„So sieht man sich wieder.“ Nun hatte ich schon mehrmals im Funkhaus zu tun gehabt, auch schon mit Siebels, aber noch nie war es ein Ortstermin gewesen. Ein Irrtum? Der TV-Produzent ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er zeigte mir den Brief, der uns beim Pförtner Einlass gewähren sollte: der Programmdirektor selbst hatte uns beordert. Das konnte ja heiter werden.
Zwei Minuten standen wir in der opulent mit Grünpflanzen und billigem Marmor ausstaffierten Halle, bevor der gläserne Aufzug endlich kam. Ich schaute verstohlen nach der Uhr, aber er beruhigte mich. „Wir sind eh eine Stunde zu spät, weil wir neunzig Minuten auf dringende Termine warten müssen, denn irgendetwas ist immer noch viel dringender als eine Besprechung mit Beratern, die nach Stunden abrechnen.“ Wir glitten sachte empor, es klingelte leise, hier war der zwanzigste Stock. Die Türen surrten und öffneten sich, die Dame am Empfang begrüßte uns. „Herr Knobelsdorff ist noch nicht im Hause.“ Siebels seufzte. Immerhin hatte er noch einen Rest von dem billigen Automatenkaffee, den es in der Kantine gab. Wir würden wohl den halben Vormittag mit dem Ausblick auf die Stadt verbringen müssen, bevor wir in der anderen Hälfte den Klagen eines Intendanten lauschen dürften.
Die Mappe auf der Sitzbank sah tatsächlich so aus, als hätte man sie zufällig hier hingelegt. Ich war einen Blick hinein. „Genau das hatte ich schon erwartet“, erklärte Siebels. „Es geht mal wieder um Selbsterfahrungsversuche von Journalisten, die ihre anekdotische Evidenz zur Erkenntnis aufblasen.“ Ich verstand nicht gleich. „Denken Sie jetzt nicht an Enthüllungsstories, die in der Autofabrik spielen, um Rassismus in der Belegschaft, Lohndrückerei oder katastrophalen Arbeitsschutz anzuprangern.“ Langsam begriff ich. „Es geht um das Experiment, sich täglich eine Flasche Schnaps reinzugießen, um sich wie ein Alkoholiker zu fühlen.“ Er nickte. „Mit dem Unterschied, dass sich Ihre Leber nach einer Woche erholt, während der Stoffwechsel eines Suchtkranken nach zehn Jahren mit einer Flasche schon noch mehr genug hat.“ Das Exposé bot dann auch alles auf, was auf anderen Sendern bereits mit wechselndem Erfolg gezeigt worden war: drei Tage wach, eine Woche ohne Internet, zehn Schichten als Industriereiniger im Fleischzerlegebetrieb. Siebels klappte angewidert den Deckel zu.
Ich suchte in den Manteltaschen, fand aber kein Pfefferminzbonbon. Gelangweilte Menschen liefen so langsam wie möglich die Flure entlang, als hätte der Tag noch endlos Zeit. Nicht einmal die Uhr an der Wand tickte hörbar. Vielleicht wurde hier das Rohmaterial für ein neues Testbild aufgezeichnet, das den molekularen Zustand in Nahtodnähe zeigen sollte. Die Empfangsdame telefonierte, offenbar jedoch nicht mit dem Intendanten.
Mit einer nachlässigen Bewegung schlenzte Siebels den Becher in einen Papierkorb. „Ich habe ja damals noch die Anfänge des dokumentarischen Fernsehfilms miterlebt“, knurrte er. „Allerdings hat die Redaktion vor allem auf den dokumentarischen Aspekt bestanden, mit dem Ergebnis, dass wir eine Folge über drei Tage in der Mordkommission nicht zeigen durften.“ „Ging es um Täterwissen oder um Datenschutz?“ Er schüttelte den Kopf. „Die beiden Kommissare haben nur am Schreibtisch gesessen und Akten gelesen.“ Die Zusammenstellung der Themen ließ allerdings ganz anderes erwarten. „Und genau das ist so dumm, dass ich diesen Zirkus schon nicht mehr mitmachen will, obwohl es leicht verdientes Geld ohne anspruchsvolle Arbeit wäre.“
Ich klappte die Liste wieder auf. „Wie oft haben bisher körperlich und geistig einigermaßen fitte Redakteure in einer Fabrik geputzt?“ Siebels grinste schief. „Keine Ahnung, die meisten hier machen mir nicht diesen Eindruck.“ Was jedoch blieb, war der Eindruck, dass es nicht auf die Fabrik ankam. „Ob Sie in einem Bahnhof die Toiletten putzen oder im Schlachthof die Reste von getöteten Tieren mit der Schaufel beseitigen, ist letztlich vollkommen egal, solange die Botschaft, dass miserabel bezahlte Schwerstarbeit einem nicht das Fernsehvergnügen verderben soll, mit dem Mist ausgestrahlt wird.“ „Und der sozialkritische Effekt?“ Er sah mich an wie einen Idioten. Sicher nicht ohne Grund.
Keine Ahnung, warum ich auf die Armbanduhr blickte, schließlich hing die große Uhr direkt über uns. „Zeit“, sagte Siebels. „Denken Sie immer an die Relativität der Zeit.“ „Was hat denn Einstein mit diesem Fernsehmüll zu tun?“ Er runzelte kurz die Stirn. „Wenn Sie ganze zwei Wochen ohne Internet verbringen, werden Sie es überleben, da sie wissen, es geht vorbei.“ Das leuchtete mir ein. „Wenn sich ein Politiker zwei Wochen lang von Regelsätzen der Grundsicherung ernährt, wird er es auch lustig finden und nicht einmal merken, dass er sich von den Kollegen auf einen Kaffee einladen lässt, ohne den Betrag als geldwerten Vorteil abzuziehen – von den Einschränkungen bei Wohnraum, Energie und Mobilität einmal abgesehen.“ Ich begriff. „Dafür fahren Menschen in den Urlaub, um einmal in den ärmsten Ländern der Welt unter unhygienischen Begleitumständen den Sonnenuntergang zu sehen, und sie nennen denselben Dreck malerisch, der im Fleischzerlegebetrieb bei ihnen Brechreiz auslöste.“
Unvermittelt stand Siebels auf. „Wir haben hier nichts mehr verloren, solange sich das Programm nicht ändert.“ „Meinen Sie nicht, man kann solche Formate sinnvoll nutzen?“ Er überlegte nicht lange. „Wir haben eine Kollegin in den Heimwerkermarkt geschickt, als Verkäuferin.“ „Was ist passiert?“ „Sie wurde nie wieder gesehen.“ Und da kam auch schon der Aufzug.
Satzspiegel