Hitzschlag

6 06 2017

„Sie müssen doch auch mal das Positive sehen! Wenn es wirklich Erderwärmung gibt, dann kann man das bestimmt irgendwie wirtschaftlich nutzen, oder? Das heißt mehr Arbeitsplätze, mehr Stimmen bei der Bundestagswahl, so muss das laufen!

Hören Sie mal, wir sind hier in der CDU, da ist Regierungsverantwortung, oder wenigstens ist hier wichtig, dass wir regieren. Da können wir uns nicht ständig von irgendwelchen Kanzlerinnen erpressen lassen, sonst läuft hier bald gar nicht nichts mehr. Also jammern Sie nicht, machen Sie mal lieber ein paar Vorschläge, wie man die ganze globale Sache hier irgendwie vermarkten könnte. Das mit der Temperaturerhöhung ist ja schon ein guter Anfang, aber so nützt uns das noch nichts.

Sie meinen touristisch? Klingt gut. Safari in der Lüneburger Heide! Da könnte man das ganze Zeugs nachzüchten, das vom Artensterben bedroht ist, und dann können Sie vor Ort Elefanten abknallen! Da steigen Sie in den Münchener Hauptbahnhof ein und sind im Grunde genommen gleich in Afrika. Hübsche Hotelanlage dazu, Pool, ein paar Neger als Zimmermädchen, fertig ist die Laube. Nein, doch das nicht – ich bitte Sie, nur weil wir da ein ordentliches Schwimmbad reinbauen, muss man das nicht gleich mit Sonnenkraft beheizen. Das ist irgendwie blöd, da könnten wir gleich ein veganes Frühstücksbüfett anbieten. Sehen Sie lieber die Standortvorteile, wenn wir ausländische Touristen nach Deutschland locken. Wir haben hier Sonne, die Bimbos saufen ab und gehen uns mit ihrem ewigen Gejammer nicht mehr auf die Nerven – Win-Win, Kollege! Dann können wir endlich mit der Scheißentwicklungshilfe für die Hungerleider Schluss machen und haben mehr Biodiesel für uns. Das werden noch Zeiten!

Das mit der Wissenschaftlichkeit, das ist doch auch wieder so ein Totschlagargument. Wenn etwas nicht wissenschaftlich begründbar ist, dann sollen die Leute nicht daran glauben? Ist doch Unfug! Das sagen Sie mal der Kirche, da haben Sie aber sofort ein Verfahren am Hals! Meine Güte, wem sagen Sie das – die sind ja nicht besser. Also als Union sind wir natürlich der kirchlichen Tradition verpflichtet, aber diese Drecksäcke kommen einem ja immer gleich noch mit Christentum! Schöpfung bewahren, wenn ich diese Kommunistenscheiße schon höre! Die sollte man alle ins Arbeitslager stecken, da können sie in Ruhe beten, dass sie irgendwann wieder rauskommen! Wir lassen uns jedenfalls nicht länger von dieser Windkraftlobby moralisch erpressen. Oder von den Solaranlagenbauern. Das sind lauter polnische Juden, die die deutsche Wirtschaft zerstören wollen, haben Sie das nicht gewusst? Also ich glaube auch nicht daran, das sagt nur die Steinbach, und die ist halt Mitglied in unserem Arbeitskreis.

À propos Schöpfung, wir müssten wir dann mal nachdenken über neue Fischfangmöglichkeiten. Wenn es bald in der Nordsee Thunfisch gibt, sind wir auf die teuren Importe nicht mehr angewiesen. Das macht natürlich auch mit den Handelswegen eine Menge aus, dass wir dann die Bundeswehr nicht mehr zur Sicherung der Rohstofftransporte brauchen. Die Rüstungsgüter können wir dann in Saudi-Arabien loswerden und in Israel, bisher mussten wir uns immer entscheiden, aber das ist ja nun vorbei. Sie finden das unmoralisch? Wie lange sind Sie schon in der Partei, wenn ich mal fragen darf?

