Anne tupfte sich den Schweiß von der Nase. „Stromfresser hin oder her“, stöhnte sie, „es ist zu heiß.“ Luzie nickte. „Ich hole den Ventilator aus dem Keller.“ Sie stand auf, ging durchs Vorzimmer und öffnete die Schiebetür, hinter der sich die kleine Abseite und das Schlüsselbrett befand. Was sich am Brett nicht befand, war der Kellerschlüssel.
„Aber er hat doch immer dort gehangen?“ Ich betrachtete sehr konzentriert die Auslegeware der Kanzlei, denn jeder wusste, in welchem Verhältnis Anne zu Schlüsseln im Allgemeinen stand. Bis auf den Autoschlüssel, inzwischen eine Fernsteuerung für den Wagen, die sich stets in ihrer Handtasche befand und häufig sogar in der richtigen, hatte sie die Schlüssel für Geschäfts- und Privaträume aus Erfahrung in mehrfacher Ausfertigung bei mir und Breschkes deponiert, in der Küchenschublade von Staatsanwalt Husenkirchen und bei Doktor Klengel. „Warum hängt der Kellerschlüssel nicht an diesem Brett“, knurrte Anne, „und warum hängt das Brett nicht an der Tür wie in jedem anderen Haushalt?“ „Weil dies eben kein Haushalt ist“, wandte ich ein. „Luzies Idee, das Brett nicht neben den Eingang zu schrauben, liegt daran, dass zu viele Mandanten die Kanzlei betreten, denen man alles zutrauen kann.“ Sie zog die Stirn in Falten. Das hatte damals auch ihr eingeleuchtet, nicht aber der Gedanke, dass es für Schlüssel nur ein sicheres Quartier geben kann: ein abschließbares Kästchen, klein oder groß, gut zugänglich, aber eben abschließbar.
Luzies Einwand, sämtliche Schlüssel wären so sicher wie in Abrahams Schoß, lägen sie in ihrem Schreibtischschränkchen, hatte Anne frühzeitig in argumentativem Furor beiseite gewischt. „Was soll ich denn machen, wenn Du mal einen freien Tag hast?“ Die Büroleiterin, die stets als erste die Kanzlei betrat, schloss natürlich auch die Laden an ihrem Arbeitsplatz auf. „Notfalls könnte ich die Schlüssel in Deinem Schreibtisch deponieren“, gab sie mit sarkastischem Unterton zurück. „Ich habe ja den Ersatzschlüssel bei mir zu Hause.“ Der Teppich begann wirklich interessant auszusehen.
Das Problem war bekannt, hatte eine Geschichte und zu viel Wirrungen geführt, die auch durch das kleine Gerät nicht besser wurden, das Breschkes Tochter von einer Ostasienreise mitgebracht hatte. Der Schlüsselfinder, der am Corpus delicti befestigt werden konnte, sollte mit Hilfe von Funkwellen aufgespürt werden, wie das ja Anne auch mit ihrem Wagen tat – das sportliche Gefährt war nicht eben unscheinbar, jeder hätte es auf dem Parkplatz leicht ausfindig machen können, doch sie zog es vor, mit dem kleinen Druckknopfdings durch die Reihen zu gehen und beständig um sich zu blicken, wo unter meerschweinartigen Quietschgeräuschen hektisches Blinken sichtbar ist. Allein sie hatte die Vorliebe für den Ablauf nicht auf das rote Plastikteil übertragen, so dass der Kellerschlüssel weiterhin verschollen blieb. Luzie sah sich hilflos in der Abseite um. „Wo ist eigentlich dieser Schlüsselfinder?“
Tatsächlich gibt es Bodenbeläge, denen man nach jahrelanger, regelmäßiger Belastung kaum ihr Alter ansieht. Ganz nebenbei hörte ich, wie Anne aus der Erinnerung den Verbleib des Suchgeräts rekonstruierte; sie hatte ein Loch an der stilisierten Blume entdeckt und ihn aus Gewohnheit zusammen mit dem Schlüssel und der Empfangseinheit an den Ring gehängt, wo sie nun in trauter Dreisamkeit wieder verbunden waren, wo auch immer. „Es kann sich höchstens um höhere Gewalt handeln“, ätzte Luzie, „nichts hindert uns, das Haus einzureißen, wenn wir den Keller betreten wollen.“ Ich spielte vor meinem geistigen Auge einige Szenarien durch, in denen die sich anbahnende Katastrophe ohne größere Folgeschäden abgewendet werden könnte, da kam Anne der entscheidende Gedanke. „Ich habe das bestimmt in der Handtasche.“ Die Nachschau ergab, dass dem nicht so war. Es bestand keine Hoffnung mehr. Vermutlich würde ich so schnell wie möglich einen Ventilator besorgen müssen, um dieses unerträgliche Klima wiederherzustellen.
„Die unterste Schublade!“ Luzie drehte sich auf dem Absatz um, stürmte ins Besprechungszimmer und setzte sich auf den Drehstuhl. „Ich bin ja nicht immer pflegeleicht“, maulte Anne, „aber das geht nun wirklich zu weit.“ „Ach was!“ Luzie hatte das Aktenfach geöffnet, wühlte zwischen den Mappen herum und zog endlich triumphierend das gesuchte Dreigestirn hervor. „Ich wusste doch genau, dass da etwas Rotes unter den Deckeln liegt.“ Ein Druck auf die Sendeeinheit bestätigte, dass zumindest auf kürzere Distanz der am Schlüssel angebrachte Empfänger so zuverlässig wie nervtötend fiepte. „Wir müssen also jetzt den Sender abziehen, dann kommt der Schlüssel wieder ans Brett, und wenn wir ihn tatsächlich einmal nicht finden sollten, dann haben wir immer noch diesen kleinen Helfer.“ Anne seufzte. Es hatte sich nicht nur die Anspannung der vergangenen Stunde in Wohlgefallen aufgelöst, sie konnten nun auch darauf warten, dass ein dienstbarer Geist – nämlich ich – den Ventilator die Treppen bis ins dritte Stockwerk tragen würde. Da es sich um ein Standmodell mit schwenkbarem Kopf handelte, blieb ihnen auch gar nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu üben.
Der Ventilator tat, wozu er angeschafft worden war: er wirbelte Luft in den Raum. „Übrigens“, ließ sich Luzie vernehmen, „Breschkes Tochter hat nicht nur einen mitgebracht.“ Und sie zog ein Tütchen aus dem Regal in der Abseite. Noch ein Suchknopf mit Piepser. Anne war perplex. „Kein Problem“, sagte ich. „Wenn der Schlüsselfinder mal verloren geht, kleben wir den anderen an den Empfänger, und Du hast noch einen Ersatz für die Handtasche.“
Satzspiegel