Polizeistaat

21 01 2015

Zwei Finger breit. Aber das reichte, um einen Schweißausbruch auszulösen. Mein Herz schlug bis zum Hals, meine Hände zitterten unkontrolliert. Ich schien den festen Halt unter den Füßen zu verlieren. Dieser Kratzer im Lack, er würde direkt in ein Weltuntergangsszenario münden. Es war zwar nicht mein Auto, aber Anne stand direkt hinter mir.

„Es wird Tote geben“, schrie sie. „Ich weiß noch nicht, wer es war, aber es wird definitiv Tote geben! Ruf die Polizei.“ Sie hatte es noch nicht ganz ausgesprochen, als ich kurz hinter der Straßenecke einen Schutzmann entdeckte, der sich auffällig unauffällig vor dem Heckenhintergrund herumdrückte. „He!“ Er reagierte nicht. „Hat man Ihnen die Ohren zugenäht?“ Noch immer blickte er angestrengt in die Wintermorgenluft, in der sich Schneekristalle lösten und beobachtet werden wollten,wie sie der Schwerkraft nachgaben. „Alle Bullen sind…“ Sekunden später stand er neben Anne.

„Das“, zeigte sie auf die Fahrertür, „ist eine Sachbeschädigung, und Sie werden jetzt eine Strafanzeige aufnehmen wegen Sachbeschädigung. Zücken Sie den Notizblock, ich diktiere.“ „Das ist nicht mein Revier“, erklärte der Uniformierte. „Ich bin hier nur zufällig.“ Eines der Weltwunder musste akuten Urlaubsbedarf gehabt haben, denn Anne bliebt ruhig. Üblicherweise hätte sie bereits jetzt einem Schupo die Altersversorgung ruiniert. „Nicht Ihr Revier“, antwortete sie bissig. „Und wenn Sie eine Leiche vor dem Gymnasium finden, schleppen Sie die zum Postamt, weil sie das im Bericht einfacher schreiben können.“ An der Reaktion – gar keiner – erkannte man wenigstens, dass es sich um einen echten Schutzmann handeln musste. Er blickte sie nur treuherzig an, unternahm aber nichts. „Ich verstehe ja“, sprach er gedehnt, „aber uns sind da die Hände gebunden. Wenn Sie den Täter selbst stellen, dann fangen wir ihn für Sie. Sie müssen aber den Namen vorher schriftlich einreichen, mit Durchschlag, ist ja klar.“ Wir sahen uns verständnislos an. „Wir sind dafür nicht mehr zuständig. Das hat mit den Aufgaben der Polizei nichts zu tun, wir müssen uns jetzt um wichtigere Dinge kümmern.“

Sie sah ihn entgeistert an. Immerhin ist sie Strafverteidigerin – wer sie gegen sich hat, befasst sich gerne mit den letzten Dinge und ordnet seinen Nachlass – und musste sich nicht von einem Nichtjuristen in Uniform belehren lassen. Jedenfalls war sie bisher dieser Meinung gewesen. „Das ist ja nicht staatsgefährdend, wenn Sie einen Kratzer in der Tür haben. Das können Sie ja auch privat regeln.“ Anne schnaubte vor Wut. „Und Sie erwarten, dass ich eine kriminaltechnische Untersuchung anfertigen lassen, um den Täter der Staatsanwaltschaft zu übergeben?“ Er nickte. „Es sei denn, es könnte sich möglicherweise um einen linksradikalen Täter gehandelt haben oder um jemanden, der einen kennt, der von jemandem weiß, dass man diesen als linksradikal…“ Anne winkte ab. „Wir verschwenden unsere Zeit.“

Der Polizist tat etwas, was er besser nicht hätte tun sollen: er lächelte. „Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Ihr Staat immer noch das Gewaltmonopol hat.“ Sie schnappte zurück. „Sie fordern von mir, dass ich selbst den Täter anbringe, aber dazu darf ich dann nicht das Gewaltmonopol des Staates in Anspruch nehmen!?“ Er nickte. „Wir greifen nur noch bei ganz schweren Verbrechen ein, verstehen Sie? Wenn man Sie ermordet hat, kommen Sie gerne zu uns, wir haben jeden Vormittag geöffnet. Außer Montag und Mittwoch. Und die Wochenenden, aber die fangen auch schon Donnerstag an.“

