E 112

25 08 2021

Eine rote, noch eine rote, und eine gelbe. Herr Breschke legte die drei Tabletten sorgfältig in das kleine Glasschälchen und stellte die Dosen wieder zurück in die Küchenschublade. Dann schlürfte er einen Schluck aus seiner Teetasse, um die Pillen in einem Rutsch hinunterzuspülen. Es gelang ihm nur mittelmäßig.

„Ich habe die falsch genommen“, nuschelte er an seiner Zunge vorbei. Ein Ruck, dann waren die Tabletten geschafft. „Eigentlich müssen es zwei von denen hier sein, aber ich habe immer zwei von denen genommen.“ Die beiden Kunststoffdöschen unterschieden sich im Aufdruck, sogar die Marke war nicht dieselbe. Was die Inhaltsstoffe betraf, war es aber eigentlich egal, ob man zwei von den roten nahm oder zwei von den anderen wegließ; außer einer zuckrigen Hülle fanden sich immerhin weder Gelatine aus naturbelassenen Schweinen oder das tödliche Gluten darin, das zum Problem wird, wenn einem ein Doppelzentner Mehl auf den Kopf fällt. Horst Breschke trank noch einen Schluck, dann zog er die Lade wieder auf und nahm eine längliche Schachtel mit langen, bräunlichen Kapseln heraus. „Die waren kürzlich in einer Zeitschrift“, teilte er mir mit, „und ganz zufällig…“ „Ganz zufällig hatte die Apotheke sie im Sonderangebot, stimmt’s?“ Er nickte. „Ab und zu muss der Mensch ja auch mal Glück haben, nicht wahr?“

Immerhin hatte der pensionierte Finanzbeamte sich die Mittelchen nicht bei seiner Tochter besorgt, die als Reiseleiterin in fernen Ländern an keinem der grellbunten Straßenläden vorbeigehen konnte, ohne nicht wenigstens ein Fläschchen original nigerianische Kräutertinktur Made in Singapur oder ein Elektrogerät mit lustig britzelnden Stromkontakten mitzunehmen. Vermutlich hing an sämtlichen Zollstationen rund um den Globus ihr Konterfei mit der ausdrücklichen Warnung, ihr Handgepäck selbst in Schutzkleidung nur bei Lebensgefahr zu untersuchen.

Ich beäugte die Schachtel. Herr Breschke hatte eine Hälfte bereits verbraucht, so dass neben der zweiten Schachtel im Schrank noch die andere Hälfte der ersten Packung übrig blieb. „Und wozu soll das gut sein?“ Er schaute ein bisschen verlegen auf den Boden, möglicherweise war er auch ein wenig errötet. Was fragte ich auch. „Meine Frau“, murmelte er, „aber die weiß nichts davon – hinten fallen mir in der letzten Zeit so viel Haare aus, da muss man doch irgendwas machen.“ Ich lächelte. Immerhin hatte er sich nur leicht wirkende Mittel besorgt, wenngleich auch diese sicher versprachen, wie Adonis selbst den Garten zu durchschreiten und die Harke wie Orpheus zu ergreifen. „Die anderen sind nur wegen der Vitamine“, belehrte er mich, „ich habe mir das genau durchgelesen, die sind auch in Obst und Gemüse.“ „Das mag wohl sein“, wandte ich ein, „meiner Erinnerung nach wurden diese Stoffe aber bisher eher in Gemüse und Obst an den Mann gebracht.“ Er dachte nach. „Das mag stimmen.“ Herr Breschke dachte wirklich nach, und dann hatte er die Lösung. „Aber wenn zum Beispiel die Tagesdosis an Vitamin A in der roten Pille ist, dann brauche ich ja an diesem Tag keine Möhren mehr zu essen, richtig?“ Ich konnte es nicht abstreiten; Triumph glomm in seinen Augen. „Wenn ich also einen Tag lang keine Möhren esse, dann ist eine einzige Pille ausreichend?“ Der Logik konnte ich mich nicht entziehen, mehr noch: ich wusste, worauf es hinauslaufen würde. „Wenn ich also nicht jeden Tag so viel Möhren esse, dass ich ohne diese rote Pille genug Vitamin A bekomme, was mache ich dann ohne die rote Pille?“

Da ich weiteren Exkurse über die vermeintliche Baugleichheit künstlicher und natürlicher Vitamine an dieser Stelle aus dem Weg ging, waren wir schnell an dem Punkt, an dem die Winkelstruktur synthetischer Moleküle und ihre Reaktionsneigung mit Spurenelementen wie Zink und Selen keine tragende Rolle mehr spielten. „Die Apothekerin hat mir erklärt, dass man alle Bestandteile immer auf das Medikament schreiben muss.“ Herr Breschke wusste, wovon er sprach. Ich las auf der Packung. „E 112“, buchstabierte ich, „das klingt ja fast schon gefährlich.“ Er hatte den Beipackzettel entfaltet und die Brille aufgesetzt. „Ich kann da nichts entdecken, aber etwas Verbotenes werden die da wohl nicht reingemischt haben, oder?“ Ich schwieg. „Oder?“

Neben den genannten Döschen befanden sich auch Brausepulver mit Vitamin C im Vorrat, eine Packung Lutschtabletten für den B-Komplex sowie ein hoch dosiertes Kombi-Präparat, das bei nur einer Ladung pro Tag die Abwehrkräfte gegen alles stärken sollte, was der Teufel ausgespien hat. „Es scheint mir doch ein wenig überdimensioniert“, mutmaßte ich, „warum muss man diese ganzen Dinge nebeneinander einnehmen, wenn doch eins schon die vollkommene Wirkung verspricht?“ Er kratzte sich an der Stirn. Eine Wirkung, von einer vollkommenen wollen wir gar nicht sprechen, blieb jedoch aus. „Man muss dem Körper ja auch etwas anbieten“, erklärte Herr Breschke. „Außerdem muss man immer darauf achten, dass es im rechten Maß ist, sonst wird es nicht verarbeitet.“ „Sie spülen sich also Vitamine in den Körper, die mit Ihrem Tee wieder ausgeschieden werden“, konstatierte ich. „Und noch eine Frage: wenn diese rote Pille eine Tagesdosis an Vitamin A enthält, warum nehmen Sie dann jeden Tag zwei?“

