Zitterparty

27 07 2022

„Kalt duschen, am besten nur einmal am Tag, für den Frieden auch mal trockenes Brot essen, am besten auch nur einmal am Tag, damit wäre und schon viel geholfen. Also uns. Wenn Sie das tun.

Wir wissen auch noch nicht genau, was sich der Herr Bundespräsident ausgedacht hat, das Papier sollte aber in den nächsten drei Tagen fertig sein. Er hat mal wieder einen Anfall von Sozialphilosophie gehabt, sieben bis zehn Druckseiten, wir werden das gegenlesen und dann in eine Form bringen, in der die Veröffentlichung möglich ist. Erst wollte der Herr Bundespräsident eine öffentliche Rede halten, aber die Situation ist einfach zu ernst dafür.

Nur noch einen Raum beheizen, nachts die Heizung abdrehen, das wird zwar von den meisten schon beherzigt, von hart arbeitenden Menschen teilweise, das muss man den Bürgern zumuten können. Dass der Herr Bundespräsident von Härten spricht, weil wir diese Herausforderung gemeinsam und in Geschlossenheit angehen wollen. Irgendwo hatte er das schon mal gesagt, ich weiß nicht mehr, wo, aber es wird schon richtig gewesen sein. Wenn der Herr Bundespräsident solche Botschaften mit der Bevölkerung teilt, kann er auch nicht einfach irgendwas sagen. Also nicht immer.

Wir können beispielsweise mit dem Rad fahren oder den Bus nehmen, wenn das Neun-Euro-Ticket weg ist, damit wir alle wieder mit dem Auto fahren können wie bisher. Also wenn wir alle bisher mit dem Auto fahren konnten. Das ist eine sehr gute und durchdachte Maßnahme, die die Bevölkerung verbindet und vereint, weil daran alle teilnehmen können, die Autofahrer, die Radfahrer, Menschen ohne Rad, die sich nur ein Rad zu kaufen brauchen, damit sie mitmachen können – die oberste Priorität ist in dieser schwierigen Lage die Gemeinsamkeit, die uns verbindet. Ein Tempolimit würde sicher die Fußgänger ausgrenzen, das könnte ich mir vom Herrn Bundespräsidenten gar nicht vorstellen. Er denkt in dieser Situation gesamtgesellschaftlich, das heißt sozial, und das bedeutet: manche müssen halt rudern, wenn andere Wasserski fahren wollen. Das ist ein Naturgesetz, und die Politik kann ja nichts gegen Naturgesetze tun.

Die Freiheit wird in diesem Augenblick eben am Gashahn verteidigt, das ist die Zeitenwende. Wir haben die ersten Entwürfe gesehen, aber das hat der Herr Bundespräsident begriffen, dass wir auch auf symbolische Dinge, die uns lieb und teuer sind, vor allem teuer, dass wir darauf verzichten müssen, um innerlich gefestigt diese Lage zu überstehen, ohne uns nur auf die Politik zu verlassen, die zwar schon ihr Möglichstes tut, aber eben mehr eben auch nicht. Wir brauchen starke Zeichen, große Bilder, die um die Welt gehen und in Erinnerung bleiben, wie wir alle mit dieser Krise umgegangen sein werden, indem wir Alltagssorgen teilen, uns auch in der Distanz nahe sind Kerzen anzünden und… – Nee, das war ja Corona.

Ist ja egal, wir haben jetzt auch die Chance, die Krise als Chance zu sehen. Bisher war das meistens umgekehrt, also in der Politik, die uns das trotzdem als Chance verkauft hat, aber jetzt wird alles anders. Zeitenwende! Wir können diese Epoche, diesen Abschnitt unserer Geschichte mit dem Gefühl erleben, dass wir live dabei sind, wenn sich Dinge ändern! Das war bei der Wende, am 11. September, das sollten wir doch jetzt auch hinkriegen! Wir machen aus dieser Krisensituation eine Zitterparty – Party, nicht Zitterpartie.

Sie müssen das ja perspektivisch sehen, weil wir die Maßnahmen auch auf Nachhaltigkeit auslegen. Wenn wir jetzt sparen, dann geht es uns nachhaltig scheiße. Was wir jetzt nicht durch Schulden oder klug angelegte Investitionen für Bildung, Verkehr, für Digitalisierung und vor allem für Klimaschutz sichern, das kriegen wir in ein paar Jahren alles mit Schmackes aufs Maul. Gut, die meisten Dinge eher in ein paar Jahrzehnten, deshalb sollten sich diese Jugendlichen heute nicht auf der Straße festkleben, sondern möglich kalt duschen. Wenn die in unserem Alter sind, gibt’s keine Duschen mehr, vermutlich nicht mal mehr Trinkwasser. Aber wenigstens wird es dann so warm sein, dass man Heizkosten spart.

Also müssen wir in dieser Lage realistisch bleiben – es kann sich nicht jeder Bürger ein Kernkraftwerk in den Vorgarten stellen. Manche wohnen im Hochhaus, die haben keinen Vorgarten. Trotzdem müssen wir alle Debatten ergebnisoffen führen, das ist immer zu erwarten, wenn man keine Ahnung hat, und wer wüsste das besser als der Herr Bundespräsident. Das gilt im großen geopolitischen Maßstab, in der Familie, wenn es im Supermarkt wieder kein Klopapier gibt: uneingeschränkte Solidarität, nicht nur mit der Ukraine. Der ganz normale deutsche Millionär, der kann ja nichts dafür, dass er nicht in der Ukraine geboren wurde. Da müssen wir alle etwas tun, weniger ins Kino gehen, in Deutschland Urlaub machen, solange es noch Kurzstreckenflüge gibt, oder alle mal länger arbeiten oder… – Nee, das war ja Steinbrück.

Wir müssen das Volk vor der Spaltung bewahren. Also nicht vor der Spaltung in die, die die Party bezahlen, und die, die die Party feiern. Die wird es immer geben, und als Bundespräsident kann man schlecht tagespolitische Fragen wie das System kritisieren. Wir müssen zulassen, dass alle empfindliche Nachteile in Kauf nehmen – die, die die empfindlichen Nachteile in Kauf nehmen, und die, die das zulassen. Wir als Deutsche dürfen jetzt Solidarität nicht nur im internationalen Maßstab vorleben, das müssen wir auch national. Wir sind jetzt ja wieder wer. Sie werden sehen, diese Krise wird einfach großartig!“


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