe drin – und zwischendurch werden sehr wichtige Anrufe von ausländischen Kollegen durchgestellt, die in ein paar Minuten erledigt wären, wenn diese Herren wirklich etwas zu sagen hätten. Aber wir sparen uns dieses Theater.“

Die Herren hatten zu Ende getagt, die Tür öffnete sich, er schritt an mir vorbei: der Mann, der jahrelang die Politik eines ganzen Staates geprägt hatte, eine welkende, wacklige Figur, alles andere als imposant, ein Poseur von milder Lächerlichkeit. Er ging mit zwei Beratern, die wie kleine Hühnchen gebückt hinter ihm trippelten, zum Aufzug, fuhr ins Erdgeschoss und bestieg, man sah es von hier aus, die mit offenem Schlag wartende Limousine. Ein Hausmeister, einer der wenigen richtigen Männer in diesem Etablissement, öffnete die Fenster, lief mit einem Staubsauger durch den Raum und leerte den Papierkorb. Das schwere Auto fuhr an.

Frau Bruhn ordnete ein paar Mappen auf den Konferenztischen. Gerade kam eine Anfrage für ein großes Meeting mit zwanzig Teilnehmern rein. Sie würde die Kaffeevorräte aufstocken müssen, mehr war nicht zu besorgen. „Wir arbeiten effektiv und preisbewusst“, erklärte sie. „Diese Herren haben wir lange genug ertragen, wir müssen nicht auch noch ihr Abklingbecken mit Luxus ausstaffieren. Sie dürfen hier ein bisschen ihr Geltungsbedürfnis ausleben, aber mehr ist nicht drin. Schließlich ist der komplette Laden hier steuerfinanziert, und es gibt durchaus dringlichere Posten.“ Sie schloss die Tür. Einer der Sitzungsteilnehmer zog schnell eine Art Uniform an, die ihn zum Sicherheitsbeamten machte. Der Hausmeister bereitete unterdessen ein anderes Zimmer vor.

Die Liste war gut gefüllt, offensichtlich war das Haus ausgebucht. Frau Bruhn nickte. „Allerdings haben wir immer noch den einen oder anderen Slot, um auf plötzliche Entwicklungen zu reagieren. Stellen Sie sich einmal vor, wenn in der aktuellen Situation eine Talkshow ihre Gäste auslädt, weil ein richtiger Schauspieler mehr zum Thema sagen kann als ein Politikdarsteller – diese Intervention wird in der Regel schnell eingeleitet und geht ohne großes öffentliches Interesse über die Bühne.“ Ich begriff, wie wichtig diese Arbeit doch war. Wahrscheinlich verhinderte dieser Rollenspielplatz eine Menge Konflikte, vielleicht sogar Handgreiflichkeiten, und ganz bestimmt auch Politiker, die plötzlich ohne ein Mikrofon in Reichweite dummen, gefährlichen Schwachsinn von sich geben mussten, um nicht in eine psychische Notfallsituation zu geraten.

Die Limousine fuhr unten am Gebäude vorbei. Offenbar drehte der Chauffeur mehrere Runden, um die Strecke etwas zu verlängern. Dann aber hielt er an und ließ unseren Spitzenpolitiker aussteigen. Er schritt durch die Eingangshalle, vorbei an den Empfangskräften, die ihn noch vor weniger als einer Viertelstunde verabschiedet hatten, und lief auf den gläsernen Aufzug zu. Einer der Referenten knöpfte hastig seine Jacke zu und war wieder im Dienst. Schon schwebte der Staatsmann empor, wie in alten Zeiten. Alles war gut, wenigstens für ihn. Immerhin würden wir für ein paar Tage unsere Ruhe haben von ihm.


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