Ich musste mich ein bisschen beeilen, weil der Wochenmarkt schon um halb eins vorbei war. Aber die Zitronen für Herrn Breschkes Tee bekam ich noch. Was man nicht alles tut, wenn man seit Tagen ein wenig Halskratzen spürt.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DLII): Aberglaube

19 02 2021
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Rrt musste es von einem Schwippneffen aus der dritten Quersippe angenommen haben. Jedenfalls klemmte man sich nun nicht mehr die Reiser des Buntbeerenstrauches symbolisch hinters Ohr, um das Jagdglück auf die Säbelzahnziege zu locken, man malte rote Beschwörungsbilder auf die dem Sonnenaufgang nächstliegende Wand der Höhle, in der das Tier zerlegt werden sollte. So oder so, meist zerlegte das Tier eher den Jäger, doch wer stur mit Zweig am Horchlöffel auszog, wurde fortan schief angesehen. Oft hielt man die Leute für etwas naiv bis ziemlich doof, und da Be- wie Verschwörung auch theoretisch gut funktioniert, dichtete man den Spökenkiekern mit dem Grünzeug auch gern etwas anderes am Kopf an, das bestimmt Unglück für den Rest der Sippe bedeutete. So wuchs auf durchaus gut gedüngtem Boden, was der durchschnittliche Feuchtbeutel bis heute Aberglauben nennt.

Aberglaube, das Wort drückt den Widerspruch aus, in dem sich die offizielle Frömmigkeit zu ihren meist sorgsam vergrabenen Wurzeln befindet; der sich mit Totem und Talisman behängende Bürger weiß natürlich, dass Laufrichtung und Farbe einer Katze nichts mit Zu- und Unfällen zu tun haben, lehnt auch die mittelalterlichen Begleitexzesse am Rande der Hexenverbrennung ab, gruselt sich aber instinktiv und vertraut auf vierblättrigen Klee als praktischen Angstlöser. Die superstitio ist übrig geblieben aus versunkenen Kulturen eines vorwissenschaftlichen Zeitalters, allerdings nur in den Formen, die sich nicht für eine geschmeidige Umsemantisierung eigneten. Den Krähenruf als Boten des Todes lehnt der aufgeklärte Citoyen ab, den christlichen Blutritt als Schutzzauber für exakt einen Herrschaftsbereich erkennt er als überformten Mystizismus gegen germanische Geister noch an, die inzwischen säkularisierte Fahnenweihe, bei der das Mana eines energiegeladenen Objekts durch die Berührung auf ein anderes Objekt übergeht und so die militärische Unschlagbarkeit eines Bataillons sichert, steht als behördliche Kulthandlung sowieso jenseits jeder Kritik und wird nur von gottlosen Kulturzerstörern abgelehnt. Aberglaube ist die bucklige Schwester der staatstragenden Religion, an die man glaubt, um sein soziales Image gegen die Anfeindungen des Teufels zu imprägnieren.

Doch ist er so hartnäckig wie produktiv, nutzt die Mundpropaganda und die Nachahmung in jeder Phase der Sozialisierung, ist bis zum Amorphen verform- und verschwiemelbar und dabei schneller unterwegs als die im Ritus langsam verkrusteten Strukturen und Inhalte des Hochglaubens. Während der postmoderne Pater noch nach seinem Brevier kramt, um das passende Stoßgebet zu finden, hat Erika Mustermann schon auf Holz geklopft.

Die Produktivität dieser Wahnvorstellungen, die oft einfach der Angstregulation und der Erklärung komplexer Sachverhalte dienen, sorgen so auch für eine fröhliche Auferstehung aller Hirnrissigkeit, die in schwierigen Zeitläuften den Bekloppten aus der Rübe rattert: mit magischen Mätzchen will der Bekloppte sich ein radikal vereinfachtes Weltbild zurechtzurren, damit das Denken ja kein Kopfweh macht. Was sich messen, zählen, wiegen und wägen lässt, das lässt im Epizentrum der Behämmerten die Gewissheit wachsen, Herr seiner Welt zu sein. Wo die Situation sich verfinstert, weil Zusammenhänge nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen sind – oder in ihrer Unerbittlichkeit das gewohnte Bild einer beherrschbaren Umgebung in die Tonne treten – glaubt der Hominide buchstäblich alles und alles buchstäblich. Wo sich mit institutionalisierter Vernunftreligion nichts mehr wegzaubern lässt, da greift der Kurzstreckendenker zu den religiösen Hausmitteln aus dem gut eingetrockneten Lager der Altvorderen: Hasenpfote und Hühnergott, jeder Strohhalm hilft, denn in angespannter Lage versteht eins die Welt vor allem zeichenhaft, ohne jedoch einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sich jeder aus Vogelflug und Gespenstern seine eigene Semiotik zusammenklöppelt. Allein dadurch, dass wir dem Tragen roter Mützen eine tiefe Bedeutung beimessen, die je nach Überlieferung für Reichtum sorgt oder die Wahrscheinlichkeit eines Brandes erhöht, schafft sich Illusion den Resonanzboden, den sie für ihre Selbstwahrnehmung als Realität nutzt. Man wird schon der organisierten Form von Hokuspokus nicht Herr, es wird gependelt und mit Heilstrahlen gewedelt, gesundgebetet und allerhand Murks für teuer Geld verkloppt. Was nun billig und schnell anwendbar ist, wenn man nur selbst daran glauben kann, setzt sich an die Spitze sämtlicher Desinformationskampagnen, die von Arschgeigen gegen Urteilskraft und Erkenntnis gefahren werden.

Wie putzig, dass sich in einer Gesellschaft der Leistungsträger die Verunsicherten auf esoterischen Firlefanz verlassen, der nur auf Selbstbetrug und Wunschdenken beruht und nichts als Täuschung hinterlässt – und Enttäuschung. Aber was erwartet man von einer Gesellschaft, die den Kapitalismus als Glaubenssystem wählt, das auf der irrationalen Vorstellung vom materiellen Fetisch als Retter vor der Bedeutungslosigkeit beruht. Wer’s glaubt, wird selig, wozu zeitnahes Ableben Voraussetzung wäre. Alles wird gut. Bei wem auch immer.





Kleine theologische Besteckkunde

1 11 2020

für Christian Morgenstern

Man weiß genau, dass hunderttausend sitzen
an Engeln auf den vielen Nadelspitzen.

Des Teufels aber sind auch spitze Listen,
so warnte man beim Speisen schon die Christen,

dass sie die Gabel mit den dünnen Zinken
nicht oben hielten: sollte Unheil winken.

