Kammerspiel

16 02 2023

Herr Breschke war verzweifelt. „Das ganze Geld“, stieß er mit erstickter Stimme hervor. „Es sind an die tausend Euro, ich war gerade erst auf der Bank, und jetzt weiß ich nicht, wo mir der Kopf steht!“ Ich trat ins Haus und legte ihm beruhigen den Arm auf die Schulter. „Wir wollen uns die Sache einmal ganz genau ansehen.“

Nach wenigen Schritten hatten wir die Tür zum geräumigen Wohnzimmer erreicht, hinter der sich das Drama abgespielt hatte – in diesem Augenblick noch abspielte, denn die entsetzliche Ungewissheit hielt an. Das lederne Portemonnaie, das Breschke sonst teils in der Manteltasche mit sich trug oder in der Küchenschublade verstaut hatte, war nicht nur wegen der zahlreichen Karten und Ausweise für jeden Unbefugten von großem Interesse, so dachte er, auch das Haushaltsgeld sowie eine gewisse Reserve für unvorhergesehene Ausgaben befanden sich in dieser Börse, die jüngst zum Objekt einer Auseinandersetzung geworden war. „Wir haben in letzter Zeit öfter Handwerker im Haus“, erklärte der pensionierte Finanzbeamte. „Und wie ich nun dem Gesellen von Schlabrowski und Söhne seinen Lohn für die neuen Spangen an der Regenrinne in die Hand geben will, räuspert sich meine Frau.“ Da ich Frau Breschke kannte, wusste ich nur zu gut, was die Stunde geschlagen hatte.

Hier standen wir nun im Wohnzimmer. Matte Wintersonne schien aus dem Garten durchs Fenster hinein, auf dem Sessel lag Bismarck, der dümmste Dackel im weiten Umkreis, und schlief. Breschke zeigte auf die Schrankwand, genauer: auf eine der beiden Schubladen, die unterhalb der Anrichte in das massive Eichenmöbel eingelassen waren. „Ich dachte mir, hier würde niemand suchen, denn als ich das Geld aus dem Küchentisch genommen habe, muss der Klempner es gesehen haben.“ „Deshalb der Streit mit Ihrer Frau“, schloss ich. Er nickte. „Hier kann ich schnell die Tür hinter mir schließen, das Portemonnaie aus der Schublade holen und es danach wieder ordentlich wegschließen.“ So weit ich dem Plan folgen konnte, fiel mir nichts für den alten Herrn Ungewöhnliches auf; dass sich beide Laden mit Hilfe desselben Schlüssels öffnen sowie zusperren ließen, dieser also so gut wie immer in einem der beiden Schlösser zu stecken pflegte – das focht ihn nicht an. „Jetzt wollte ich eben schnell zum Zeitschriftenhändler und eine Karte für den Geburtstag von Doktor Klengel besorgen, da sah ich, dass ich nichts sah!“ Horst Breschke rang die Hände. „Ich war doch die ganze Zeit hier im Raum, weil ich kurz vorher das Geld hineingesteckt hatte, also in die Geldbörse, die Börse in die Schublade, aber der Schlüssel – weg!“ „Ein ordentliches Raum-Zeit-Kontinuum“, befand ich, „und Sie haben das Wohnzimmer zwischendurch nicht verlassen?“ Er schüttelte verzweifelt den Kopf. „Meine Frau wollte ja Staub saugen, also hat sie die Tür so lange von außen verschlossen, bis sie fertig war.“ Er blickte einmal um uns herum. „Einfach weg!“

Ich überlegte, was wohl Anne zu dem Problem sagen würde. Als geübte Strafverteidigerin hatte so gut wie jeder Fall ihren kriminalistischen Instinkt geweckt, mit dem sie nicht selten das eine Moment aufspürte, das das Rätsel lösen und die Unschuld ihres Mandanten beweisen konnte. Würde sie die Fensterbank mit den verdächtig gerade stehenden Topfblumen unter die Lupe nehmen? Oder aber den Fernseher anhand seiner Staubspuren auf eine kurz zuvor stattgefundene Bewegung untersuchen? Ich zauderte. Lag das Geheimnis des verschwundenen Schlüssels vielleicht sogar außerhalb dieses Raums, und wir hatten es nur nicht bemerkt? Das aber war anhand der Indizienlage nahezu ausgeschlossen.

„Fassen wir die Sache zusammen“, begann ich, „das Geld ist nicht weg, es ist nur gerade nicht zu Ihrer Verfügung.“ Breschke nickte irritiert. „Aber ich muss doch irgendwie an mein Portemonnaie kommen, und das ist nicht dasselbe, als würde das Geld noch auf der Bank liegen!“ „Lassen Sie uns gründlich überlegen.“ Ich führte ihn zum Sofa und ließ ihn Platz nehmen. Hilflos sah er von der Wand zum Fenster und zurück. „Es gibt bestimmt keinen Ausgang aus diesem Zimmer“, überlegte ich, „und vermutlich auch keine Falltüren.“ Er konnte mir kaum folgen, aber das war nicht so wichtig. „Und da ich nicht davon ausgehe, dass Bismarck sich den Schlüssel geschnappt hat, muss er wohl noch hier sein.“ „Ich verstehe nicht ganz“, erwiderte er, „er war doch schon vorher im Wohnzimmer?“ Es gab nur eine Chance: Breschke selbst würde mich zur Lösung führen, denn er war der einzige Zeuge.

Ich blickte in den Garten hinaus. „Der Baum ist schon ganz kräftig beschnitten worden“, bemerkte ich. „Hatten Sie nicht kürzlich eine neue Schere besorgt?“ „Sie hatten welche im Sonderangebot“, bestätigte er, „der Griff hat sich an der einen Seite gelockert, und da dachte ich, nach all den Jahren könnte ich mal eine neue kaufen, weil ja auch die Hecke da links am Zaun zu Gabelstein hinüber bald geschnitten werden muss.“ Geistesabwesend hatte er sich aus der Kristallschale auf dem Couchtisch ein Hustenbonbon genommen, es ausgewickelt und sich in den Mund gesteckt. Er versuchte das Papier in die Brusttasche seines Hemdes zu stecken. „Darf ich mal?“ Aus der linken Tasche seiner Strickjacke zog ich den Schlüssel heraus. Er sah mich mit großen Augen an. „Sie haben ihn ganz automatisch wegstecken wollen, aber da war keine Tasche.“ „Großartig“, jubelte Herr Breschke, „Sie sind ja ein Meisterdetektiv!“ „Nun, was machen wir?“ Er legte das Corpus delicti auf den Tisch. „Ich werde ihn in Zukunft so aufbewahren, dass nur ich ihn finde. Was halten Sie von der Küchenschublade?“