Wir haben dann auch ganz neue Rohstoffe im Auge, das kann ich Ihnen flüstern. Wenn die Tundra auftaut, dann kommt da Methan raus, dafür müssten Sie eine Milliarde Kühe auswringen. Man müsste Finnland irgendwie luftdicht verschweißen, was weiß ich – da oben leben sowieso nur Säufer und Rentiere, die kriegen das wahrscheinlich gar nicht mit, dann reißen wir den Energiemarkt so richtig auf und verkaufen denen ihre eigene Scheiße als biologisch-dynamische Stromzukunft! Mann, das sind vielleicht Perspektiven!

Gut, Schleswig-Holstein können wir in die Tonne treten. Schade um Sylt. Niedersachsen sowieso. Hamburg dann wahrscheinlich auch. Mit dem Rest muss man dann mal sehen, wir haben da nicht so wirklich Ahnung, aber unsere Aktionäre sitzen zum größten Teil in den USA. Denen ist das wumpe, ob Europa absäuft. Und wir, also Sie und ich, ich meine, was soll uns groß passieren? Sie sind siebzig, ich bin auch fast siebzig, bis der Planet die Grätsche macht, sind wir beide hoffentlich tot. Ach was, auf Ihrem Grab würde sowieso keiner die Blumen gießen. Sie sind genauso ein Arschloch wie ich. Nur, einer von und hat einen Maserati in der Garage und neunzig Millionen in Panama, und Sie sind es nicht.

Terrorismus? Das halte ich jetzt aber für sehr weit hergeholt. Die ganze Menschheit in Geiselhaft nehmen für niedere Beweggründe, ideologische Verblendung und – wie jetzt, Sie vertreten ernsthaft die Ansicht, es gibt gar keinen Klimawandel? das sollen alles bloß Messfehler sein? Sind Sie noch ganz richtig im Kopf, Kollege? Nee, bedaure. Bleiben Sie mal in Ihrer Parallelwelt, mit Ihnen will die CDU nichts zu tun haben. Noch nicht.“





Flachnummer

8 03 2010

Die Debatte war – in einem Kreis fast einheitlich kompetenter Diskutanten – auf weiter Strecke recht harmonisch verlaufen; einzelne provokante oder in ihrer Formulierung doch zugespitzte Beiträge hatten nicht darüber täuschen können, dass die Runde im Großen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung für weise und maßvoll erachtete und an der Grundgesetzeskonformität der deutschen Politik, so es sich nicht um untaugliche Versuche seitens der Bundesregierung handelte, keinen Zweifel ließ. Allein Wolfgang Bosbach litt es nicht. Als Flachpfeife beschimpfte er seinen im intellektuellen Streit überlegenen Gegner.

Natürlich war die Öffentlichkeit bestürzt. Wer konnte schon wissen, was den Terrorexperten der Union zu dieser kontroversen Äußerung hingerissen hatte? Würde er um Entschuldigung bitten? Sich erklären? Den nächsten Gegner als gottverdammte Drecksau titulieren und damit auf sein christliches Menschenbild rekurrieren? Fragen, die zu stellen eine (das muss man doch noch sagen dürfen) kritische Öffentlichkeit geradezu gefordert war. Bosbach versuchte nicht, sich zu entschuldigen. Damit nahmen die Dinge ihren Lauf.

Die Regierungspartei ging sehr locker damit um. Flachpfeifen seien sie alle, mehr oder weniger, wie sich Kanzleramtsminister Pofalla erklärte. Kaum jemand hätte das aus seinem Munde in Zweifel gezogen. Auch die Beteuerung von Jürgen Rüttgers, die Flachpfeifen von Bund, Ländern und Gemeinden würden künftig mehr Geschlossenheit zeigen, goss eher Öl auf die Wogen – Hessen schaukelte sich schon in Sicherheit, konnte sich angesichts des leise knarzenden Fallbeils über den NRW-Kollegen gewisse Spitzen nicht verkneifen. Der Kollege pfeife flach, so Koch, aber auf dem letzten Loch. Was ja auch keiner bestritten hatte.