Denn alle, die da Leichtsinn walten ließen,
warnt man, sie würden Engel gar aufspießen.

Man äße allgemein die Mahlzeit besser
und frömmer obendrein mit einem Messer.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CCLXXVI): Die vegane Flüstertüte

20 02 2015
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Möglicherweise handelt es sich um einen Test, wenn Kandidaten beim Geheimdienst anheuern: leb einen Monat lang vegan. Die angehenden Spione krallen sich bereits Tage später zitternd in die Kleider ihrer Mitlebenden, um ihnen Predigten zu halten vom Unterfangen, ab jetzt auf Mortadella und Quark zu verzichten. Das sichere Geheimnis ist von dem Augenblick keines mehr, sobald sich ein argloser Mensch nähert. Die Flüstertüte wird ausgepackt, die Botschaft brüllt sich in alle Gehörgänge und hinterlässt ihre Schleifspuren auf jedem Nervenrasen. Offenbar ist es niemandem aus dieser Trockennasenaffenart möglich, ohne den Verzehr von Würmern und Schnaps zu lesen, ohne eine Fernsehsendung daraus zu machen. Wer Fernsehsendungen kennt, wir auch wissen, wie die meisten entstehen. Und welche Rolle Schnaps und Würmer bei ihrer Entstehung gespielt haben dürften.

Nichts schafft so nachhaltig Aufmerksamkeit wie die lauthals ausposaunte Nachricht, sich hinfort ohne Fleisch (Käse, Eier, Blumenkohl, künstliche Farbstoffe, you name it) ernähren, sich ohne totes Tier kleiden, sich ohne Zuhilfenahme größerer Geschnacksverstärker mitteilen zu wollen. Die Nachbarschaft schreckt empfindlich getroffen hoch, womit das Hauptziel schon erreicht sein dürfte, und stimmt emphatisches Geheul an ob der verlorenen Seele. Als sei ein Mensch verloren, der künftig sein Frühstück ohne Kaffee in arabesker Goldfixröstung hinters Zäpfchen schwiemelte – Generationen von Japanern und Sozialisten, Amis und Dresdnern haben sich ohne jenes Geplörr durch die nackte Existenz geschlagen, sie wurden alt, blieben aber trotz aller Wirrnis im Kopf leistungsfähig und laufen noch ein paar Jahre solide auf Teebeuteln. Der Prozentsatz von ihnen, der eifrei übersteht, auf Weißmehl verzichtet oder in den Dschihad zieht gegen den gebleichten Industriezucker, sie alle sind nicht erheblich. Keiner von ihnen nimmt ein Wagnis auf sich, das Wehklagen rechtfertigte, keinem sollte man vorab schon Kränze flechten, nicht einmal solche von Lorbeer.

Nicht einmal Fleischverzicht ist der Erwähnung wert. Was leistet der Faster, der auf dem eigenen Luftkissenantrieb über den Dingen schwebt, was nicht auch Millionen von Indern leisteten, Buddhisten, Jainas, vor allem Völker, die sich noch nicht die Segnungen des Turbokapitalismus auf die Fahne geschrieben haben, damit sie regelmäßig gegen die eigenen Interessen andemonstrieren können? Gibt es in Bangladesch Autokorsos gegen europäische Drittwagen? Protestieren chinesische Wanderarbeiter gegen den Smartphone-Verbrauch in der EU? Fordern Gauchos die Steakhausbetreiber auf, ihre Fleischfeudel wenigstens dünner zuschneiden, damit die Anden eine Spur langsamer in den Ozean erodieren?

Störend daran ist nicht die an sich tolerierbare Haltung, sich nicht täglich ein halbes Schwein in die Figur zu pfropfen; störend daran ist jenes larmoyante Gewese, das noch den zufälligen Passanten einer Wurstbude zum Zeugen eines Völkermords macht und von ihm solidarisches Geplärr fordert mit den armen Tibetern, die nicht schon zum Frühstück Schokoladenhörnchen und Aluminiumkapselkaffee haben. An einer Stelle den Konsumverzicht zu beginnen ist nicht falsch; das bisschen Heiligkeit von der Stange schon für das richtige Leben im Falschen zu halten ist geballte Eitelkeit und damit eine Beule der Ichlingspest, wie sie Dünkel hervorbringt auf dem Jahrmarkt der Selbstgefälligkeiten.

Der vorwissenschaftliche Aberglaube, durch intermitterenden Verzicht auf Bratwurst und Schlagermusik würden die Ablagerungen im Gedärm herausgemeißelt, hat sich noch immer nicht erledigt in einer Welt, in der die Verdübelten Impfen für Teufelswerk halten und Zuckerkügelchen für Medikamente, mit denen man Nachtschweiß und Arbeitslosigkeit heilen kann. Das mechanistische Weltbild feiert Volksfeste, und hilft das ganze Gewese nicht, dann hat der vermeintlich Erkrankte nur nicht heftig genug gebetet. Als Abspeckritual ist die drei- bis siebenwöchige Hysterie nicht nur nicht geeignet, sie bringt nach etwas Flüssigkeitsverlust die verlorenen Pfunde auch mit Verstärkung zurück. Neben Nierengrieß und Herzrhythmusstörungen bringt die organische Geißelung vor allem solide Kreislaufstörungen und Schwindelanfälle, letztere gerne auch bei Nachfrage nach dem Erfolg der Kasteiung.

Am eitelsten noch wirkt die Abstinenz von Alkohol und Drogen. Was der vernünftige Hominide am wenigsten braucht, daraus macht er den größten Aufriss. Als hinge seine ganze lächerliche Inkarnation davon ab, ob er sich einmal am Tag Schnaps reinpfeift, mit oder ohne Würmer. Im Gegenteil ist sein Drogenkonsum wie die institutionalisierte Beichte: ein Jahr lang baut er Mist und bembelt sich die Birne dicht, dafür sucht er einmal für wenige Tage Vergebung in klarem Wasser und kaltem Haferschleim, weil es die auf Spiritualität getrimmte Mechanistik seinem Denken so vorschreibt. Alles wird gut, denn ihm ist das Heilsversprechen, ein flacherer Bauch, weniger Dellen im Hintern und endlich keine Luftlöcher mehr im Großhirn, in großen Lettern in den Himmel gemeißelt. Hauptsache, jeder kann es lesen. Denn seit wann praktizierte der Bekloppte seinen Kinderglauben nur für sich allein.





