Die Bahn kommt

10 01 2011

04:45 – Im Bahnbetriebswerk Düren gießt sich Erwin K. (58) einen Pfefferminztee auf. Ein langer Tag an der Schnellfahrstrecke Köln–Aachen steht an. Die Außentemperatur lässt den Betriebsdirektor mit den Zähnen klappern. Es läuft ihm eiskalt den Rücken herunter: +2 °C. Dies wird eine harte Bewährungsprobe sein für Mensch und Maschine. Der Einsatzzug nach Rothe Erde steht bereit. Die Abfahrt verzögert sich wegen einer technischen Störung um zehn bis fünfzehn Minuten.

05:22 – Synergieeffekte kündigen sich in mehreren deutschen Großbahnhöfen an. Weder in Essen noch in Mainz, Heidelberg oder Koblenz sind die Fahrkartenautomaten in der Lage, Fahrkarten zu verkaufen. Eine Planungskommission nimmt sich der Sache an. Erste Ergebnisse werden für April erwartet.

06:42 – Dankbar nimmt Betriebsleiter K. das Angebot des Veteranen Juri Profirjewitsch L. (86) an, den noch immer nicht fahrbereiten Zug in den Bahnhof einzuschleppen. Der russische Bahner, der noch die Munitionstransporte des Vaterländischen Krieges an den Rand des Stalingrader Kessels miterlebt hatte, findet sich auf der Kleinlokomotive Leistungsgruppe II rasch zurecht; bereits elf Minuten nach dem Anwerfen des Dieselaggregats befinden sich zwei komplette Zugeinheiten im Dürener Gleis.

07:16 – Im ZDF-Morgenmagazin gibt Bahnchef Rüdiger Grube neuen Zündstoff in der Diskussion um den Stuttgarter Bahnhofsbau. Er räumt zunächst erhebliche Defizite ein, überrascht dann aber mit einer wirklich tollen Nachricht. Stuttgart 21 werde keinen einzigen Euro kosten. Man werde dazu die baden-württembergische Landeshauptstadt einfach weiträumig umfahren und sich auf diese Art einen Bahnhof ersparen.

08:05 – Das improvisierte Meeting in der Agentur Schräubele Beißling Friends & Partner deckt erhebliche Kommunikationsdefizite auf. Der versehentlich durchgesickerte Entwurf Alle reden vom Wetter. Die Bahn nicht, das wäre auch zu peinlich hat bereits den Kunden erreicht. Köpfe sollen rollen. In aller Eile überlegen sich die Leiter der PR-Abteilung eine Ausrede. Das Fax wird gelesen, abgeheftet und ignoriert. Glück gehabt. Die Deutsche Bahn interessiert sich nicht für das, was Beraterfirmen ihr sagen.

08:28 – Nach knapp dreieinhalb Stunden Wartens auf dem Bahnsteig dürfen die ersten Fahrgäste den Einsatzzug betreten. Betriebsleiter K. hatte sich schon seit einer halben Stunde gefragt, welcher Zug dort Gleis 2 blockiert – Zugchef Klaus O. (34) sah vor einer Aufforderung, die Türverriegelung der Zugeinheiten zu lösen, keine Veranlassung, den Einsatzzug nach Rothe Erde in Betrieb zu nehmen. Nach einer lautstark ausgetragenen Diskussion vor allen Zuggästen, in denen sich beide Mitarbeiter eine weitere halbe Stunde lang übel beleidigen, scheint Bewegung in die Sache zu kommen.

08:41 – Die Konzernzentrale der Deutschen Bahn AG gibt stolz bekannt, dass zum ersten Mal die Hartmut-Mehdorn-Medaille verliehen wird. Bahnchef Grube, der als einziger Kandidat zur Wahl stand, verleiht sich die mit 500.000 Euro dotierte Auszeichnung gleich selbst.

09:03 – Lokführer Jens P. (44) teilt dem übrigen Bahnpersonal mit, dass die Heizung eingefroren sei. Man könne wegen der strengen Minusgrade die Lokomotive nicht in Betrieb nehmen, die Fahrt müsse ausfallen. Zugchef O. macht P. darauf aufmerksam, dass sich die Temperaturanzeige bereits bei +3,5 °C befindet und sich dessen Diagnose auf ein mit Heckleuchte an/aus beschriftetes Messinstrument bezieht. P. korrigiert sofort seinen Fehler. Im Zuge eines guten Betriebsklimas unter den Mitarbeitern einigen sich beide auf eine Verzögerung der Abfahrtzeit wegen technischer Störung um dreißig bis vierzig Minuten.