„Wir Flachpfeifen“, predigte die Kanzlerin als Sprachrohr der Eurozone – mit dem Predigen kannte sie sich aus, mit der Zone erst recht – „werden eine gemeinsame Lösung finden für die Probleme in Griechenland. Und dann finden wir gemeinsam die Probleme, für die wir Flachpfeifen in den anderen Ländern auch nicht verantwortlich sein wollen werden.“ Da freute man sich.

Der Bendlerblock tobte. Dass der Minister so viel, was er nicht wissen wollte, auch tatsächlich gar nicht wusste – das sollte auch zu Normalnull erklärt werden. Die Flachpfeifen in Kundus, teilte der Freiherr mit, seien auf dem Kenntnisstand der Flachpfeifen in Berlin gewesen.

Just in diesem Moment wurde auch die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages eingesetzt. Das Internet, so die einhellige Aussage, dürfe nach Meinung führender Flachpfeifen kein rechtsfreier Raum sein. Zunächst bräuchte es eine deutschlandweit vernetzte Datei, um Risikogruppen wie Sexualmörder oder Mehrfachvergewaltiger zu erfassen, vornehmlich dann, wenn diese Taten nicht nur vor mit islamistischem Hintergrund, sondern auch online begangen würden.

Der kleinere Koalitionspartner wollte da nicht zurückstecken. Auf einer Wahlkampfveranstaltung im Äußerlichkeitsministerium beharrte Guido Westerwelle darauf, auch die Liberalen hätten als Flachpfeifen zur politischen Kultur ein Wort mitzureden. Es gäbe keine Flachpfeifen, das denke die schweigende Mehrheit, jedenfalls zwei, wenn nicht mindestens zwanzig Prozent, wenn nicht die Freidemokraten selbst nach jedem Flachpfiff zu tanzen sich angewöhnt hätten. Ein niedrigeres System forderte der Vorsitzende; über das Gerechte und den unkomplizierten Ausgleich unterhielt man sich nach seiner Abreise zu einer Vortragstour.

Das Kanzleramt nahm den fortgesetzten Schnee in Norddeutschland billigend in Kauf und erklärte die Situation zu einer unerheblichen Abweichung vom Normalzustand. Sie hatten nicht mit dem Innenausschussvorsitzenden der Christlichen gerechnet, der die klimatische Veränderung als Vorbote einer weitaus schlimmeren Bedrohungslage interpretierte. „Wir werden alle sterben“, erkannte Bosbach die Sachlage. Ein Biologielehrer und ein Dorfpastor aus Brandenburg bekannten: der Mann könnte richtig liegen. Versicherungsmathematiker blätterten in ihren Unterlagen und gaben zu, dass an der These etwas dran sein dürfte. Hartgesottene Bestatter gestanden sich ein, am Ende des Tages entspreche dies alles doch der Wahrheit.

Es fiel ihnen wie Schuppen von den Augen. Natürlich ist es einfach nur Glück, dass bisher keine große Bedrohungslage eingetreten war, aber das rechtfertigte nicht ein sinnloses Beharren auf den Grundrechten der Bundesbürger. Deutschland war auf einmal eine Flachpfeife. Die Nation lag auf der Nase, aber sie hatte endlich wieder Bodenhaftung.

Bis zu jenem Freitag, als der Fachmann für Staatssicherheit bei der Veranstaltung der bayerischen Schwesterpartei über verrohte Jugendliche sprechen durfte. Die Täter, wetterte Bosbach, würden immer jünger; neben der massiven Gewaltbereitschaft fiele insbesondere die deutliche Zunahme exzessiven Alkoholkonsums auf. Bei diesem Schwerpunkt unionsgeführter Innenpolitik ließ sich die CSU nicht länger auf eine Verhandlung mit dem Einzelhandelskaufmann aus kleinbürgerlichen Verhältnissen ein. Bosbach schob schnell noch Warnschussarrest, Fahrverbot als Knastersatz und die Verschärfung der Jugendstrafen nach, als er sich sicher war, dass sie nicht verfassungskonform waren. Doch sie lehnten die Zusammenarbeit ab. Mit Flachpfeifen, so Generalsekretär Dobrindt, habe man kein Problem. Nur mit Flachzangen.