Glücksbringer

10 07 2014

„Wundervoll!“ Umständlich klebte sich Herr Breschke ein Stück Heftpflaster auf den Daumen. „So scharf hatte ich meine Küchenmesser ja noch nie!“ Ich hätte ihn doch besser warnen sollen, dass der Wetzstein sein Versprechen halten würde. Stattdessen kramte er mit der lädierten Linken schon wieder in der Jackentasche.

„Eine Münze“, klagte der pensionierte Amtsrat, „ich muss Ihnen doch die erste Münze geben, die ich finde. Sonst schneidet es unsere Freundschaft entzwei.“ „Das muss südliches Ostwestfalen sein“, befand ich. „In den anderen Landstrichen meiner Heimat pflegt man nur bei Scheren zu bezahlen, und auch dann, wenn man sie sich kaufen lässt.“ Er nuschelte noch immer, was auch am Daumen in seinem Mund lag. „Mein Urgroßvater mütterlicherseits, aber den werden Sie nicht mehr kennen, und der hatte ebenfalls, und damals gab es noch nicht einmal den Euro.“ Immerhin hatte er nur ein Kupferstückchen in der Tasche gefunden, es blieb bei der symbolischen Bezahlung. Dennoch fand ich es merkwürdig. Seit wann war er derart abergläubisch? „Ich würde ja heute nicht mehr den Rasen mähen.“ Über den Platanen sammelte sich graues Gewölk, es sah nach leichten Schauern aus. „Wissen Sie, donnerstags zwischen den Eisheiligen und den Hundstagen, das bringt ja meist eine schlechte Ernte.“ Horst Breschke schielte auf seine Rosen. Ich schielte auf sein Apfelbäumchen, zwar klein und noch nicht zu mehr bereit als zu einer spärlichen Blüten, aber gucken konnte man ja mal. „Und mit dem Wässern wäre ich auch sehr vorsichtig. Wenn man nach dem Regen gießt, hört an angeblich die Frösche lachen.“ „Jaja“, beeilte sich der Alte. „Das weiß man doch.“

Schnell hatte ich noch den Rechen umgedreht – wer in eine Harke tritt, die an der Hauswand lehnt, muss sieben Tage lang mit Kopfschmerzen rechnen – und den Werkzeugkasten am Fuße der Kellertreppe inspiziert, da kam auch schon der Hausherr. „Wegen des Apfelbäumchens, ob man da nicht – “ „Vor allem sollten Sie keine Wäsche im Garten aufhängen.“ Er guckte irritiert. Tatsächlich hing da ein Handtuch über der Teppichstange, aber das reichte aus. „Stellen Sie sich vor, eine Frau in guter Hoffnung liefe unter der Teppichstange durch.“ „Sie würde sich den Kopf stoßen.“ Ich blickte ihn an. Er schwieg betroffen.

Das Haus hielt einer genauen Überprüfung nicht lange stand. „Das Hufeisen an der Kellertreppe hängt ein bisschen schief“, informierte ich den Hausherrn. „Sie sollten wissen, dass das nicht nur den finanziellen Status beeinflusst, auch Ihre Gesundheit könnte davon in Mitleidenschaft gezogen werden.“ Breschke druckste herum. „Sie glauben nicht daran?“ Verschämt schüttelte er den Kopf. „Macht nichts“, tröstete ich ihn. „Es soll angeblich trotzdem helfen.“

Bismarck lag friedlich in seinem Weidenkorb und schlummerte; der eigenwillige Dackel störte sich nicht an dem Aufruhr. Möglich, dass er der Vernünftigerer der beiden war. „Glauben Sie an Wasseradern?“ „Ich habe bisher noch keine gesehen“, gab ich amüsiert zurück. Bestimmt gehörte dies zu Breschkes Inventar, und ich müsste das Gespräch in eine ganz neue Richtung lenken, um ihn zum Umdenken anzuregen. Andererseits würde ich mit einem Grundriss von Feng-Shui-Lehre und Erdstrahlen nur schlafende Hunde wecken, und Bismarck wäre keiner von ihnen. „Am besten bewegen Sie den Korb nicht, während er darin schläft.“ Der alte Mann kratzte sich an der Stirn. „Dann also, wenn er gerade im Garten ist?“ Ich wurde überzeugend bleich. „Bloß nicht! Er will sich doch hinterher wieder hineinlegen!“ „Meine Frau meinte das auch schon“, gab Breschke kleinlaut zu. „Neulich wäre sie fast über den Korb gestolpert, weil jemand ihn verrückt haben muss. Und dann ist sie beim Staubsaugen auch ständig dagegengekommen.“ Es musste einen Grund geben, warum dieses Tier sich so unruhig benahm, an manchen Tagen mehrmals bellte und an anderen viel schlief. Welche eine günstige Fügung , dass ich gerade an diesem Tag sein Haus inspizierte.

„Das muss einmal ein Werbegeschenk gewesen sein“, grübelte Herr Breschke. „Oder unsere Tochter hat es irgendwann mal mitgebracht von einer Reise.“ „Es hat aber bisher noch keine negativen Einflüsse ausgeübt?“ Er schüttelte den Kopf. „Wir hatten einmal einen Wasserschaden, aber das kann auch daran liegen, dass ich damals den Hahn nicht ganz zugedreht hatte.“ Ich drehte das Kettchen mit dem Blechamulett zwischen den Fingern. „Es könnte sich durchaus um einen Unglücksmagneten handeln.“ Da er noch skeptisch blickte, musste ich die Sache präzisieren. „Die negative Strahlung muss ja irgendwohin – das leuchtet Ihnen doch ein?“ Er nickte unwillkürlich. „Dann müssen wir es vergraben.“ „Hier im Garten?“ Ich winkte energisch ab. „Und das ganze Grundstück verseuchen? Nichts da. Das Ding vergraben wir schön beim Nachbarn.“

Allein Bismarck zeigte sich einige Zeit lang recht interessiert an der Ligusterhecke. Gut, dass man wenigstens sein Körbchen in Ruhe ließ.





Die schwarze Dreizehn

13 02 2013

„Nur das kleine Eckchen hier oben.“ Herr Breschke rieb verzweifelt auf dem Glas herum, als könnte er dadurch den Riss herauspolieren. „Es ist ja nur diese eine kleine Stelle hier, sonst ist der Spiegel noch wie neu.“ Das traf auch zu, wenigstens für den angelaufenen schmiedeeisernen Rahmen rund um die grünlich angelaufene, halb blinde Scheibe.