09:32 – Überraschend haben sich ganz neue Synergieeffekte mit defekten Fahrkartenautomaten und den selten auftretenden Zugverspätungen im einstelligen Stundenbereich ergeben: die Toiletten im Bahnhof Aschaffenburg sind nicht zu benutzen. Die Planungskommissionen haben beschlossen, zur Nutzung von Synergieeffekten ihre Planungen zusammen zu planen.

10:17 – Neuigkeiten aus der Konzernzentrale. Zahlreiche effektive Sparmaßnahmen haben den Bahnkilometer derart verbilligt, dass er brutto nur noch 1,37 € kostet – woran sich der Fahrgast mit bescheidenen 7,82 € (netto) beteiligt. Mehr Kundenfreundlichkeit, so das Gremium, sei dem Verbraucher nicht zuzumuten.

10:33 – Lokführer Jens P. hatte nur die Seite in der Bedienungsanleitung für den 406 x01–x13 verwechselt, doch jetzt laufen die Heizungen auf Hochtouren, wenngleich nur im vorderen Teil des Zuges. Der zweite Halbzug wird nur von der Menge der Fahrgäste gewärmt, die dank eines fehlerhaften Reservierungssystems in anderthalbfacher Menge vorhanden sind und die Zeit bis zur Abfahrt des Zuges stehend verbringen.

10:44 – Ramsauer tobt. Er will die Schweizerische Staatsbahn wegen unlauteren Wettbewerbs verklagen. Die Züge der SBB fahren, obwohl eine drei Millimeter dicke Eisschicht die Bahnhofsuhren bedeckt. Der Bundesverkehrsminister kündigt an, die Eidgenossen aus der EU zu schmeißen, wenn sie nicht sofort die vielen ausländischen Wörter aus ihrem Fahrplan entfernen.

10:58 – Die Direktion Köln gibt ihre Zustimmung, Erwin K. darf einen neuen Halbzug anfordern, dessen Heizungssystem garantiert gewartet wurde. Direktionsmitarbeiter Stefan W. (41) verschweigt, dass die letzte der halbjährlichen Prüfungen im März 2001 stattgefunden hat. Aber danach war er ja auch nicht gefragt worden.

11:03 – Die gemeinsamen Planungen der synergetisch zusammenarbeitenden Kommissionen werden zur Planung neuer Synergieeffekte jetzt von einer gemeinsamen Planungskommission geplant. Ihr Eintreffen wird sich allerdings um ein bis zwei Stunden verzögern, da sie mit dem Zug anreisen.

11:40 – In Abstimmung mit der Deutschen Bahn spricht sich auch der baden-württembergische Ministerpräsident Mappus ganz objektiv für eine sofortige Fortsetzung von Stuttgart 21 aus, da nur so eine Unabhängigkeit von den katastrophalen Eiszeitbedingungen zu erwarten sei. Wenn wegen der zu erwartenden Streckenstilllegung ohnehin kein Zug mehr Stuttgart werde anfahren können, erspare man sich sämtliche Unterhaltsmaßnahmen für den geplanten Tiefbahnhof. Dadurch verteuere sich der Bau auch nicht, wie zuerst angenommen, auf 88,9 Milliarden, sondern nur auf 88,87 Milliarden Euro.

12:18 – Bahnchef Grube eilt nach Potsdam. Private Ermittler hatten die Überreste eines Schneehaufens ausgemacht. Während sich der Unternehmensleiter vor dem zwanzig Zentimeter hohen Konglomerat aus kristallinem Matsch und Straßenschmutz von einem Kamerateam filmen lässt, arbeitet die PR-Abteilung der Deutschen Bahn AG bereits an der Pressemitteilung: große Schneemengen schmelzen ab, es ist unmöglich, unter diesen Bedingungen den Bahnverkehr aufrecht zu erhalten.

12:21 – Vollkommen unbemerkt synchronisiert das Medienteam den Film neu. Für den Fall, dass Grube im kommenden Winter noch beruflich mit der Deutschen Bahn AG zu tun haben sollte, teilt die Tonspur mit, die enormen Schneemengen seien Vorboten einer interstellaren Klimakatastrophe, die jeden Bahnverkehr unmöglich machten.

12:25 – Kurz vor der endgültigen Order des neuen Zugteils entdeckt Betriebsdirektor K. das Memo, dass nur noch Zugeinheiten oder das zum Betrieb desselben erforderliche Zugpersonal angefordert werden dürfen, da eine doppelte Anforderung mit den Sparzielen des Unternehmens nicht mehr zu vereinbaren sind. Direktionsmitarbeiter Stefan W. bestätigt dies zeitnah. Während der unbeheizte Halbzug sich langsam wieder der Außentemperatur annähert, ist nicht in Erfahrung zu bringen, wie sich das Innere der beheizten Hälfte macht. Die Türen sind nicht mehr zu öffnen.