Erfassungsschmutz

17 12 2009

„Und was soll das bringen?“ „Wir müssen damit so früh wie möglich anfangen. Schließlich kann man die Terrorwarnungen nicht ignorieren oder einfach so zusehen, wie sie unser Land möglicherweise bedrohen wollen. Wir haben da fürchterliche Vorahnungen, dass wir eventuell an Dinge denken könnten, die dann unter Umständen…“ „Aber entschuldigen Sie, das ist doch alles Unsinn – was soll denn das jetzt bringen?“ „Deutschland ist in höchster Gefahr, haben Sie das denn noch nicht gemerkt? Wir stehen vor einer ganz wichtigen Entscheidung! Da müssen wir jetzt alle an einem Strang ziehen und die Elemente, die die deutsche Demokratie…“ „Was faseln Sie da eigentlich? Hat man Ihnen etwas in den Tee gekippt?“ „Jetzt werden Sie mal nicht komisch hier – sind Sie am Ende auch so einer, der terroristische Ziele verfolgt oder zumindest nicht ausschließt, dass es Subjekte gibt, die es getan haben oder noch tun könnten?“

„Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt. Dieses ganze Gequassel um die Vorratsdatenspeicherung ist doch nur ein läppischer Vorwand dafür, dass Sie ein Spielzeug in die Hand bekommen, mit dem Sie nach Belieben die Bürger ausschnüffeln können.“ „Ich verbitte mir die Unterstellungen! Deutschland ist in höchster Gefahr – vielleicht passiert morgen schon ein Sprengstoffanschlag auf den Kölner Dom und wir können die muslimischen Terroristen nicht rechtzeitig genug orten.“ „Moment mal – warum sind die Terroristen in Ihrer Theorie ausgerechnet Muslime?“ „Weil doch alle Muslime… nein, umgekehrt.“ „Und wenn Sie sie orten müssen, wozu brauchen Sie dann die Daten der vergangenen sechs Monate?“ „Sie werden mich nicht hinters Licht führen mit Ihrer Propaganda! Sie nicht!“

„Fakt ist ja nun mal, dass die Verbindungsdaten nur helfen, wenn Ihr ominöser Anschlag bereits passiert ist. Wozu übrigens Ihre Handy-Ortung gar nicht zählt.“ „Die Grundrechte haben bei der Gesetzgebung von vornherein eine zentrale Rolle gespielt! Und wir sehen es als unser Grundrecht an, unser Vaterland zu schützen!“ „Wir auch – aber vor Ihnen.“ „Ach was! Sie wollen sich doch bloß dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden entziehen! Sind Sie am Ende auch so einer, der mit Kinderpornografie auf nordkoreanischen Servern seine schmutzigen Milliardengewinne macht?“ „Was haben denn Einzelverbindungsnachweise mit Ihren Sperrlisten zu tun? Sollten Sie hier etwa eine Verbindung sehen, die Sie bisher immer hartnäckig geleugnet haben?“ „Es sind doch immer dieselben, die hier auffallen. Lesen Sie doch mal die Kriminalstatistik, dann werden Sie das schon sehen. Oder wollen Sie das etwa leugnen?“ „Also sind wir jetzt auf dem Niveau von ‚Wer lügt, stiehlt auch‘? Das erklären Sie dem Bundesverfassungsgericht bitte selbst.“ „Werden Sie nicht frech!“ „Und deshalb sagt das Bundeskriminalamt, dass die Aufklärung maximal um 0,006 Prozentpunkte steigt?“ „Wir brauchen in diesem Land viel mehr Anstand und Gehorsam! Konsequente Erziehung zur Staatstreue – wer Nachbarn nicht grüßt, baut auch Terrorausbildungslager!“ „Es haben einige zehntausend Menschen gegen Ihr Gesetz geklagt.“ „Vaterlandsverräter! Die sollen doch nach drüben…“ „Tut mir Leid, aber das gibt es nicht mehr.“ „Wieder so eine rhetorische Spitzfindigkeit, diese Haarspalterei werden wir Ihnen austreiben, wenn wir…“ „Das Bundesverfassungsgericht hatte Zweifel an der Vorratsdatenspeicherung.“ „Sind Sie am Ende auch so einer, der aus dem Internet einen rechtsfreien Raum machen will, in dem es alle nur denkbaren Scheußlichkeiten gibt? Videos von bestialischer Folter? Atombombenbauanleitungen? Wenn beim nächsten Amoklauf an einer deutschen Bildungseinrichtung die Täter, durch Killerspiele, laute Musik und Turnschuhe verroht, nukleare Sprengsätze aus dem Internet werfen und Tausende von unschuldigen Kindern sterben?“