Das Zimmerchen neben der Treppe war mit einer solchen Menge von Gerümpel vollgestellt, dass man hätte meinen können, Breschkes hätten jahrzehntelang jeden freien Kubikmillimeter in die Planung einbezogen und akribisch eckiges Sperrgut besorgt, um noch die unmöglichste Lücke zu füllen. Eingesponnen in ein dichtes Gewirr von Staubfäden und ohne Rücksicht auf Verluste gegen Tür und Fenster gekeilt boten sich dem archäologischen Entdeckermut ungeahnte Schätze. „Meine Frau meinte, ich sollte mal wieder aufräumen.“ Kleinlaut sah Breschke drein; er hatte gründlich geräumt, und das war das Problem.

Bismarck, der dümmste Dackel im weiten Umkreis, schien sich an dem kleinen Missgeschick nicht weiter zu stören. Er ließ sich ausnahmsweise einmal nicht zwischen den Beinen seines Herrn nieder, sondern bezog Posten auf der Treppe. „Ihre Frau wollte den Spiegel also wiederhaben?“ Horst Breschke schüttelte energisch den Kopf. „Sie weiß ja gar nicht, dass wir sie überhaupt noch haben. Das war ein Erbstück meiner Großtante Bertilla, und jetzt sollte ich den Sperrmüll bestellen – und jetzt passiert mir das!“ Er war untröstlich. „Sie wissen doch sonst so viel, was kann man denn da machen?“ Ich beäugte die Stelle kritisch. „Vielleicht könnte Ihnen ein Glaser helfen, aber vielleicht haben auch schon in einer dieser Autowerkstätten Glück, wo man Schäden in der Windschutzscheibe im Nu ausbessert.“ „Aber das ist doch nicht das Problem“, seufzte er. „Das ist ja gar nicht das Problem – es sind die sieben Jahre Unglück, die mich verfolgen werden. Wie bringe ich das meiner Frau bloß bei?“

Man hätte in diesem Raum zwar nicht unter einer Leiter durchgehen können, aber Holz, um darauf zu klopfen, war reichlich vorhanden. „Hatten Sie schon einmal die Anschaffung einer schwarzen Katze in Erwägung gezogen?“ Bismarck knurrte leise. Der pensionierte Finanzbeamte musterte mich skeptisch. „Sie führen doch wieder etwas im Schilde“, argwöhnte er, „raus damit – Sie brauchen gar nicht so vernünftig zu tun, Sie sind doch auch abergläubisch!“ Was half das Leugnen, ich musste ihm helfen. Sonst war an einen geordneten Rückzug gar nicht mehr zu denken.

„Schauen Sie mal, diese Löffel.“ Es waren ein gutes Dutzend, genauer: dreizehn Stück in der Schachtel. „Sie könnten damit ein altetruskisches Ritual vollführen.“ Breschke zuckte zurück. „Dreizehn!? Sie wollen mich wohl in die Hölle schicken!“ „Sie sollten es wenigstens einmal probieren.“ Breschke sträubte sich noch, aber sein Widerstand schien langsam zu erlahmen. „Ich probiere das ja gerne einmal aus, aber ich weiß nicht, ob das auch so sinnvoll ist. Immerhin, es sind dreizehn Löffel!“

Dabei war Breschkes Tochter diejenige, die den Aberglauben zu einer eigenen Kunstform entwickelt hatte. Sie hängt sonntags keine Wäsche auf, und wer weiß, was sie an Wäsche zu tragen pflegt, wünscht sich mehr Sonntage. Sie pfeift ausgelassen im Garten, nicht aber im Haus – was dazu führt, dass man sie gerne im Haus verschwinden sieht. Ihre sprichwörtliche Panik vor der Dreizehn jedoch war anscheinend familiäres Erbe. „Das bringt bestimmt Unglück!“ Ich drückte ihm die Dinge in die Hand. „Balancieren, ja?“ „Und wenn etwas passiert?“ „Breschke“, stöhnte ich, „was haben sich wohl die alten Etrusker dabei gedacht?“ „Aber…“ „Die Etrusker hatten mit der Zahl kein Problem, sie haben sie verwendet wie alle anderen auch. Und auch anderer haben das getan. Nehmen Sie die Italiener, die haben Angst vor der Siebzehn.“ Breschke winkte ab. „Siebzehn und Vier, klar. Das ist ja typisch italienisch, dass die Angst haben vor einem Kartenspiel.“ „Sehr gut“, knurrte ich, „das erklärt auch gleich, warum die Brasilianer die Siebzehn hassen.“ „Das liegt an der Sprache“, stammelte er, „das Wort bedeutet nämlich in etwa…“ „Gar nichts“, entgegnete ich. „Sonst müssten ja auch die Portugiesen etwas an der Zahl auszusetzen haben. Aber das trifft nur auf die Chinesen zu, und selbst da nur auf die Vier. Los jetzt! Einen über den anderen.“

Breschke weigerte sich doch glatt, sein antikes Teelöffelritual durchzuführen. „Sie bringen noch Unglück über unser ganzes Haus“ jammerte er. Plötzlich stolperte er, gerade eben noch konnte ich ihn festhalten; man soll sich seine Schuhe eben ordentlich zubinden. „Da sehen Sie es“, mahnte ich ihn. „Die Etrusker rächen sich.“ „Schnell auf Holz – “ Doch da war es schon zu spät. Breschke hatte de Spiegel, der nur an den Türrahmen angelehnt stand, mit der Hacke umgestoßen. Klirrend und krachend kippte das Ding um und hinterließ einen Haufen Scherben. Bismarck schoss jaulend die Treppe hinunter. Verdutzt schaute Breschke mich an. „Die Dreizehn – habe ich es nicht gewusst!“ „Sehen Sie es doch mal positiv“, entgegnete ich fröhlich. „Jetzt müssen Sie Ihrer Frau nicht mehr beibringen, woher der Spiegel kommt.“





Von links nach rechts

4 07 2012

Er sah etwas hilflos aus, wie er am Straßenrand stand und sich krampfhaft an der Hundeleine festhielt. Bismarck, der dümmste Dackel im weiten Umkreis blickte teilnahmslos in die Gegend; er litt unter der Sommerhitze und hätte lieber im kühlen Keller auf dem Steinfußboden gelegen, als hier auf der staubigen Straße zu warten, bis Herr Breschke es wagte, die Fahrbahn zu überqueren, genauer: bis er es aufgegeben hatte, auf diese schwarze Katze zu warten, die einfach nicht wieder aus dem Gebüsch kam, weder von rechts nach links noch in der anderen Richtung.

