Glück

17 11 2022

„Richtig die Nase gebrochen, Krankenhaus, OP, das volle Programm. Die Ärzte haben aber gesagt, sie kriegen das wieder hin. Kein Unterschied zu vorher, und er kann schon wieder Fußball spielen. Naja, man kann eben nicht alles haben.

Also verstehen Sie mich nicht falsch, das ist ein netter Kerl, letzten Sommer, als ich Rücken hatte, ist er zum Rasenmähen rübergekommen. Das mit der Nase tut mir irgendwie auch total leid, aber dass er da jetzt auch noch einen Vorteil daraus zieht, das ist mir unverständlich. Gut, es ist jetzt nicht direkt ein Vorteil, dass er keine schiefe Nase hat, ich habe auch keine, und genau darauf kommt es ja an: dass ich im Vergleich zu ihm keinen Vorteil habe, weil er im Vergleich zu mir keinen Nachteil hat, verstehen Sie? Es ist doch schon schwer genug, sich in der Gesellschaft gegenüber anderen eine Nasenlänge… – Okay, das war jetzt daneben.

Mal anders, wenn wir uns jetzt beide um einen Job bewerben würden, was natürlich schwierig ist, weil er ist Filialleiter im Supermarkt und ich bin als Klempner die hart arbeitende Mittelschicht, aber jetzt mal nur theoretisch: wenn wir uns beide um denselben Job bewerben würden, und der hat keine krumme Nase, dann habe ich ja abgesehen von den Vorteilen, die er vielleicht durch seine Ausbildung mitbringt, auch noch einen Nachteil, weil der eben keinen Nachteil hat. In solchen Situationen muss man neben dem großen Ganzen die entscheidenden Details im Auge haben, und auf die kommt es eben an. Wenn wir beide dieselbe Frau kennenlernen, dann guckt die auf seine Nase, und schon ist er wieder im Vorteil, obwohl er doch dafür gar nichts geleistet hat. Im Gegenteil, das war bei ihm pures Glück, und dafür wird er auch noch belohnt. Das können Sie jetzt natürlich alles als sehr subjektiv betrachten, aber man hört es halt überall, dass man für seine eigene Verantwortung verantwortlich ist, oder so, und wo will man da anfangen?

Das hat nämlich etwas zu tun mit Resilienz zu tun, dass man optimistisch in die Zukunft blicken kann, zumindest optimistischer als die anderen, die eventuell eine kaputte Nase haben. Wenn man nicht so viele Ressourcen hat, aus denen man sich mehr Selbstbewusstsein verschaffen kann, dann muss man die kleinen Dinge zusammenzählen, damit es für die richtige Durchsetzungsfähigkeit reicht. Ich habe mir jetzt natürlich Hoffnungen gemacht, dass er mit einer schiefen Nase aus dem Krankenhaus kommt, aber ein bisschen eben schon. Man weiß ja nie, wann man in eine Konkurrenzsituation kommt, und dann steht man plötzlich da und hat keine Argumente mehr, warum man den Job nicht kriegt oder die Frau oder die Kleingartenparzelle, und mit einem Mal ist auch die ganze Resilienz flöten. Das kann einem das ganze Leben versauen, ist Ihnen das eigentlich klar?

Sie müssen mir jetzt nicht mit dem christlichen Menschenbild kommen, das wird einem oft genug vorgeworfen – man kann doch auch ein anständiger Mensch sein, wenn man nicht in die Kirche geht. Ich finde es auch gut, wenn man sich hier in der Nachbarschaft ein bisschen Solidarität erhält, zum Beispiel, wenn man für jemanden den Rasen mäht, der das aus gesundheitlichen Gründen gerade mal nicht kann. Es ist ja nicht dauernd, da müsste man sich dann schon mal Gedanken machen: wenn einer nicht seinen Rasen mähen kann, wozu braucht er dann ein Einfamilienhaus mit Vorgarten? Ist das für die Gesamtgesellschaft tragbar? Gibt es denn nicht genug andere, für die dieses Einfamilienhaus mit Vorgarten viel besser geeignet wäre, weil sie es aus Eigenverantwortung besser bewirtschaften würden? Da setzt dann eben schnell die soziale Kälte ein, wenn man immer nur auf nebensächliche Details schaut, statt das große Ganze im Auge zu behalten.

Sie müssen mir jetzt auch erst recht nicht mit Rassismus oder irgendwelchen anderen Vorurteilen kommen, wir wissen doch beide, wie das läuft. Da macht man einmal eine schlechte Erfahrung mit einer Person mit unnormaler Hautfarbe, oder wie das jetzt korrekt genannt werden soll, und schon gilt man als Nazi, nur weil man öffentlich darüber spricht. Im Gegenteil, das sind ja meistens wir, die Mehrheit, die hier diskriminiert wird, weil immer der Vorwurf mitschwingt, wir würden alle Rassisten sein. Natürlich kriegen wir häufiger einen Job oder eine Wohnung als einer von denen, aber das liegt ja auch daran, dass wir nun mal mehr sind, wenigstens im Augenblick noch. Ich habe mir das nämlich nicht ausgesucht, das mit der Hautfarbe, also gibt es auch keinen Grund, mich dafür zu diskriminieren. Und wenn ich die Wohnung kriege und der nicht, dann liegt das vielleicht daran, dass ich mehr Glück gehabt habe, aber dafür kann man mich doch nicht verantwortlich machen, oder?

Andersherum ist das nämlich ganz genau so. Als Millionär können Sie häufig auch nichts für Ihren Reichtum, weil Sie das Geld geerbt haben. Man macht die Menschen dafür verantwortlich, dass sie einmal im Leben Glück gehabt haben, und dann müssen die sich ein Leben lang diese Neiddebatten anhören. Das zerstört doch erst recht den sozialen Zusammenhalt, und dann wundern sich wieder alle, dass diese Gesellschaft so gespalten ist. Wir müssen viel mehr aufeinander zugehen, Verständnis für die anderen Menschen entwickeln, sonst werden wir mit unseren Problemen nie fertig.

Aber ich will mich nicht beschweren, im Großen und Ganzen bin ich doch mit meiner persönlichen Lebenssituation recht zufrieden hier in diesem Umfeld. Stellen Sie sich mal vor, hier würden Arbeitslose wohnen.“


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