
Gernulf Olzheimer
Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.
Nicht immer können Menschen zwischen Wahn und Wirklichkeit unterscheiden, zumal nicht dann, wenn diverse Ingredienzien das Urteil erschweren: Drogen, Bewusstseinsstörungen, die Mitgliedschaft in sogenannten Glaubensgemeinschaften. Wer nun hin und wieder Stimmen in seinem Schädel hört, die sich nicht auf den Fernseher im Nebenraum, die Einflüsterungen von Aliens oder Strahlung aus dem Paralleluniversum zurückführen lassen, wird mit den dadurch verursachten Denkstörungen alleine fertig werden müssen, gegebenenfalls schlecht und kurz schlafen, sofern er aber nicht seine Wohnung verlässt, wenig in der Außenwelt ändern, es sei denn, er befindet sich im Besitz einer Schusswaffe, mit der sich derartig gelagerte Konstellationen nicht unblutig, aber rasch und grundlegend ändern lassen. Es liegt daran, dass unser betrachtetes Subjekt die Situation als wirklich definiert hat, folglich wird der Einsatz des Personenlochapparats auch immer auf die Wirklichkeit wirken – der Nachbar, dessen zu lauter TV-Konsum die Sache getriggert hatte, wird nicht im Kopf des Täters versterben, sondern im Treppenhaus. Wir haben es mit einer Konsequenz der Situationslogik zu tun.
Nicht nur die rationale Entscheidung, nach der sich ein zielgerichtetes Tun wie etwa der Kauf von Brot und Seife als notwendig empfundenes Handeln verstehen lässt, auch die nicht vernünftige Aktion wird stets aus dem Selbst begriffen: wem der Kopf friert, der wird sich eine Mütze aufsetzen, und sei es gerade Hochsommer. Man hat Homo rationalis als zurechnungsfähige Größe aus den Resten seiner Triebsteuerung zusammengeschwiemelt, immer im Zweifel, ob er nicht über Willensfreiheit verfügt; man setze ihn im Supermarkt nervtötender Musik aus und halte ihm Alkoholika vor die Nase, schon hat sich das dialektische Verhältnis dessen, was der Neoneandertaler aus freien Stücken an Unvernunft tut, wieder einigermaßen gerade gerückt.
Der Denkansatz der amerikanischen Soziologen Dorothy Swaine und William Isaac Thomas zielt zwar zunächst auf das Verhalten, also nicht nur auf die Entscheidungsfähigkeit handelsübliche Deppen unserer Verbrauchergesellschaft, und auch hier rein auf den mental eher eingedellten Anteil, aber was macht das schon. Schauen wir in der postfaktischen Epoche auf die Leistungsfähigkeit der White-Trash-Protagonisten, die aus Gründen ihr Schuhwerk nur mit Klettverschlüssen verwendungsfähig kriegen, so wundert uns nichts mehr. Wahn und Wirklichkeit verschwimmen bei den im Hohlraum einer flachen Erde Aufgewachsenen in einen Braunbrei, der auch durch regelmäßige Medikamentenausgabe nicht mehr zu korrigieren ist. Wie viel hier genetisch mit Bordmitteln versaubeutelt wurde, entzieht sich unserer Kenntnis, aber so wenig kann es nicht sein.
Wie sieht es aus, wenn man Wahn mit Ideologie erklärt und die Folgen, die die sich weit außerhalb eines sozial erwünschten Korridors der Meinungen befinden, real werden lässt? Es beginnt zunächst mit Framing, in dem die Situation umgedeutet wird, so dass Opfer Schuld haben an Diskriminierung, an Vertreibung und Hetze, an Brandsätzen, Lagerhaft oder Abschiebungen, weil ein politisches Konzept ja keinen anderen Ausweg lässt, als beispielsweise Kriegsflüchtlingen mit Gewalt zu begegnen, wenn sie von ihren Grundrechten Gebrauch machen. Die Folgen für die Gesellschaft sind real, weil die von ihnen ausgehende Gefahr – Islamisierung, Tod der als einheitlich begriffenen Volksidentität, Faulheit auf Kosten der Steuerzahler bei gleichzeitiger Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt – als wahr- statt wahnhaft gesehen wird. Auch dies ist natürlich ein rational nutzenmaximierendes Handeln, es nützt nur nicht der Gesellschaft, sondern rechtskonservativen Politikern.
Und also wird auch der normale Mitläufer, der sich von ideologisch verbrämtem Fimmel vor den Karren der Parallelweltdenker spannen lässt, zum willigen Gehilfen, der neue Fakten schafft. Gerade an dem Punkt zeigt sich die Schwäche der Theorie der rationalen Entscheidung, dass nämlich soziales Handeln immer zur unterkomplexen Beurteilung der realen Probleme neigt und sie auf kollektivem Niedrighirnniveau löst. Bekannt sind die Bilder der Menschenmassen, die Parolen plärren, für die man sie nach objektiven Maßstäben für unmündig halten und in die Obhut kräftiger junger Männer in weißen Kitteln geben sollte. Die Frage liegt hier also nicht darin, was Menschen für wirklich halten, sondern schon darin, ob sie zwischen wahr und wirklich noch unterscheiden können – oder wollen. Worauf sich die Sache durch einen Selbstbezug als rationale Entscheidung auch praktisch erledigt haben dürfte.
Und so lutschen wir uns unsere Geschichte und die gesellschaftlichen Tatbestände zurecht und sind überrascht, wenn sie nicht so funktionieren, wie wir es uns in der vermeintlichen Objektivität gedacht hatten. Schon Epiktet wusste aus stoischer Sicht der moralischen Autonomie, dass nicht Handlungen uns verstören und erschrecken, sondern Meinungen und Vermutungen über Handlungen. Wie wir ja auch meist nicht denken, sondern nur denken, dass wir dächten. Wir sollten nicht alles glauben, was wir denken. Es könnte wirklich sein.
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