„Ich kann nicht“, wimmerte Breschke und tupfte sich den Angstschweiß von der Stirn, „diese Katze kommt gleich zurück, und dann muss ich genau hier stehen bleiben!“ „Ich bitte Sie“, mahnte ich. „Ein bisschen Aberglauben ist ja in Ordnung, aber meinen Sie nicht, dass Sie es zu weit treiben?“ Der pensionierte Finanzbeamte sah mich flehentlich an. „Natürlich ist das kompliziert, aber ich kann doch nicht einfach so über die Straße – wenn mir jetzt etwas zustoßen würde, dann müsste ich mir für den Rest meines Lebens Vorwürfe machen!“ „Wenn Ihnen jetzt etwas zustieße“, gab ich trocken zurück, „werden Sie für den Rest Ihres möglicherweise nicht mehr allzu langen Lebens ganz andere Sorgen haben. Lassen Sie diesen Unsinn und kommen Sie mit, Ihr Haus ist einmal schräg über die Straße, und dort werden Sie sich erstmal von diesem Schrecken erholen.“ Ich griff nach seinem Arm, doch er sträubte sich heftig. „Es war eine schwarze Katze, verstehen Sie? Pechschwarz!“ „Ich habe mit einer schwarzen Katze zusammengelebt“, antwortete ich unbeeindruckt, „sie hatte ein Talent, mir den letzten Nerv zu rauben, aber ich habe keine körperlichen Schäden davongetragen.“ „Von links nach rechts!“ Breschke knetete in wilder Verzweiflung die Hände. Beinahe mitleidig blinzelte der Dackel zu ihm herauf. „Sie ist hier entlang, von links, und dann nach da, rechts! Verstehen Sie nicht?“ „Auch das ist mir bekannt“, beschwor ich ihn. „Dieses Tier ist so gut wie jeden Morgen über meine Bettdecke marschiert, immer von links nach rechts – so gründlich, mir fiel erst nach zwei Wochen auf, dass der Wecker kaputt war. Wie Sie sehen, haben sich in meiner Nähe noch keine epochalen Katastrophen ereignet, an denen diese Katze hätte schuldig sein können. Lassen Sie es gut sein, Breschke, und kommen Sie mit nach Hause.“

Unterdessen hatte sich Frau Breschke am Zaun eingefunden; ihren Handzeichen entnahm ich, dass Sie meinen Besuch erwartet und Butterkuchen gebacken hatte. Rasches Handeln war Pflicht, sonst würde ich nie Herr der Lage. „Sie wussten, dass nach altem Volksbrauch Hinken hilft?“ „Hinken?“ Horst Breschke kratzte sich am Kopf. „Sie meinen, ich müsste über die Straße hinken, dann wäre das mit der Katze wieder neutralisiert?“ „Das gilt natürlich nur, wenn Sie auch fest daran glauben.“ Entrüstet streckte sich der Alte. „Ich bitte Sie“, rief er empört aus, „das muss man doch – als vernünftiger Mensch!“

Es muss ein gewöhnungsbedürftiger Anblick gewesen sein, wie wir beide den Fahrdamm überquerten, er verbissen hinkend auf dem linken Bein, ich als Stütze, die er für sein Gleichgewicht bemühte. Bismarck tat das, was er in solchen Augenblicken am liebsten tat, er wuselte geschäftig um die Füße seines Herrn herum und verknotete sich selbst in der Leine. Breschke war höchst konzentriert, er klemmte die Zunge zwischen die Zähne und hielt sich steif wie ein Spazierstock. „Wer denkt sich denn das aus“, keuchte er, „Hinken – gibt es denn keine andere Möglichkeit?“ „Sie hätten auch ein Huhn schlachten können“, begann ich harmlos, „aber wo bekommen wir jetzt ein lebendiges Huhn her? Und ich weiß auch nicht – nein wirklich, das wollen Sie gar nicht hören.“ „Was!?“ Um ein Haar hätte er sein Gleichgewicht verloren. „Sie müssten die Hühnerfüße auskochen und verspeisen“, teilte ich ihm mit, „falls Sie nicht zufällig einen roten Stein mit einem natürlichen Loch in der Hosentasche tragen.“ „Woher soll ich denn einen roten Stein bekommen?“ Vor lauter Aufregung vergaß Breschke zu hinken; ich ließ ihn gewähren, schließlich wollte ich auf dem Fußweg ankommen, bevor es dunkel war.

Schwer atmend hielt der Pensionär sich am Türrahmen. „Jetzt wird mir nichts mehr passieren?“ Ich seufzte. „Natürlich ist die Gefahr noch nicht gebannt. Sie können immer noch krank werden, wenn Sie nicht zur Vorsicht einen Tag lang weiter auf dem linken Bein hüpfen.“ Reflexartig zog er das rechte Bein hoch. „Einen ganzen Tag lang“, mahnte ich, „und nicht zu früh aufgeben. Sonst rächt sich die schwarze Katze doch noch!“ „Bloß das nicht“, wehrte Breschke ab, „jetzt habe ich es bis hierhin geschafft, dann werde ich den Rest auch noch hinkriegen!“

„Natürlich das Knie.“ Doktor Klengel zog ein Tablettenröhrchen aus der Tasche und legte zwei Pillen auf den Nachttisch des Patienten. „Sie haben es möglicherweise überanstrengt. Zwei Tage Liegen, danach eine Woche nur leichte Bewegung, keine Lasten tragen und Treppen vermeiden.“ „Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause, damit kein Unglück geschieht“, plapperte Breschke. „Weil der Schaden ja nun schon eingetreten war. Ich meine, hätte ich hüpfen sollen?“ Der Hausarzt lächelte nachsichtig. „Keinesfalls. Das täte ja nun kein vernünftiger Mensch.“





Wer’s glaubt, wird selig

19 06 2011

für Heinrich Heine

Mein Liebchen singt und betet nicht,
ist sonst auch höchst vernünftig,
denn wie sie von den Dingen spricht,
gibt Hoffnung mir auch künftig.