„Erlauben Sie mal, es wird langsam lächerlich. Mit diesem Aufwand speichern Sie jeden Hauch in Deutschland und wundern sich, wenn…“ „Das ist Verfassungsschutz!“ „Das ist Erfassungsschmutz.“ „Sie hinterlassen doch die ganze Zeit die Daten – dann dürfen Sie eben nicht mehr telefonieren und nicht mehr…“ „Atmen?“ „Blödsinn! Wir würden beispielsweise Ihre Daten nie länger als sechs Monate speichern. Da halten wir uns ganz genau an das Gesetz.“ „Und wenn Sie nach sieben Monaten bemerken, dass Sie mit einem Gesprächsnachweis eine Straftat aufklären könnten?“ „Dann würden wir in diesem einen Fall, aber auch nur für diese eine Ausnahme einmal die Daten zur Aufklärung heranziehen.“ „Und wie soll das gehen?“ „Wie soll was gehen?“ „Dass Sie die Daten, die nach sechs Monaten gelöscht werden, nach sieben Monaten verwenden?“ „Sie verdrehen die Fakten! Aber das sind wir von Ihresgleichen ja gewohnt.“

„Warum verbieten Sie nicht Bleistifte?“ „Warum sollten wir Bleistifte verbieten?“ „Damit Ihre Terrorverdächtigen nicht mehr auf Zettelchen ausweichen können und weiterhin über das Festnetz miteinander kommunizieren müssen. Dann haben Sie für sechs Monate alles unter Kontrolle und müssen sich auch nicht containerweise durch Papierschnitzel wühlen.“ „Sie sind doch krank!“ „Und auf dem Niveau soll ich mit Ihnen diskutieren?“ „Sie sind am Ende auch so einer, der mit dem Tausch urheberrechtlich geschützter Inhalte ein stalinistisches Unrechtsregime etablieren will!“ „So, und jetzt ist hier mal Schluss! Danke für den Besuch, er bekommt jetzt seine 120 Milligramm, danach kommt gleich das Abendessen, und dann ist Bettruhe.“





Vollgas

2 09 2009

Das Konrad-Adenauer-Haus glich am Morgen nach den grandiosen Wahlsiegen einem Ameisenhaufen. Kalkweiße Gesichter spiegelten die Freude wider über die Spitzenleistung, in Thüringen und im Saarland als stärkste Fraktion aus dem Urnengang hervorgekrochen zu sein. Zwar ließ man sich die Begeisterung nur mäßig anmerken – unbeteiligte Zuschauer hätten die Stimmung auch mit einer Depression verwechseln können – doch die Lage war unvermittelt gut. Die Bundestagswahl konnte kommen, der Sieg war verhältnismäßig sicher.