12:50 – Die Pressemitteilung zur flächendeckenden Einführung der neuen FAB (Fahrkarten-Abreiß-Blocks) aus Recycling-Papier lässt aufhorchen. War man bisher von Mobilendgeräten abhängig, die in Synergie mit nicht funktionierenden Fahrkarten-Ausgabeterminals versagten, so werden ab sofort kleine Pappkärtchen mit Kugelschreiber ausgefüllt, einem Gerät, das sogar von der Bundesregierung höchste Wertschätzung erfährt. Die Deutsche Bahn, so die Deutsche Bahn, sei gut gerüstet für den Wettbewerb: bei weiter voranschreitendem Tempo könne man die für das Jahr 2015 vorgesehenen Entwicklungsschritte tatsächlich schon bis 2027 erreichen und hätte damit knapp Bangladesch eingeholt – falls es nicht zwischendurch regnet.

13:59 – Der reine Wagemut bringt Zugchef Klaus O. dazu, eine seit 2007 zur Wartung der Radreifen ausgesonderte Einheit vom Abstellgleis entfernen zu wollen; es scheitert letztlich daran, dass er sich nicht in der Lage sieht, den Triebkopf in Gang zu setzen. Die Abfahrt dieses Zugteils wird sich wohl aus Gründen auf unbestimmte Zeit verzögern.

14:08 – Eine Planungskommission stellt fest, dass sämtliche Züge mit Elektroantrieb zusätzlich mit Dieselaggregaten ausgerüstet sein müssten, um im Notfall die Stromversorgung für Heizung, Beleuchtung und Klimaanlage sicherzustellen. Der Vorstand greift die Anregung dankend auf. Für den kommenden Winter empfiehlt er den Probelauf einer neuen Serie von Kühlkompressoren, für den übernächsten Sommer eine temperaturgeregelte Hochleistungsheizung. Alternativ wird empfohlen, nur die nötigen Finanzbedarfe zu ermitteln und das Geld in die Fassadengestaltung der Berliner Bahnhöfe zu investieren.

14:21 – Mit einem heiseren Wutschrei drischt O. auf die Armaturen im Führerstand ein. Dabei trifft er versehentlich den mit Hauptschalter beschrifteten Hauptschalter. Rumpelnd schaltet sich das Dieseltriebwerk ein. Verwirrt betätigt der Zugchef freistilmäßig diverse Knöpfe, Hebel und Kippschalter. Ruckelnd fährt der Zug an. Wäre da nicht die Tatsache, dass die Bremsen nicht ganz gelöst sind, alles wäre in Ordnung.

14:28 – Ohrenbetäubendes Kreischen begleitet den Zug, der langsam durch den Bahnhof gleitet. Doch das kann die Fahrgäste auf dem Bahnsteig nicht davon abhalten, die über das Gleisbett kratzende Zugeinheit zu entern – sie besteigen den Zug, denn sie wollen nur eins. Raus aus Düren. Weg von hier.

15:43 – Da in der kompletten ICE-Flotte die Kühlschränke ausgefallen sind, werden die Vorräte in die Bordbistros zwar eingeräumt, die rollenden Gastbetriebe sind jedoch nicht geöffnet. Am Zielbahnhof, so Konzernchef Grube, entsorge man selbstverständlich rückstandsfrei alle Lebensmittel. Ein Unternehmen, das bald zu den modernsten an der Börse gehören werde, so der oberste Führer, dürfe nie ohne ausreichende Verpflegung unterwegs sein. Dies sei unprofessionell.

16:39 – Keiner hatte Erwin K. davon informiert, dass ausgerechnet heute Außenminister und Vizekanzler in seinem Stammland auf Achse ist. Mit einer südkoreanischen Gesandtschaft im Schlepp betritt er den Dürener Bahnhof, Gleis 1, wo sich eine knallheiße, mit keifenden Passagieren vollgepfropfte Blechwurst befindet. Die Gäste können mit Mühe davon abgehalten werden, dies für einen experimentellen Nachbau der Tokioter U-Bahn zu halten.

16:49 – Die Mannschaft, inklusive Sicherheits- und Pressepersonal, besteigt den ausrangierten Zweitzug und bereitet sich auf die versprochene Reise im Hochgeschwindigkeitsexpress vor: die Fenster werden verhängt. Der eilig herbeigeschaffte FDP-Ortsverband Düren ruckelt von unten an den Waggons, um eine Turbo-Fahrt durch Deutschland zu simulieren. Die Hälfte skandiert U-Tschu-Tschu zur Simulation des Fahrgeräuschs, vereinzelte Personen mischen im Sekundentakt mit Ka-takkatakk Schweißstellenstöße ins akustische Panorama. Westerwelle unterhält sich blendend. „They will go on the Germans’ purse“, kündigt der Außenwirtschaftsminister seinen fernöstlichen Gästen an.

