Gernulf Olzheimer kommentiert (DCXL): Überwachungskapitalismus

11 11 2022
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Früh am Morgen steht der Arbeitnehmer auf und widmet sich der Körperpflege. Sollte der Proband noch nicht Qualität und Quantität seines Schlafs in die elektronische Handfessel eingespeist haben, so bleibt ihm wenigstens dieses kleine Geheimnis. Der Verbrauch an Zahnpasta allerdings, die Intensität seiner Dentalhygiene und das anschließend in die Waage getretene Nettogewicht gibt er freiwillig preis, um diverse Kosmetika günstig und schnell in den Haushalt geliefert zu bekommen. Ein kleiner, nervender Jingle erinnert ihn beim ersten Kontakt mit dem Smartphone daran, dass er schon seit zwei Wochen keine neuen Klamotten geshoppt hat, was für seine Alterskohorte gar nicht statthaft ist – auch deshalb nicht, weil er sonst der regelmäßigen Angebote seines Onlinehändlers verlustig ginge, in der Öffentlichkeit negativ auffiele oder sogar den notwendigen Sozialkredit verlöre, der ihm Zutritt zu angesagten Clubs verschafft. Er ist glücklich, er merkt es nur nicht. Aber vielleicht ist es auch nur diese eigenwillige Definition von Glück, die den Überwachungskapitalismus so kratzig macht.

Der Hominide ist nicht nur das Produkt, das sich unbeirrt selbst verkauft, er lässt sich bereitwillig kapitalisieren und entmündigen, denn die Datenspur determiniert sein Dasein. Wie immer steht am Anfang seiner Tragödie die Unfähigkeit, alleine in einem Zimmer glücklich und genügsam zu leben, da er seine Lieblingsmusik, alle 239.481 Stücke in zufälliger Reihenfolge, unbedingt überall und zu jeder Tages- und Nachtzeit hören will, auch auf den Plastebömmeln, die ihm einst als Fernsprecher ans Ohr genietet wurden von einer Marketingabteilung auf schlechtem Koks. Wir kommunizieren, wo wir Dinge sehen und nicht sehen, wie selbstverständlich im Trachten, nicht nicht kommunizieren zu können und es auch gar nicht zu wollen. In der gehässigen Antwort, die geheimdienstliche Durchleuchtung sei auch nicht schlimmer als ständiger Verhaltenscheck durch die marktbeherrschenden Konsumschleudern, zeigt sich ein profundes Wissen kapitalistischer Politik, die Überwachen und Strafen von allen Seiten gleichermaßen nutzt, wo die von WLAN, Smart Home, Auto und Gesichtserkennung unsubtil gesammelten Einbrüche in die Privatsphäre in eine gemeinsame Verarbeitung durch die Maschine münden, die uns noch im hintersten Winkel der zivilisierten Welt mit Sonderangeboten und Klatsch zumüllt, damit die Trennlinien zwischen Ich und Markt sanft verschwimmen. Einmal mehr ist Freiheit das, was wir Grützbirnen aushalten müssen – kein Wunder, wir haben uns selbst eingebrockt, was wir als ubiquitäre Verfügbarkeit der Produkte feiern, auch wenn wir nichts mehr verstehen.

Das systematische Abschöpfen aller Daten aus dem Inneren unserer Verbrauchssteuerung liefert Paybackpunkte aus dem Immunsystem, dass auch Schopenhauer stolz wäre, wie wir den freien Willen der Markregulierung übertragen, die uns als Großer Bruder die Sorgen des Daseins abnimmt. Was ist eigentlich an einer übermächtigen Wirtschaft noch Nichtregierungsorganisation? Mit der Frage werden die Objekte einer neoliberalen Ordnung allein in der Wüste aufgestellt, wo sie nicht mehr finden, das an eine Gesellschaft erinnert, und hier lohnt sich dann auch Egoshopping, will moralisches Handeln längst in die Frage nach Besitz verschwiemelt ist.

Aber die Zivilgesellschaft schlägt zurück. Weiß der Algorithmus eventuell früher als wir selbst, ob eins schwanger ist, einen Tumor mit sich durch die Gegend schleift oder eine Sucht – alles, was die Finanzberatung interessiert, auf dem Jobmarkt oder für die Sozialversicherungen relevant wird – kann bereits die biestige Weigerung, irgendeiner Firma das Jagen und Sammeln zu erleichtern, Sand im Getriebe sein. Die Asymmetrie der Konzerne beruht auf ihrer Intransparenz, die erst in die Knie geht, wenn Gerichte sich damit befassen und Ansprüche auf Auskunft, Löschung und Betriebsgeheimnisse einklagbar machen. Auf den Putsch von oben lässt sich nur mit Ungehorsam antworten, nicht zuletzt in einer Ära, die potenziell gewaltsame Konflikte um Sicherheit und Ressourcen heraufbeschwören wird, obwohl das Wachstumsgeseier der Ökonomen auch mit brutalem Entsolidarisierungszwang nicht mehr durchzusetzen ist. Wir wollten die Digitalisierung, also haben wir sie auch bekommen, mitsamt der beidseitigen Öffnung aller Schleusen für Schmutz und Dämlichkeit. Wenn wir den Faschismus wieder als denkbare Alternative ansehen, wird er sich beim nächsten Aufschlag sicher nicht als Faschismus zu erkennen geben; es ist gut möglich, dass er zehn Prozent Rabatt auf die private Krankenversicherung verspricht, wenn wir allen verbliebenen Freunden unsere Lieblingsdroge empfehlen.

Und doch, wir sind gesegnet mit der Ignoranz, die einmal mehr nicht von Bonzen ausgeht, sondern von der heilsamen Beklopptheit der Deppen, die uns in Parlamenten ein Paradies aus Schmierkäse zu schnitzen versprechen, je um je, und es dann doch nicht auf die Reihe kriegen. Die Erlösung ist das Funkloch, ist der bescheuerte Algorithmus, der uns alles zum Kauf vorschlägt, was wir soeben erworben haben. Wenn das künstliche Intelligenz sein soll, was ist dann künstliche Dummheit?