Lößfelder hatte alle Hände voll zu tun, die Wahlkampfstrategie der Union vor unbedachten Schnellschüssen zu schützen. Denn längst begann es in den Landesverbänden zu brodeln. Hatte man die passenden Akzente gesetzt? Die richtigen Themen aus der Öffentlichkeit herausgenommen? Zur rechten Zeit die Klappe gehalten? Noch wenige Wochen bis zur Stimmabgabe, und nichts war klar. Der Imageberater und sein Team mussten den Knoten durchschlagen, doch wie?

Vor Beginn der Präsidiumssitzung mahnte Christian Wulff einen sachlichen Wahlkampf an. Es sei jetzt vor allem wichtig, so der Gefolgsmann an der Leine, die hohen Sympathiewerte der Kanzlerin in Wählerstimmen umzurubeln. Unschöne Szenen spielten sich im Sitzungssaal ab. Während einige dem Niedersachsen seine geschmacklosen Scherze sichtlich übel nahmen, hatten andere bereits die Wahlanalyse des Althaus-Absturzes gelesen.

Befremdet zeigte sich die Parteispitze, als Lößfelder von den Aushängeschildbürgern eine deutliche Emotionalisierung verlangte. Man beriet kurz, aber heftig, und teilte das Ergebnis sofort mit: keine Chance. Schließlich könne man vom Innenminister nicht auch noch verlangen, auf der kommenden Plakatserie Lesen vorzutäuschen und simultan zu lächeln. Lößfelder warf der Union vor, eine Mauer des Schweigens aufbauen zu wollen. Schäuble verwahrte sich energisch; niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten. Auch Roland Koch gab sich angesichts der vielen innovativen Vorschläge eher skeptisch; sogar der Wechsel des Luftballon-Lieferanten fand nicht seine Gnade. „Mehr, als Angela Merkel macht“, sprach der hessische Landesvater, „kann man nicht machen.“ Angela Merkel tat inzwischen gar nichts.

Da platzte auch Horst Seehofer der Kragen. Er verlangte von der Kanzlerin ein klares inhaltliches Profil. Seine Devise war Vollgas. Nicht allein die Tatsache, dass bisher keiner auf so abwegige Ideen gekommen wäre, brachte dem CSU-Granden Gelächter, der rechte Flügel der Christdemokraten zeigte sich wenig begeistert von modernem Schnickschnack. Immerhin einigte man sich im hastig zusammengetrommelten Vorstand darauf, Lößfelder endlich grünes Licht zu geben für eine Straßenumfrage. Das Ergebnis war demütigend. Teile der Bevölkerung konnten zwischen „Merkel“ und „Profil“ keinen Zusammenhang herstellen. Manche missverstanden die Fragestellung und antworteten den Demoskopen, abgefahrenes Profil müsse man sofort ersetzen; vor allem der Schleuderkurs berge so erhebliche Gefahren.

Gummi oder nicht, Bosbach warnte. Hektische Kurskorrekturen könne man der CDU nun nicht mehr zumuten. Lößfelders Vorschlag, in der heißen Phase die Sprechblasen wenigstens rhetorisch etwas aufzumotzen, fand bei ihm kein Gehör. Insgesamt zeigte sich die Partei stressfest, wurde aber zunehmend sensibler; auf die Frage, wie er sich das miserable Abschneiden der Union in Thüringen erklären könne, sprudelte Jürgen Rüttgers in die Mikrofone: „Unsere Antwort heißt Angela Merkel!“ Die Kanzlerin äußerte sich nicht dazu.

Hatte sich der Wirtschaftsflügel bisher nicht zu Wort gemeldet, so ergriff nun Josef Schlarmann die Gelegenheit beim Schopf. Man müsse, so der Chef der Unions-Mittelstandsvereinigung, den Endspurt mit einem klaren Konzept zu Wachstum und Beschäftigung bestreiten. Es sorgte für Verwirrung. Manche wussten nicht, was Beschäftigung ist, und fragten im Wirtschaftsministerium nach, das die Anfrage an eine Anwaltskanzlei weiterschob. Manche konnten sich nichts unter einem klaren Konzept vorstellen. Lößfelder und seine Leute rauften sich die Haare.