17:17 – Auf die Presseanfrage, ob es in den ICE-Zügen wenigstens intakte Kaffeemaschinen gebe, reagiert der Vorstand verschnupft. Man teilt den Journalisten mit, die technischen Schwierigkeiten der Deutschen Bahn seien größtenteils eine Folge der Umweltschützer, die einen zu starken Beschnitt von Baumkronen in Oberleitungsnähe verhindern. Durch die vielen Schneebrüche komme es zu kaum tragbaren Verspätungen, die sich im Laufe der Jahrzehnte aufsummierten. Der Weltuntergang stehe unmittelbar bevor.

17:28 – Die Illusion ist perfekt, der Dürener Bahnhof rauscht inzwischen direkt näher an München heran; Stoibers Vision wird Wirklichkeit. „This have all we from the FDP upbuilt“, informiert Westerwelle die Delegation. „Special I, who am the allgreatest Top-Politician under the Outside Ministers, have maked that here in Germany now all many, many better is! And I speak it out“ Die Südkoreaner sind zu höflich, um die drittklassige Schmierenkomödie zu bemerken, diese ist allerdings so offenkundig, dass Westerwelle sie für wirklich hält. Er beschließt, gleich nach der Ankunft in Berlin, eine Pressekonferenz zu geben, damit die Nation weiß, dass er, Guido Westerwelle, ganz allein mit vielen Ausländern Tut-Zug fährt.

18:00 – Der Vorstand stellt das neue Wellness-Angebot der Deutschen Bahn vor: die BahnCard StehPlatz. Eine Reservierung entfällt ab sofort, so kann sie auch nicht mehr schiefgehen.

19:40 – Die hereinbrechende Dunkelheit verunsichert die Mitarbeiter. Auf Anfrage der Konzernleitung gibt die Münchener Universitäts-Sternwarte bekannt, dies sei ein vollkommen normaler Vorgang, der weder bedrohlich noch sonderlich bemerkenswert sei, sondern immer schon so stattgefunden habe. Bahnchef Grube bezeichnet dies als sozialistische Spekulationen und kündigt juristische Schritte an. Nichtsdestoweniger kann er nicht verhindern, dass dreizehn Züge aus dem Verkehr gezogen werden müssen: die Batterien waren schon vor Tagen als defekt gemeldet worden und versagen der Zugbeleuchtung den Dienst. Die Anweisung von ganz oben, die Zugeinheiten mit der Taschenlampe durch die Lüneburger Heide zu lotsen, lehnen die Zugführer kategorisch ab. Grube droht Konsequenzen an.

21:24 – Beim Versuch, die Stromversorgung mit Bordmitteln zu reparieren, gibt es im ICE 25 kurz vor Augsburg einen Kurzschluss; die Verriegelung löst sich, so dass eine Tür in voller Fahrt abreißt. Die Eisenbahndirektion teilt dem Zugchef mit, dass von den Fahrgästen für die nicht im Preis inbegriffene Spezial-Aircondition ein Aufschlag zu erheben sei.

23:39 – Seit dem Ichenberger Tunnel sind zwei Fahrgestelle aus dem Gleis gesprungen. Der Zug stuckert wie ein mobiler Schüttelrost durch die Nordeifellandschaft, allein er erreicht Rothe Erde nie. Eine festgefressene Weiche im Bahnhofsgleis von Stolberg lenkt die Wagen im Schneckentempo auf Gleis 4. Es hätte nicht schlimmer kommen können.

23:44 – Mit einem dumpfen Stoß, gefolgt von verröchelndem Knirschen und tieffrequentem Gepolter, setzt der Einsatzzug auf dem Ende von Gleis 4 auf. Der Prellbock verhält sich physikalisch durchaus vorschriftsmäßig, er beendet die Fahrt mit einem unelastischen Stoß. Bange Minuten der Stille liegen in der Luft, nächtlich rauchende Trümmer knarzen unter dem eigenen Gewicht, bis sich Zugchef Klaus O. aufrappelt und leicht benommen noch aus dem geborstenen Seitenfenster beugt, um mit zittriger Stimme die Fahrgastinformation ins Dunkel zu rufen: „Meine Damen und Herren, wegen einer technischen Störung endet die Fahrt bis auf weiteres in Stolberg Hauptbahnhof. Ssänk ju for träwwelink wiss Deutsche Bahn!“