Wer Anne kennt, hätte jetzt ein heftiges Streitgespräch erwartet. Sie übersprang es und zog sofort das Diktiergerät aus der Tasche. Offensichtlich hatte der Beamte die Gefahr richtig eingeschätzt; er fing an zu jammern. „Aber es ist eine Dienstvorschrift! Wir vereinfachen doch die Rechtslage auch, indem wir bei Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung nicht den Fahrer ermitteln, sondern gleich den Halter…“ „Vereinfachen“, höhnte Anne, „die Polizei beugt das Recht, weil die Idioten in Uniform zu dumm sind, sich an Polizei und Strafprozessordnung zu halten.“ „Dafür sind wir aber bei schweren staatsgefährdenden Straftaten sofort für den Bürger da“, beeilte er sich. „Es sei denn, Sie werden abgehört, weil davon verstehen wir ja nichts.“ Er pusselte ein bisschen an seinen Knöpfen herum, und mit einen Mal packte Anne ihn am Kragen. „Aber ich bin doch Ihr Freund und Helfer“, keuchte er. „Ich helf Dir gleich“, stieß sie hervor, „Freundchen – wir unterhalten uns gleich auf dem Revier weiter.“

Unterdessen war Doktor Klengel aus der Haustür getreten, die Aktenmappe unter dem Arm. Missbilligend hob er eine Augenbraue. „Meine Güte“, sprach er, „was für ein Terror.“ „Sehr gut“, stöhnte der Polizist, „dafür bin ich ja hier. Rufen Sie Verstärkung, die werden sich darum kümmern.“

Anne hieb die Tür ins Schloss. „Sehr gut“, sagte ich trocken. „Ganz hervorragende Arbeit. Und morgen erledigst Du dann bitte die Bundeswehr.“





Doppelspitze

8 04 2013

„Aber sagen Sie das bloß nicht weiter. Wenn sich das rumsprechen sollte – nicht auszudenken! Vor allem in Europa. Eine Kanzlerin wie Merkel, das geht ja noch. Aber zwei? Das gibt ein Drama!

Das ist so weit korrekt, wir haben die Kanzlerin verdoppelt. Technisch war das kein Problem, so viel Substanz war das ja wohl nicht beteiligt. Wir haben dann so eine quantenphysikalische Sache gemacht, da brauchten wir was dunkle Antimaterie, oder wie das Zeug heißt – so ganz genau hat das keiner verstanden, aber es scheint zu funktionieren. Ist ja bei der Eurokrise dasselbe. Und nun haben wir eben eine Bundeskanzlerin. Und noch eine.

Es hat so seine Vorteile. Bei dem Arbeitspensum einer Regierungschefin, in Italien Urlaub machen und zwischendurch das deutsche Rentensystem schleifen, das ist schon recht aufwendig. Und dann müssen Sie ja auch mal diese Mehrfachbelastung sehen. Bundeskanzlerin und CDU-Chefin und Außenministerin und Europas Vorstandsvorsitzende und dann noch die Merkel sein, das schafft doch sonst keiner. Wirklich, damit hat sie einen großen Vorteil.

Es hatte ja erst wieder eine Riesendiskussion gegeben, ob man das machen darf. Therapeutisches Klonen, Sie wissen schon. Aber irgendeiner hat dann gesagt, letztlich hilft es auch der Wirtschaft. Da ging’s dann plötzlich sehr schnell. Sie wissen ja, was der Wirtschaft nützt, das ist gut für die Partei, und was der Partei nützt, ist sicherlich auch von Vorteil für die Wirtschaft. Bevölkerung, wollte ich sagen, Bevölkerung.