Als Schlarmann auch noch eine Lockerung des Kündigungsschutzes aus den Wahlversprechen herausoperieren wollte, spitzte sich die Situation zu. Guido Westerwelle tobte mit hochrotem Kopf ins Kanzleramt und beschwerte sich über mangelnde Solidarität für seinen Plan, Bundesaußenminister zu werden. In seiner Rage warf er Merkel gar vor, die Grünen zu hofieren. Allein die Kanzlerin gab keine Stellungnahme dazu ab; möglich, dass sie es gar nicht bemerkt hatte.

Als allerletzten Versuch warf Lößfelder die Personality-Nummer in den Ring. Prominente Gesichter sollten sich öffentlich äußern und das Schlaglicht der Presse auf sich ziehen. Neben dem Bundeswirtschaftsfreiherrn, der in einer Talkshow heitere Anekdoten erzählte und seine Betroffenheit äußerte, wenn pauschal der Eindruck entstünde, er hätte schon einmal in einem mittelständischen Unternehmen gearbeitet, frohlockte Ursula von der Leyen mit den Erfolgen bei der Aufforstungsprämie für deutsche Kindergärten. Kein Tag verstrich, bis sich die Redebeiträge der Verfassungsexpertin im Internet wiederfanden und Twitter beherrschten. Das Präsidium atmete befreit auf. Hatte doch die CDU ihr Ziel endlich wieder vor Augen: Gesprächsthema zu sein in Deutschland. Für vier lange, harte Schicksalswochen.





Messer, Gabel, Schere, Licht

11 05 2009

Die innere Sicherheit war wieder einmal in Gefahr. So sehr, dass die Experten regelrecht von einer Verschärfung sprachen. Millionen unbelasteter Bürger, die sich bisher nichts hatten zu Schulden kommen lassen, galt es zu schützen. Sie grübelten. Die Erleuchtung ließ auf sich warten. Wolfgang Bosbach schaffte den entscheidenden Durchbruch. In einer flammenden Rede forderte er Kontrolle und unbarmherziges Durchgreifen. Man dürfe, so der gelernte Einzelhandelskaufmann, das Land der Biedermänner nicht den Brandstiftern überlassen.

Eine Großrazzia in den Niederlassungen einer Kaufhauskette brachte es ans Licht: Essbesteck war frei erhältlich. Fischmesser, Kuchengabeln, sogar Gartenscheren waren vereinzelt an Minderjährige abgegeben worden. Etliche verdachtsunabhängige Hausdurchsuchungen brachten das ganze Ausmaß des Unheils zum Tragen. Die Haushalte verfügten bereits flächendeckend über stehende und Klappmesser. Taschenmesser, Teppichmesser, Tranchier- und Tomaten- und Brotmesser, Obst- und Käsemesser landeten containerweise in den Asservatenkammern des Bundeskriminalamts. Die Öffentlichkeit in Gestalt von Christian Pfeiffer zeigte sich entsetzt, aber zuversichtlich. Schlüssig wies er nach, dass nur die sittliche Verrohung durch Killerspiele oder Paintball so weit geführt habe; nähme man dem mündigen Bürger alles, was man als Mordwerkzeuge zweckentfremden könne, verböte man ihm jegliches Tötungstraining, so sei das irdische Friedensreich zum Greifen nahe.

Ein Sturm der Entrüstung brach los. Mit Feuer und Schwert kämpften Einzelhandel, Gastronomie und Handwerk gegen die Schneidwaffenkontrolle. Solingen wurde rasch zum Zentrum des nationalen Widerstandes. Doch Bosbach postulierte die Schere im Kopf. Eine Waffe sei nicht per se gefährlich, urteilte der Vize, sie werde erst durch den Gebrauch überhaupt zur Waffe. Da man aber jedes Messer als Waffe missbrauchen könne, so schloss Bosbach locker aus der Hüfte, sei auch jedes Messer ein Mordinstrument. Die Anschläge des 11. September hätten dies hinlänglich bewiesen.

