„Sie müssen nicht jeden Tag die Sondersendungen sehen, wirklich nicht. Wenn Sie das Gefühl haben, es ist immer dasselbe, dann brauchen Sie sich damit nicht mehr zu belasten. Sie erfahren ja nichts, was Sie nicht vorher schon gewusst haben. Ihnen macht das die Urlaubsstimmung kaputt? Das ist natürlich ein sehr überzeugendes Argument. Lassen Sie sich da bloß nichts anderes einreden.
Ich mache das ja auch schon ein bisschen länger und komme eigentlich aus dem kirchlichen Bereich, da wurden wir alle gesprächstherapeutisch geschult, damit wir Krisensituationen bei den Menschen erst einmal erkennen und einordnen, bevor wir uns an die Lösung machen. Heute kann man das vergessen, weil alle in der Krise sind, die einen mehr, andere weniger. Die Menschen, die sich in echten akuten Schwierigkeiten befinden, die kann man inzwischen vernachlässigen. Die rufen nicht mehr an. Wenn wir hier Anfragen bekommen, dann solche wie diese Dame gerade. Du hast drei Wochen Karibik gebucht und die gute Stimmung ist futsch, wenn ewig dieses Gejammer von den Ukrainern kommt, sollen sie endlich kapitulieren, man wird ja ganz depressiv bei den Dieselpreisen. Wir sind selbstverständlich ganz und gar neutral, weil wir nicht wissen, was sich bei den Menschen hinter einem Konflikt verbirgt, aber auf Dauer geht es einem gewaltig auf die Plomben.
Krisengesprächsteam, was kann ich für Sie tun? Ja, das ist natürlich sehr belastend. Wenn man sein ganzes Leben lang ein Aktiendepot aufgebaut hat und jetzt miterleben muss, wie die eigenen Kinder große Summen für Geflüchtete spenden – Sie haben es vermutlich gerade nicht leicht. Zunächst mal ist Ihr Vermögen natürlich noch in Ihrer Hand, das ist sicher, und Sie müssen auch auf keinen Fall eine Schenkung vornehmen oder Ihr Erbe zu Lebzeiten verteilen. Sie hatten damals an Zwangsarbeitern verdient? Ihr Vater, interessant. Das ist dann doppelt schwer für Sie, dass diese bösen Menschen Ihnen zum zweiten Mal alles wegnehmen wollen, was Sie sich mit ihnen erarbeitet haben. Beziehungsweise Ihr Vater. Ja, Sie müssen Verantwortung einfordern, damit das Vermögen nicht einfach so zerstreut wird. Machen Sie doch ein hübsches Lippenbekenntnis, das kostet wenig, und dann können Sie sogar Ihre Geschäfte mit der russischen Tochtergesellschaft in aller Ruhe weiterführen. Oder glauben Sie, dass bei Ihnen der Bundeskanzler vor der Tür steht und den Laden dicht macht? Na also!
Diese furchtbaren Belastungen. Die Leute haben alle ihr Päckchen zu tragen, es gibt aber eben auch solche, die haben einfach keine Lust dazu. Für die sind wir dann da, damit sie sich bei uns auskotzen können. Als Teflonseelsorge. Bei Anruf Absolution. Das muss man eben verstehen. Irgendwo in einem anderen Land sterben Menschen im Bombenhagel, aber sie sterben eben in einem anderen Land. Für uns wird es nur unangenehm, wenn die Talkshow an jedem Abend eine Viertelstunde später kommt. Und überhaupt, das sind ja auch wieder Ausländer. Die nehmen uns die Jobs weg, die wir nicht mehr machen wollen. Was das alles wieder kostet. Und es gibt keine billigen Nudeln mehr, dabei ist im Keller noch Platz für einen Doppelzentner.
Krisengesprächsteam, was kann ich für Sie tun? Angst ist jetzt ganz kontraproduktiv. Wenn Sie sich ständig ausmalen, was Putin alles in Ihrem Leben zerstören könnte, verlieren Sie möglicherweise Ihre Resilienz. Sie riskieren damit, dass Sie genau den Stress, den diese Einschränkungen auf Ihr Leben haben könnten, auch dann erleiden, wenn diese Einschränkungen überhaupt nicht stattfinden. Sie sind dann traumatisiert, ohne ein Trauma erlitten zu haben, und werden ständig retraumatisiert, weil Sie keinen Anlass finden, den man abstellen könnte, um Ihre Traumatisierung zu lindern. Seien Sie dankbar für die Dinge, die Sie in Ihrem Leben haben, die Ihnen positive Energie geben, die Sie stärken. Und wenn es tatsächlich zu einem Tempolimit auf der Autobahn kommen sollte, dann können Sie die Situation noch einmal neu bewerten, okay?
Diese ganze Selfcarescheiße, Achtsamkeit beim Amoklauf, was glauben Sie, wie uns das zum Hals raushängt? Aber wir dürfen uns niemals moralisch über unsere Mitmenschen erheben, das geht gar nicht, weil man jedes Problem immer subjektiv aus der persönlichen Krisenwahrnehmung beurteilen soll. Wenn die Miete nicht mehr bezahlbar ist, das ist nicht so schlimm, dann wird man halt arbeitslos und freut sich, dass das Amt für einen zahlt, aber wenn man plötzlich lauter Arbeitslose in seinen Mietshäusern hocken hat, droht der Wertverlust. Da ist man höchstens noch froh, wenn man dieses Pack morgens im Supermarkt anschnauzen kann, weil man weiß: wenn die sich beschweren, sorgt man für die Kündigung. Das artet auch manchmal in Arbeit aus, und wir dürfen das dann bedauern.
Uns haben sie immerhin noch gesagt, wir sollen Visionen entwickeln. Aufstiegsversprechen, von der langen, harten Arbeit wird man reich, jeder kann es schaffen. Sie haben leider vergessen, die Realität an ihre Märchen anzupassen. Jetzt ist unsere Aufgabe, ihnen lauter tröstliche Perspektiven zu eröffnen, dass es schon nicht so schlimm wird, dass es zwar Opfer geben wird, aber ganz sicher nicht bei ihnen. Wir wissen das. Wir zahlen ja dafür, dass es ihnen nie schlechter geht als jetzt. Sie brauchen uns nur für diese Entlastung. Sonst nicht.
Krisengesprächsteam, was kann ich für Sie tun? Sie fühlen sich so richtig schlecht, seit Ihnen einer gesagt hat, dass Sie ein asoziales Stück Dreck sind? Depressive Verstimmung und Schlafstörungen? Sie haben Angstzustände? Sie fürchten um Ihr Leben? Das freut mich jetzt aber, Herr Lindner!“
👏
Merci ❤
Solche Texte verdienen eine große Verbreitung.
Sind sie noch anderswo zu finden? Print?
Liebe Grüße!
Danke, mein Arbeitsgrundsatz „Ich veröffentliche nur hier – hier veröffentliche nur ich“ gilt weiterhin, aber online ist ein Link jederzeit möglich, und da ich schon manche Anfrage bekam, ist auch Ausdrucken oder Kopieren okay, solange die Urheberschaft geklärt ist. Nicht alle haben Zugang zum Internet.
👍Danke.