Nur hat sie Federn, Talisman
und bunte Amulette,
mit denen sie den Tag begann
und ging damit zu Bette.

Den Frieden schafft man nur mit List,
indem man anerkennt,
des einen Hokuspokus ist
dem andern Sakrament.





Schwarze Katze, weißer Kater

21 04 2010

„Es mag ja sein, dass da gar nichts dran ist, aber man muss sein Schicksal doch nicht unbedingt noch herausfordern!“ Herr Breschke blieb dabei, diese streunende schwarze Katze, die nicht nur Bismarck, den dümmsten Dackel im weiten Umkreis, zu Tode erschreckt hatte – was an sich bereits eine Freveltat sondergleichen war – musste so bald wie möglich vertrieben werden. Nicht auszudenken, was das Tier alles noch würde anstellen können. „Die ist glatt im Stande und jagt mir einen Schrecken ein, dass ich einen Herzanfall bekomme!“ Mich als lebenden Beweis ließ Breschke nicht gelten, obwohl mir seit Jahren mehrmals täglich eine schwarze Katze von links nach rechts und wieder zurück über den Weg lief, meistens schon am frühen Morgen, und ich hatte es bisher immer noch überlebt. Nichts zu machen, er blieb abergläubisch.

„Seien Sie vorsichtig“, riet ich Breschke, als er von der Leiter stieg; einen halben Eimer Moos hatte er bereits aus der Dachrinne gesammelt, wie immer hielt es Bismarck nicht, er lief seinem Herrchen zwischen den Beinen herum und versuchte, ihn mittels der Leine zu Fall zu bringen. „Halten Sie den Hund von der Leiter fern und kommen Sie nicht auf den Gedanken, darunter durch zu gehen.“ Er guckte mich grimmig an. „Machen Sie sich nur lustig“, schimpfte der pensionierte Finanzbeamte. „In Ihrem Alter war ich auch noch so leichtgläubig, aber jetzt habe ich Erkenntnisse gewonnen, denen ich – Bismarck, gehst Du da wohl weg!“ Zu spät, auf der Jagd nach gefährliche Taten planenden Gartenzwergen hatte der Hund bereits die von Breschkes Tochter im Dutzend angeschafften Spiegelglaskugeln umgerissen, die nun mit hellem Knall auf den Terrassenplatten zerplatzten und in die Gegend spritzten, dass der Dackel erschrocken jaulend unter den Buchsbaum floh. Horst Breschke schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „So ein Unglück aber auch“, jammerte er, „nicht nur, dass es Glas war, es war auch verspiegelt. Sieben Jahre Unglück! Womit habe ich das nur verdient!“ Insgeheim musste ich ihm Recht geben, wenn ich auch nicht genau wusste, womit er diesen Dackel nun verdient hatte; möglicherweise rächte sich das Karma einer verflossenen Inkarnation bei ihm.

Breschke fegte die Splitter zusammen und war schon drauf und dran, das Kehrblech in den Mülleimer auszuleeren, da hielt ich ihn zurück. „Vorsichtig! Am besten klopfen Sie vorher einmal auf Holz, dann dürfte die Gefahr gebannt sein.“ Ich sah ihn mitfühlend an. Als er keine Gegenwehr erkennen ließ, legte ich nach: „Wir wollen doch nicht, dass noch ein größeres Unglück passiert.“ Das nächste Objekt, das sich zum Klopfen anbot, war der Rahmen des Waschküchenfensters in knapp zwei Metern Höhe. Der alte Herr musste sich schon ein bisschen ausrenken, um ans Fensterbrett zu kommen. In dem Augenblick ließ er die Glassplitter auch wieder vom Kehrblech herunterrieseln. Ich war entsetzt. „Sehen Sie, das meinte ich. Hätten Sie vorher schnell auf Holz geklopft…“ „Jaja“, nickte er versonnen, „so schnell kann’s manchmal gehen.“ Offensichtlich hatte die schwarze Katze nicht nur seinen Kreislauf geschädigt. „Zur Vorsicht“, schlug ich vor, „sollten wir genaue Sicherheitsmaßregeln befolgen. Es könnte sonst durchaus die eine oder andere unliebsame Überraschung geben.“ „Ich werde nur eben die Vogeltränke ausbürsten“, rief Breschke und hatte bereits den Besen geschnappt – im allerletzten Moment hatte ich mich ihm in den Weg gestellt. „Sie hätten jetzt glatt mit dem linken Fuß zuerst den Rasen betreten!“ Er war verwirrt. „Darauf hatte ich gar nicht geachtet.“ „Oh weh!“ Ich brach in Klagen aus. „Was da nur alles hätte eintreten können! Und das bei Neumond!“

Langsam wurde es ihm selbst unheimlich. „Und Sie meinen tatsächlich, wenn ich mit den Füßen auf die Fugen trete, das bringt Unglück?“ „Wir wollen es nicht beschreien“, wisperte ich verschwörerisch, „es hat da diesen einen Fall gegeben, wissen Sie noch – mausetot!“ Breschke fuhr wie vom Schlag gerührt zusammen. „Um Gottes Willen“, stammelte er, „das habe ich ja gar nicht gewusst!“ Und er stakste auf Zehenspitzen über die Terrasse, um ja keinen Spalt zwischen den Betonplatten zu betreten.

„Da!“ Ganz aufgeregt fuchtelte Breschke mit dem Finger in Richtung Nachbargrundstück. „Das ist sie wieder, sehen Sie?“ Ein weißer Kater von erstaunlich rundem Körperumfang stolzierte auf der Pergola. „Das muss sie sein“, stieß er erregt hervor, „sie hat sich verkleidet – das heimtückische Biest!“ Augenscheinlich war er der felsenfesten Meinung, dass das Katzentier irgendetwas Dämonisches mit ihm vorhatte. Dabei wäre der Einzige, der sich lautstark hätte beschweren können, Bismarck gewesen, allein der hockte noch immer verängstigt unter dem Buchsbaum und traute sich nur langsam hervor. „Das muss schon eine besondere Katze sein, die innerhalb so kurzer Zeit in ein neues Fell schlüpft.“ „Mir machen diese Biester nichts vor“, rief Breschke, und wie zur Drohung schüttelte er die Faust gegen das Tier, das mit wahrhaft stoischer Gelassenheit auf dem Holzbalken saß. Breschke indes fixierte es mit den Augen und pirschte sich, stets der Plattenzwischenräume eingedenk, langsam näher – „Vorsicht!“ Doch da war es auch schon passiert, er hatte die Leiter angestoßen, der Eimer segelte nach unten und traf Breschke zielsicher am Kopf. Das Moos dämpfte den Aufprall nur minimal. Der Kater fand die Sache höchst amüsant; er putzte sich beiläufig die Pfoten, während ich Breschke zwischen den Moosresten aufsammelte. „Und ich sage noch: nicht unter der Leiter durch! Man weiß doch, wie leicht bringt das Unglück.“