Die Nation schrie auf, als bekannt wurde, dass ein Sondereinsatzkommando im Odenwald quasi in letzter Sekunde eine Katastrophe verhindert hatte. Unweit des Götzenstein hatte ein Laternenumzug der örtlichen Kinderspielschar stattgefunden. Nur mit scharfer Munition war der Brandgefahr zu begegnen gewesen. Die Einsatzkräfte hatten alle Hände voll zu tun. Zwei Dutzend Halbwüchsige mussten unschädlich gemacht werden, was die tapferen Wächter teils durch Kopf-, teils durch Bauchschüsse erledigten. Dabei kamen ihnen die Mitglieder eines Schützenvereins zu Hilfe, die in uneigennütziger Nächstenliebe den Finger am Abzug hatten und ganze Magazine in die jungen Terrorverdächtigen entleerten. Ihren Dienst für Volk und Vaterland belohnte das Bundesministerium des Innern mit Verdienstkreuzen. Buntmetall gab es seit der großen Rückgabeaktion Messer zu Pflugscharen wieder genug in Deutschland.

Weniger Glück hatte der Notarzt, der versucht hatte, eines der angeschossenen Kinder durch einen Luftröhrenschnitt zu retten. Die Operation misslang und der Mediziner fand sich auf der Anklagebank wieder. Ein Notarzt, befand das Gericht, müsse auch dann seiner Pflicht nachkommen, wenn er auf Grund übergesetzlichen Notstandes nicht mehr zum Mitführen eines Skalpells berechtigt sei.

Die Einführung des bundesweiten Zündholz-Zentralregisters geriet ins Stocken. Man hatte eine EU-Richtlinie übersehen und wusste nicht, was als Zündholz zu definieren war.

Es ging in den Abendnachrichten unter, wie Ursula von der Leyen plädierte, Bastelscheren zu verbieten. Die Meldungen des Tages wurden von der Schreckensnachricht aus Baden-Württemberg dominiert, wo ein Vater dem Treiben seiner beiden Sprösslinge tatenlos zugesehen hatte: die Kinder hatten Räuber und Gendarm gespielt, noch dazu mit einem Plastikschwert, das vom Karnevalskostüm des Delinquenten stammte, der als Ritter Kunibert den Preis des Festkomitees für die beste Larve erhalten hatte. Bosbach hatte den Finger am Abzug. Er forderte vehement ein Darstellungsverbot von Waffen in den Medien. Die Medien waren strikt dagegen; BILD war als erste dabei.

Ein heftiger Streit belastete das Kabinettsklima. Franz Josef Jung erlitt einen Wutanfall, als er die Truppe bei einer NATO-Übung lustlos Manöver-Munition verballern sah. Dass Lagerfeuer verboten waren, hatten die Bürger in Uniform hingenommen. Dass sie jedoch den Inhalt ihres Essgeschirrs nur noch mit den Fingern schöpfen durften, senkte ihre Kampfmoral erheblich. Schon stichelte man auf internationaler Ebene, Deutschland habe den Löffel abgegeben. Der Stellvertreter fuhr dagegen schwere Geschütze auf. Seine Fraktion sehe die Bundeswehr nach wie vor als Friedensarmee.

Er kam schneller zu Fall, als er dachte. Hatte Bosbach noch vormittags vor dem Plenum mächtig Pulver verschossen, um Feuerzeuge in Form von Pistolenattrappen als völlig harmloses Spielwerk für ältere Herren zu bezeichnen – als Schusswaffe seien sie nicht zu gebrauchen, auf Grund ihrer äußeren Gestalt jedoch wie Feuerwaffen straffrei zu besitzen – so fiel er schon Stunden später ins Schneidwerk der Justiz. Der Ordnungsdienst hatte ihn auf der Reichstagstoilette ertappt. Der Westfale versuchte, sich mit einer Nagelschere heimlich einen Apfel zu schälen. Aller Ämter sollte er enthoben, aller Ehren ledig sein. Doch es kam gar nicht erst dazu. Er gab sich die Kugel.