Noblesse oblige

24 03 2009

„Kommen Sie am besten gleich zur ersten Sendung“, hatte mir Siebels geraten, „Sie werden staunen, wie authentisch das Format ist!“ Also fuhr ich ins Studio. Bisher war auf den alten Fernseh-Fuchs noch immer Verlass gewesen.

Annegret Noble kam gerade aus der Maske und setzte sich auf die Designercouch. Wo war der alberne Strohhut? Warum steckte die Therapeutin auf einmal im Hosenanzug und trug kostspieliges italienisches Schuhwerk? War sie am Ende selbst Opfer eines erlebnistherapeutischen Experiments geworden? „Wir passen uns dem Publikum an“, klärte mich Siebels auf, „die gepflegte Maske ist Teil der Strategie für das Premium-Publikum.“

Und schon schlurfte die erste Verhaltensgestörte rein. Wie ich dem Sendeprotokoll entnahm, war Noée-Shaleena (16) mehrmals volltrunken im Wagen ihrer Mutter aufgegriffen worden. Sie hatte mit dem Springmesser einen Polizeibeamten verletzt und schließlich ihren kleinen Bruder vom Balkon auf den Kiesweg geworfen; der Dreijährige liegt seit Monaten im Wachkoma.

Zunächst war alles normal. Das halbwüchsige Ding mit den zahlreichen Piercings und den Klamotten, denen man nicht sofort ansah, ob sie aus der Edelboutique oder doch von der Mülldeponie stammten, pöbelte die brünette Störungsstelle an, hörte nicht auf ihre Beschwichtigungsversuche und benahm sich überhaupt so, wie man es von ihr erwarten konnte: gar nicht. Plötzlich eskalierte die Situation. Das Mädchen hatte eine goldene Kreditkarte aus der Handtasche gezogen und versuchte, Annegret Noble die Arme aufzuschlitzen. Erst drei hinter der Sitzbank hervorhechtende Bodyguards rangen die blondierte Furie zu Boden. „Das büßt Du mir“, schrie sie, „das sag ich meinem Pappi! Der macht Dich fertig, Du blöde Sau! Du landest im Knast!“

Einigermaßen konsterniert blickte ich Siebels an. „Was geht denn hier ab? Pappi? Knast? Normalerweise droht man doch mit Schlägern?“ Er schlug sich vor die Stirn. „Ach so, Sie hatten ja das Exposé nicht bekommen! Hier geht’s ausschließlich um Kinder aus der Oberschicht. Die drohen natürlich mit dem Rechtsanwalt.“ Zwischendurch wurde Mandy (15) ins Studio geführt. Gefährliche Körperverletzung, Einbruchdiebstahl, dazu mehrere Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz. „Ich gebe zu“, flüsterte Siebels, „wir verlangen dem Zuschauer einiges ab.“ Ich war ganz seiner Ansicht. „Nein, Sie verstehen das falsch. Ich meine nicht diese ungehobelte Sprache, die Gewaltbereitschaft, ich meine damit, dass wir der Gesellschaft so schonungslos den Spiegel vorhalten.“ Ob das nicht auch die anderen Sendungen täten? „Ach was! Schauen Sie sich doch mal diesen Kram an, da wird die so genannte Unterschicht stilisiert, der unterste Rand, damit sich der Zuschauer darüber erheben kann. Ein total verkorkstes Modell von V-Effekt. Wir arbeiten mit der medialen Widerspiegelung. Das Publikum sieht, dass die Probleme aus den Umständen seiner eigenen Schicht entstehen, und begreift, dass es selbst daran Schuld ist. Die alten Mechanismen, Verdrängung, die Suche nach dem Sündenbock, das geht nicht mehr.“ „Sündenbock?“ „Sicher. Die angebliche Machtelite kann sich doch nur konstituieren, wenn sie für ihr Versagen die Unterschicht verantwortlich macht. Sie lenkt von ihrer eigenen Unfähigkeit ab, indem sie die Schuld für ihr Versagen nach unten abschiebt.“ Derweil agierte Mandy wie vorhergesehen ihre Aggression an der Sozialklempnerin aus.

„Außerdem“, fügte Siebels hinzu, „ist unser sozialpädagogisches Konzept viel wirksamer.“ Ich verstand nicht gleich. „Wir sehen es am familiären Umfeld. Seelisch verroht, Moralvorstellungen sind nicht mehr vorhanden oder werden nicht realisiert, manche wären dem Gymnasialbesuch zum Trotz eher für die Sonderschule geeignet, zu allem noch diverse Suchterkrankungen. Die Kinder sind dementsprechend.“ Ich zuckte zusammen. „Was haben denn Sie jetzt gedacht? Das Problem sind die Eltern. Man sieht es doch, selten mal Menschen- oder Waffenhändler, der überwiegende Teil stammt aus dem höheren Bankmanagement.“ Ich tupfte mir den Schweiß ab.

Kevin (17) betrat die Szene. Nach erfolgreicher Kokserkarriere schulte er derzeit auf Zuhälter um. Offenbar wies sein Elternhaus eine leichte soziale Mobilität auf, wofür auch das gerade anhängige Verfahren wegen Sprengstoffbasteleien sprach. „Wir haben einen bildungspolitischen Auftrag. Indem wir die Jugendlichen davon abhalten, die Biografien ihrer Eltern nachzuleben, werden wir unserer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht. Denn nichts ist verhängnisvoller, als die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen.“

Etwas unterschied Kevin von den anderen. War es sein Fluchen? Dass er der Psycholorette die Brille zerknickte? Immerhin blieb die ihrer eigenen Predigt treu und hielt die Fehler ihrer Patienten aus. Sicherlich ließ sie sich auch nur aus Schafsgeduld ins Gesicht spucken.

Da stürmte der Schlacks auch schon auf uns zu. Siebels trat er so heftig in den Unterleib, dass der sich auf dem Boden krümmte. „Weg da, Du Schwuchtel“, brüllte mich der Grünschnabel an, „oder Du bist gleich tot!“ Ich muss ihn beim Ausholen ein wenig unglücklich erwischt haben. Er drehte sich, während er einige Meter weit in die Türme aus Stapelstühlen flog. Mit zitternden Fingern tastete er sein Gesicht ab, da stand ich auch schon über ihm. „Pass mal gut auf, Milchgesicht“, säuselte ich sanft, „das war Ernst. Und wir wollen doch beide nicht, dass der Onkel jetzt gute Laune kriegt, oder?“

Als ich Siebels aus der Klinik abholte – er war eine Nacht zur Beobachtung dort geblieben – frohlockte der Produzent. „Wir haben einen neuen Sponsor! Kevins Vater hat ein hübsches Sümmchen springen lassen. Sein Sohn ist noch am selben Tag zum Vorstellungsgespräch als Altenpflegehelfer angetreten. Freiwillig übrigens.“