Gernulf Olzheimer kommentiert (DCXVI): Erinnerungskultur

27 05 2022
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Eduard der Ersetzbare war ein selten dummer König, der das Land mit Zorn und Geltungsdrang regierte, wenn er nicht gerade Geld und Gut zum Fenster rauswarf. Immerhin machte er es späteren Betrachtern leicht, da er von seinem noch erheblich blöderen Bruder Heinrich dem Dummklumpen mit dem Dolch zum Nationalhelden befördert wurde, dero den finstersten Jahren vorangegangen war, die das Reich je sehen sollte. Noch heute feiert man den Todestag des ständig schreienden Despoten, der außer Wein und Wutausbrüchen nicht viel der Welt hinterließ, allein er war der erste und einzige in der langen Folge an Herrschern, der keinerlei Krieg mit seinen Nachbarn anfing. Und so blieb Eduard, der vielseitig ungebildete Holzkopf, als Friedensfürst im Gedächtnis des Volkes. Das ist durchaus nicht untypisch für den Umgang mit der Geschichte, die unsere Erinnerungskultur konstituiert.

Abgesehen von den Zeugen der Vergangenheit, Denkmälern und Plaketten im öffentlichen Raum, bieten Feierstunden und festmeterweise Literatur das Gerüst, auf dem wir uns durch die Historie hangeln. Allerlei Fixpunkte, an denen kapituliert oder befreit, annektiert und wiedervereinigt wurde, ergeben einen Kalender, der sich saisonal bestens für eine Reihe staatstragender Festivitäten eignet. Unter Sektkorken und Salutgeböller gehen dann die Tage unter, an denen die bürgerliche Gesellschaft zähneknirschend die unangenehmen Jubiläen mit lautstarkem Bekenntnis zur aufgeklärten Gegenwart hinter sich bringt: Pogrome, Attentate, Massaker. Im günstigsten Fall frühstückt das kollektive Ego gleich alle rassistischen Mordanschläge auf einmal ab, kündigt noch mehr Problembewusstsein an und ist wieder für ein Jahr mit dem Schmodder durch.

Geschichte ist die in der Gegenwart und für sie zurechtgeschwiemelte Konstruktion, die zeitgleich erklärt und entlastet, wo es etwas zu erklären gäbe. Der Mensch ist nicht dazu erschaffen, sich ständig Dinge ins Gehirn zu laden, die seine aktuelle Lage nicht oder nur marginal beeinflussen. Genau darum verformt er die Vergangenheit durch den Druck des Erlebens, bis das Gewesene sich anpasst. Es wird mit der nötigen Deutung so semantisiert, dass alles einen vernünftigen Sinn ergibt, genau die Ideologie stützt, die es gerade stützen soll, als logische Folge von Handlungen einer planvoll handelnden Gruppe von Personen, die immer schon wusste, was wird, bevor dann der Zufall eintrifft. Geschichte entlastet vor allem die, die nicht dabei waren, seien sie durch die Ungnade ihrer Geburt auch Zeitzeugen, und gibt uns das praktische Verfahren der Mythenbildung an die Hand. Damit erschafft sich jede Generation eine eigene Vergangenheit, geschichtete Geschichte in Gemengelage, die vielleicht irgendwann kodifiziert wird: König gut, König böse, und es war nicht alles schlecht, während auf uns die Bomben fielen.

Konträr dazu müht sich zwischen Wissenschaft und Infotainment eine halb künstlerische, halb vom Gesinnungsbewusstsein getriebene Schar mit dem allseits populärer Brauchtumsterrorismus, die ganze Geschichte noch einmal neu zu dokumentieren, bis noch der letzte Authentizitätssüchtige alle Folgen mit Hitlers Chauffeur, Leibarzt, Sekretärin, Koch oder Kellner konsumiert hat – zwischen Baum und Borke entzieht diese Folkloretruppe den Historikern das Ansehen, indem sie stets das Werbeversprechen wiederholt, jetzt müsse die Geschichte aber ganz, ganz anders und vor allem neu geschrieben werden. Sicher ist nur, dass diese Annäherungsversuche mit dem Kopf an der Wand enden, da sie das Objekt der Untersuchung nur selten anders zeigen als auf dem Sockel der Anbetung. Der Aufarbeitung dient das nicht, aber wenigstens sind die Gerümpelmacher von einem Miniwahr weit entfernt, weil sie Fakten nicht fortwährend an die Bedürfnisse einer neuen Gegenwart anpassen müssen.

Wir überformen die Ereignisse, bis sie sich als geschichtstauglich zeigen, und schreiben sie in der für uns angebrachten Reihenfolge und Gewichtung auf. Früher waren es vor allem Jahreszahlen großer schlachten, heute sind es spekulative Zahlen von Todesfällen, die eine fortwährende Rekonstruktion der Wirklichkeit zur Statistik gerinnen lassen. Die Erinnerungsverfälschung durch Suggestion oder Autosuggestion tut ein Übriges, schließlich glaubt eine ganze Nation, sie sei vor Jahrhunderten Zeuge gewesen, wie dies und das geschah. Nur von den Konzentrationslagern wusste man nichts, das ganze Volk war sofort damit beschäftigt, sich gegenseitig in den Widerstand zuführen, und jeder hatte einen syrischen Geflüchteten in der Nachbarschaft, der mit dem Ferrari ins Sozialamt fuhr und reihenweise blondbezopfte Mädchen belästigte. Auch das wird von Zeit zu Zeit wieder verdrängt, beispielsweise dann, wenn es gerade opportun ist, die Klappe über die eigenen Verstrickungen zu halten. Die heilsame Flucht in die Erinnerungslosigkeit halten wir aus, wenn wir zum korrekten Zeitpunkt kurz und klar im Gedenken unsere Opferrolle vortanzen und uns die einmütige Betroffenheit sowie allgemeine Unschuld bescheinigen. Wenn uns keiner vergibt, müssen wir es selbst tun. Nur für die Folgen der Geschichte, da suchen wir noch nach einer Strategie. Aber wer weiß, vielleicht reicht ja individuelle Demenz aus.