Gernulf Olzheimer kommentiert (XLIV): Halbwissen

12 02 2010
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Nicht alle Menschen können schwimmen und nicht allen gereicht diese Unkenntnis zum Nachteil – wenngleich es wesentlich wahrscheinlicher ist, während einer Überschwemmung sein Leben zu lassen, als durch Unfähigkeit zur topologischen Kombinatorik den Löffel abzugeben. Der Mensch sortiert, schließlich hatte die Evolution Beiwerk wie Rechtswissenschaft, Pädagogik und Philosophie noch nicht im Pflichtenheft, und tatsächlich ist mancher, der heute einen Aushilfsjob als unterste Schublade abgekriegt hat, glücklicher dran, wenn er dem Lochfraß im Schädelrund freien Lauf lässt. Es ist möglich, der kognitiven Durchschnittsbegabung im Limboschritt zu entwischen, und es macht den also gearteten Hominiden nicht einmal unglücklich, solange er Gas und Bremse grob unterscheiden, den Glasgegenstand um das Bier herum ohne großen Blutverlust öffnen und sein Erbgut weiterreichen kann. Eine friedliche Koexistenz in den wenigen Augenblicken, in denen man diese Primaten mit Personalpapieren nicht mehr ausblenden kann, wäre möglich, hätten sie nicht einen folgenschweren Fehler begangen. Sie wollten dazugehören. Sie haben es versucht. An uns bleibt es hängen.

Eins nur ist noch gefährlicher als Unwissen – das Halbwissen, der Todfeind von Aufklärung und Geist. Wer immer sich dem Thema Zivilisation von der Unterseite her nähert, versteht schlagartig, dass zahlreiche Kulturtechniken kognitives Vermögen erfordern; ebenso schlagartig geht diese Erkenntnis jedoch auch wieder verloren, und mit nassforscher Treuherzigkeit hebeln die Nachtjacken, deren genetische Dropouts gabelähnliche Gegenstände zum Irrwitz werden lassen, forstwirtschaftliches Großgerät durch die unschuldigen Koordinaten der Existenz. Den alltäglichen Kleinkram, Kochen, Kindererziehung, Schusswaffengebrauch, lernen sie aus dem Nachmittagsprogramm im Unterschichten-TV, weil Blanchieren und Ballern ja so leicht ausschauen, wenn die Onkels mit dem anwesenden IQ das erledigen. Aber ach, mundus vult decipi, und da haben wir den Salat: es scheitert an Feinheiten.

Im Kleinen ist es noch amüsant, wenn etwa das Personal aus der Riege mit Optimierungsbedarf die Mär vom eisenhaltigen Spinat für bare Münze hält, Arbeitgeberbeiträge als Geschenk der Brotherren preist oder Kolonien als Absatzgebiete fordert; man sieht’s mit leichter Heiterkeit, bevor man zu den wichtigeren Dingen übergeht. Unschön wird es, ginge der Bekloppte dazu über, seinen Nachwuchs mit Nitrit zu stopfen und ihm volkswirtschaftliche Knalldeppereien einzuflößen.

Denn der intellektuell seitlich leicht eingedellte Torfschädel ist nur unterwegs, um sich selbst und anderen maximalen Schaden zuzufügen. Er reibt die Brandwunden, die er sich aus reiner Dusseligkeit zugefügt hat, nach jahrhundertealten Hausrezepten mit absurden Substanzen ein, stellt die Finanzen komplett auf Flaschenpfand um und sucht die ganz große Blamage, wenn er bei der Zehn-Euro-Frage elend abschrammt. Dabei hält er sich selbst noch für einen Experten, der die aus kurzen Wachphasen in der Klippschule memorierten Grundregeln spielend aufsagen kann – keinen gelben Schnee essen, den Tankfüllstand nicht mit dem Streichholz kontrollieren, Steuersenkungsversprechen penetrant salbadernder Nervensägen für glaubwürdig halten – und bei günstigen Umgebungsvariablen bisweilen auch befolgt. Halbwissen reicht, der Rest ist Kür.

Aber es bleibt nicht dabei. Wird das Halbwissen erst aus der Perspektive des Beharrens betrachtet (der Halbwisser weiß ja zu wenig, als dass er auch noch sein Halbwissen kapierte), so entdeckt der partiell Beknackte vermeintliche Vorzüge seines halbgaren Hirnlottos: Vorteile durch Vorurteile. Was er als Instant-Intelligenz der beliebig griffbereiten Tüte entnimmt, muss wahr sein – folgerichtig fasst er sich Herz und Meinung vor, um mitzupaddeln im Tümpel der Halbschwimmer. Er fühlt sich im Recht und spürt, wie die sozialen Integration ihn am Stammtisch ereilt und die Lektüre gewisser schimpansenkompatibler Postillen erleichtert, die das Werk an den Teilverblödeten zu vollenden sich anschicken mit Papstpropaganda, Untertanengetön und Tittenbildern. Ist er dort angekommen, wo er erst nach längeren Qualifizierungsmaßnahmen geistig wieder auf dem Niveau wäre, um als Materialreserve für einen Zimmerbrand zu arbeiten, schlägt er selbst hartgesottene Abergläubige, Esoteriker und anderweitig verspulte humanoide Chromosomensätze. Was analytisch funktioniert, spielt er analytisch kaputt; seine Herangehensweise an logische Operationen ist ein vollwertiges Äquivalent zum Hirntod. Wo er hindenkt, hilft keine Hoffnung mehr. Und man kann nur rätseln, wann er sich beim Versuch, durch Null zu teilen, in die Luft sprengt. Darwin setzt sich wahrscheinlich durch, früher oder später, wenngleich auf entnervend langfristige Art. Bis dahin tröstet uns nur der Anblick von Elektrozaunpinklern, die die Bremsen ihres Kraftfahrzeugs gerne in Eigenregie heile schwiemeln. Man gönnt sich ja sonst nichts.