Es bestand nämlich eine gewisse Nachfrage, müssen Sie wissen. Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, es mit zwei Merkels zu probieren, die den unterschiedlichen Erfordernissen des politischen Geschäfts Rechnung tragen. Die Deutschen wollen eine Regierung, auf die sie schimpfen können, weil das Land vor die Hunde geht – kriegen sie die Merkel. Dann wollen sie aber auch eine Kanzlerin, die sie bewundern können, weil sie nichts macht. Kriegen sie halt die andere Merkel. Damit schafft man langfristig Vertrauen in die Regierung. À propos Regierung, die eine Merkel kündigt den Deutschen an, sie hätte die beste Regierung seit der Wiedervereinigung. Die andere Merkel hat dann das amtierende Kabinett. Wie finden Sie das? Die eine Merkel brockt uns die ganze Zypernkrise ein, die andere Merkel wird dafür gelobt, dass sie sie so gelassen und kompetent aussitzt.

Oder nehmen Sie die innenpolitischen Themen. Die eine Merkel verspricht den NSU-Opfern, dass wir jetzt aber auch ganz bestimmt viel toleranter sind und gar nicht mehr so sehr auf diese ganzen Ausländer schimpfen wollen. Die andere Merkel pöbelt dann gegen die faulen Griechen, die ihre Milliardenkredite nicht zurückzahlen wollen und lieber vom Arbeitslosengeld leben. Schauen Sie, ohne diese Doppelspitze gewinnt man heute einfach nicht mehr die Lufthoheit über den deutschen Stammtischen.

Aber mal so ganz unter uns: woran ist es Ihnen eigentlich aufgefallen? Dass sie quasi überall ist? In der CDU und mal liberal und mal konservativ und mal christlich-sozial – die steht plötzlich hinter ihnen, und zack! sind Sie entweder erledigt oder Bundespräsident. Oder beides. War es das? Oder dass sie Westerwelle so gut erträgt? Ja, das war schon während der Koalitionsverhandlungen der entscheidende Vorteil, länger als drei Minuten hält dieses Geschwabber doch kein Mensch aus, und nach drei Minuten haben wir sie ausgetauscht. Fiel keinem auf, dem Westerwelle schon gar nicht. Der kriegt von Sachen, die außerhalb seiner Vorstellung stattfinden, nur in Ausnahmefällen mit, deshalb ist er ja auch der beste Außenminister seit – auch nicht? Ah so. Ja, das macht Sinn. Diese moralische Flexibilität, die ist so einfach auch gar nicht zu schaffen. Das muss man erstmal hinkriegen. Da hat sie natürlich die Nase vorn. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass das, was vor den Wahlen gesagt wird, auch wirklich nach den Wahlen gilt, und wir müssen damit rechnen, dass das in verschiedenen Weisen sich wiederholen kann. Hat sie gesagt. Und das gilt dann auch. Meistens. Nach den Wahlen.

Ja, das zieht Kreise. Wird auch langsam etwas gefährlich, weil man ja nie weiß, wann es aufkippt. Beispielsweise das mit der Gleichstellungspolitik. Die eine Merkel findet das Grundgesetz scheiße, die andere findet das Grundgesetz nur solange scheiße, bis das Bundesverfassungsgericht sie zwingt, es anzuerkennen. Wieso das ein Problem ist? Denken Sie immer daran, dass wir in einer Art Demokratie leben, die auch ein Markt ist. Oder auf einem Markt, der sich für eine Demokratie hält. Man verliert Wählerstimmen, Marktanteile, wollte ich sagen, Marktanteile, man verliert Marktanteile mit einer einseitigen Strategie. Stellen Sie sich mal vor, die Klimakanzlerin hätte irgendwann gesagt, dass sie das mit der Energiewende wirklich ernst meint. Das kann man doch keinem zumuten! Und genau da kommt die zweite Merkel ins Spiel.

Wir haben einen Wartungsvertrag mit dem Institut abgeschlossen. Wenn das Double nicht mehr funktioniert, bekommen wir kostenfreien Ersatz. Oder ein Austauschmodell, bis bei dem alten die Quanten wieder geradegebogen sind. Ob das klappt? Ich habe so meine Zweifel. Das letzte sah aus wie Peer Steinbrück.“