Der Kater auf dem ebenso schwarzen Samtkissen döste vor sich hin; sicher hatte der die Termine im Gedächtnis, oder ihn schien nichts zu stören, nicht die Türglocke und nicht das Knarren der Dielen. Durch den dünnen Vorhang konnte ich in den Salon blicken, wo Hiltrud Paluffke in der Balkontür stand und eine Zigarette rauchte. Ich räusperte mich leise.
Madame Zora setzte sich an das Tischchen und zupfte die blütenweiße Spitzendecke zurecht. „Ich nehme doch an, ich bin Ihnen empfohlen worden.“ Dabei hob sie das Seidentuch von der spiegelblank polierten Glaskugel. „Nicht direkt“, gab ich zu. Sie war nicht besonders überrascht. „Nun“, antwortete sie lächelnd, „die meisten geben ja nicht gerne zu, dass sie meine Dienste in Anspruch nehmen.“ Das traf auf mich nicht zu; zwar war es mir nicht gerade unangenehm, bei ihr zu sitzen, aber ich hatte auch gar nicht vor, sie zu befragen. „Was mich wirklich interessieren würde“, gab ich zurück, „sind Sie in Ihren Vorhersagen denn wenigstens treffsicher?“ „Ich lebe von meinem Ruf“, sagte sie knapp. „Das muss nichts heißen“, bohrte ich weiter. „Schließlich ist es für Ihre Kunden auch nicht erheiternd, wenn sie mit einer falschen Vorhersage zu Ihnen kommen müssten, und die meisten würden es wohl gar nicht erst versuchen.“ Sie musterte mich eindringlich. „Ich bin Ihrer Meinung nach anscheinend eher eine Unwahrsagerin?“
Inzwischen hatte sie ein paar beschwörende Bewegungen mit ihren Händen vollführt, als würde sie damit die Kugel in Schwingungen versetzen oder ihr auf andere Weise übersinnliche Bilder entlocken. Ihre Stimme wirkte nun etwas monoton, wenn auch noch nicht ganz entrückt. „Was wollen Sie wissen?“ Ich überlegte nicht lang. „Mich würde interessieren, ob Sie sich mit Ihren Vorhersagen in der letzten Zeit oft geirrt haben.“ Ernüchtert ließ sie die Hände sinken. „Ein ausgewachsener Skeptiker“, mokierte sie sich. „Wir können es ja so machen: Sie stellen mir ab jetzt vernünftige Fragen, statt mich als Scharlatanin hinzustellen, und dann dürfen Sie gerne in ein paar Wochen wiederkommen, wenn sich Ihre Erwartungen nicht erfüllt haben sollten.“ Das schien mir ein guter Handel zu sein.
„Wird sich irgendetwas ändern?“ Madame Zora sah mich erstaunt an. „Selbstverständlich wird sich nichts ändern, wie kommen Sie darauf?“ Die apodiktische Schärfe ihrer Antwort ärgerte mich ein wenig. „Meinen Sie, eine derart allgemeine Antwort könnte auch nur irgendwie sinnvoll sein?“ „Bei einer derart allgemeinen Frage: ja.“ Ich musste zugeben, sie hatte recht. „Es liegt an der Angst, denn die Menschen wissen, dass sie sich ändern müssten – aber ihre Angst, sich ändern zu müssen, ist größer als die Angst vor dem, was kommt, wenn sie sich nicht ändern.“ Das leuchtete mir ein, auch wenn es den meisten nicht klar was, was kommen würde. Aber vielleicht lag es auch gerade daran.
„Das mit den Krankenhäusern“, begann ich vorsichtig, aber sie schüttelte den Kopf. „Es wird niemanden interessieren, solange es noch nicht zu spät ist, und wenn es zu spät ist, können wir es auch nicht mehr ändern.“ Offensichtlich beruhten ihre Prognosen auf Erfahrungswerten. Sie stritt es nicht ab. „Die meisten Erkenntnisse über die Zukunft sind im Grunde nichts anderes als Beobachtungen der Vergangenheit, wenn man auf die generelle Lernunwilligkeit der Menschen vertraut.“ Sie setzte also voraus, dass das Meiste vorhersehbar war. „Der Krieg war vorhersehbar, unsere Abhängigkeit von einer längst veralteten und krisenanfälligen Art der Wirtschaft, die sozialen Probleme potenzieren sich – Sie hätten mich schon vor zehn Jahren fragen können, ich hätte Ihnen nichts anderes in Aussicht gestellt.“
Es blieb aber noch die Frage, warum wir alle den Prophezeiungen nicht glauben würden, auch wenn sie sich immer wieder als sehr zuverlässige Vorhersagen herausstellten. „Das ist nur die halbe Wahrheit“, erklärte sie. „Wenn ich Ihnen sage, Sie sollten morgen besser vorsichtig sein, weil Ihnen sonst etwas zustoßen könnte, geschieht entweder gar nichts, so dass Sie im Nachhinein Ihre Vorsicht als notwendig ansehen – oder ein Dachziegel fällt Ihnen auf den Kopf, was unwahrscheinlich, aber nicht auszuschließen ist, und Sie nehmen meine Warnung ernst.“ „Und bei allem anderen?“ Sie zögerte einen Augenblick, dann deckte sie die Glaskugel wieder ab; wir waren so weit von allem Magischen entfernt, dass wir sie wohl nicht mehr benötigten. „Wenn ich Ihnen zur Vorsicht rate, weil wir in ein paar Jahren einen Hitzesommer nach dem anderen haben werden, an dem Sie furchtbar leiden oder sogar Schaden nehmen könnten, werden Sie es für eine Stimme unter vielen halten, von denen sich nie etwas bewahrheitet hat, gegen das Sie ohnehin nichts dagegen zu tun in der Lage sind.“
Es war etwas unbefriedigend, denn nun hatte ich alle Antworten, wusste aber trotzdem nicht, was ich tun sollte. Aber vermutlich ging es nicht nur mir so. Madame Zora blickte fast trostvoll. „Machen Sie sich nichts daraus“, beruhigte sie mich. „Mir geht es genau so. Völlig egal, wie sinnvoll mein Rat ist, die meisten Kunden kümmern sich nicht darum.“ Ich stand von meinem Stuhl auf, bedankte mich und wollte schon gehen. „Sie sollten aufpassen“, warnte sie mich. „Man weiß ja nie.“
Der Kater lag noch immer auf dem schwarzen Samtkissen. Er war das wohl schon gewohnt, dass man sich nicht um ihn kümmerte, denn sonst hätte er mir einen furchtbar gefährlichen Blick zuwerfen müssen. Und wer will das schon.
Satzspiegel