Zwei Finger breit. Aber das reichte, um einen Schweißausbruch auszulösen. Mein Herz schlug bis zum Hals, meine Hände zitterten unkontrolliert. Ich schien den festen Halt unter den Füßen zu verlieren. Dieser Kratzer im Lack, er würde direkt in ein Weltuntergangsszenario münden. Es war zwar nicht mein Auto, aber Anne stand direkt hinter mir.
„Es wird Tote geben“, schrie sie. „Ich weiß noch nicht, wer es war, aber es wird definitiv Tote geben! Ruf die Polizei.“ Sie hatte es noch nicht ganz ausgesprochen, als ich kurz hinter der Straßenecke einen Schutzmann entdeckte, der sich auffällig unauffällig vor dem Heckenhintergrund herumdrückte. „He!“ Er reagierte nicht. „Hat man Ihnen die Ohren zugenäht?“ Noch immer blickte er angestrengt in die Wintermorgenluft, in der sich Schneekristalle lösten und beobachtet werden wollten,wie sie der Schwerkraft nachgaben. „Alle Bullen sind…“ Sekunden später stand er neben Anne.
„Das“, zeigte sie auf die Fahrertür, „ist eine Sachbeschädigung, und Sie werden jetzt eine Strafanzeige aufnehmen wegen Sachbeschädigung. Zücken Sie den Notizblock, ich diktiere.“ „Das ist nicht mein Revier“, erklärte der Uniformierte. „Ich bin hier nur zufällig.“ Eines der Weltwunder musste akuten Urlaubsbedarf gehabt haben, denn Anne bliebt ruhig. Üblicherweise hätte sie bereits jetzt einem Schupo die Altersversorgung ruiniert. „Nicht Ihr Revier“, antwortete sie bissig. „Und wenn Sie eine Leiche vor dem Gymnasium finden, schleppen Sie die zum Postamt, weil sie das im Bericht einfacher schreiben können.“ An der Reaktion – gar keiner – erkannte man wenigstens, dass es sich um einen echten Schutzmann handeln musste. Er blickte sie nur treuherzig an, unternahm aber nichts. „Ich verstehe ja“, sprach er gedehnt, „aber uns sind da die Hände gebunden. Wenn Sie den Täter selbst stellen, dann fangen wir ihn für Sie. Sie müssen aber den Namen vorher schriftlich einreichen, mit Durchschlag, ist ja klar.“ Wir sahen uns verständnislos an. „Wir sind dafür nicht mehr zuständig. Das hat mit den Aufgaben der Polizei nichts zu tun, wir müssen uns jetzt um wichtigere Dinge kümmern.“
Sie sah ihn entgeistert an. Immerhin ist sie Strafverteidigerin – wer sie gegen sich hat, befasst sich gerne mit den letzten Dinge und ordnet seinen Nachlass – und musste sich nicht von einem Nichtjuristen in Uniform belehren lassen. Jedenfalls war sie bisher dieser Meinung gewesen. „Das ist ja nicht staatsgefährdend, wenn Sie einen Kratzer in der Tür haben. Das können Sie ja auch privat regeln.“ Anne schnaubte vor Wut. „Und Sie erwarten, dass ich eine kriminaltechnische Untersuchung anfertigen lassen, um den Täter der Staatsanwaltschaft zu übergeben?“ Er nickte. „Es sei denn, es könnte sich möglicherweise um einen linksradikalen Täter gehandelt haben oder um jemanden, der einen kennt, der von jemandem weiß, dass man diesen als linksradikal…“ Anne winkte ab. „Wir verschwenden unsere Zeit.“
Der Polizist tat etwas, was er besser nicht hätte tun sollen: er lächelte. „Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Ihr Staat immer noch das Gewaltmonopol hat.“ Sie schnappte zurück. „Sie fordern von mir, dass ich selbst den Täter anbringe, aber dazu darf ich dann nicht das Gewaltmonopol des Staates in Anspruch nehmen!?“ Er nickte. „Wir greifen nur noch bei ganz schweren Verbrechen ein, verstehen Sie? Wenn man Sie ermordet hat, kommen Sie gerne zu uns, wir haben jeden Vormittag geöffnet. Außer Montag und Mittwoch. Und die Wochenenden, aber die fangen auch schon Donnerstag an.“
Wer Anne kennt, hätte jetzt ein heftiges Streitgespräch erwartet. Sie übersprang es und zog sofort das Diktiergerät aus der Tasche. Offensichtlich hatte der Beamte die Gefahr richtig eingeschätzt; er fing an zu jammern. „Aber es ist eine Dienstvorschrift! Wir vereinfachen doch die Rechtslage auch, indem wir bei Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung nicht den Fahrer ermitteln, sondern gleich den Halter…“ „Vereinfachen“, höhnte Anne, „die Polizei beugt das Recht, weil die Idioten in Uniform zu dumm sind, sich an Polizei und Strafprozessordnung zu halten.“ „Dafür sind wir aber bei schweren staatsgefährdenden Straftaten sofort für den Bürger da“, beeilte er sich. „Es sei denn, Sie werden abgehört, weil davon verstehen wir ja nichts.“ Er pusselte ein bisschen an seinen Knöpfen herum, und mit einen Mal packte Anne ihn am Kragen. „Aber ich bin doch Ihr Freund und Helfer“, keuchte er. „Ich helf Dir gleich“, stieß sie hervor, „Freundchen – wir unterhalten uns gleich auf dem Revier weiter.“
Unterdessen war Doktor Klengel aus der Haustür getreten, die Aktenmappe unter dem Arm. Missbilligend hob er eine Augenbraue. „Meine Güte“, sprach er, „was für ein Terror.“ „Sehr gut“, stöhnte der Polizist, „dafür bin ich ja hier. Rufen Sie Verstärkung, die werden sich darum kümmern.“
Anne hieb die Tür ins Schloss. „Sehr gut“, sagte ich trocken. „Ganz hervorragende Arbeit. Und morgen erledigst Du dann bitte die Bundeswehr.“
Satzspiegel