Gernulf Olzheimer kommentiert (CXXIX): Tchiboisierung

25 11 2011
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Mit dem Werkzeuggebrauch beginnt, was der Art Intelligenz im engeren Sinne verleiht, der plan- und sinnvolle Einsatz der Materie. Man kann mit der Bratpfanne zwar Nägel in den Putz dengeln, aber mit dem Hammer keine toten Tiere rösten, und je nach Größe und Geschwindigkeit des Tiers im Lebendzustand gibt es auch Objekte, die man bei der Fühlungnahme mitführen sollte, um nicht die Nahrungskette unerwartet restrukturieren zu müssen. So entstand die arbeitsteilige Gesellschaft als logische Folge des Spezialistentums, und spätestens mit der Trennung von Produktion und Handel merkte der gesellschaftlich eingebundene Mensch, dass die Vielfalt der Erzeugnisse gleichermaßen die Wissensvielfalt des Handwerkers wie des Verkäufers hervorbringt. Wer eine gute Pfanne zu schmieden weiß, muss nicht unbedingt bratfertige Tiere aus der Steppe mitbringen, und wer sein Angebot auf eisernes Geschirr ausrichtet, braucht kein Experte für Stiefel und Brennholz zu sein. Der Vertrieb fand seine Daseinsberechtigung und feilte eifrig daran, sich unverzichtbar zu machen in einer Nische, die noch von keinem anderen mit fettigem Selbstverständnis ausgefüllt worden war. Es hätte so bleiben können, es hätte ein gutes Einvernehmen fortbestanden zwischen Krämer und Kunde, und hätte man die Krankheiten des Spezialistentums im Zaum gehalten, jene Arroganz des Fachidioten, alles wäre gut geworden. Aber die Mehlmützen aus der Chefetage konnten wieder den Hals nicht voll kriegen und läuteten die Tchiboisierung des Einzelhandels ein.

Hemmungslos schwallt der Kompetenzfasching aus dem Management, neue Marketing-Ideen wollen ausprobiert sein. Hygieneartikel neben dem Kühlregal, Taiwanplaste schräg gegenüber vom Spirituosengang, nichts ist den Grützbirnen zu doof für einen merkantilen Vollrausch. Hier und da sind noch Überreste intakter Ladenstrukturen zu erkennen – wo Tiernahrung ausgeschildert ist, jodelte keine Reformkost von der Palette – und die kleineren Dorfsupermärkte lehnen den Konsumkirmes flächendeckend ab. Wo es aber urbaner wird, wo sich Marke an Marke blutige Verteilungskriege um Prozentpunkte auf dem Analogkäse-Segment abspielen, da wird der Käufer mit vorgehaltener Knarre zum Ablaschen gezwungen, ob er denn will oder nicht. Kreuz- und Querverkauf ist die Devise, ohne Heizstrahler und Digitalkurzzeitmesser kriegt das Mütterchen heute keine Tüte Mehl mehr an die Kasse gehievt. Wer einmal seinen Fuß in die Kaufhalle gesetzt hat, ungeschoren kommt er nicht mehr heraus.

Längst fräst sich das wuchernde Elend durchs ganze Geschäft. Mit knirschenden Zähnen hat man sich daran gewöhnt, dass keine Tankstelle ohne einen begehbaren Zigarettenautomaten auskam – Reisende soll man nicht aufhalten – und das Angebot sich im Laufe der Jahre subtil um Alkoholika und Schmuddelhefte erweitert hat, kurz: alles, was man auf einer unerträglichen Reise zwischen den Staurändern von Bad Salzuflen bis Pirmasens braucht, um nicht wahnsinnig zu werden. Keinen stört’s, dass der Bäcker, der einst die Morgenzeitung verkaufte, mörderische Konkurrenz bekam vom Printheini, der jetzt auch die Brötchen unters Volk jubelt. Die Angelegenheit hätte man aufhalten können. Aber wir schalten auf Durchzug.

Nicht nur der Niedergang des Fachhandels an sich ist Ergebnis dieser komplementär angeordneten Hirnkasperade, wie sie ein paar verstrahlte BWL-Popeletten aus den Synapsen geschwiemelt haben, insbesondere ist es der Abstieg der Sortimenter. Was als Shop-in-Shop zur nachhaltigen Steigerung der Kundenzufriedenheit angepriesen wird, ist in Wahrheit tonnenweise Zeugs neben der Wursttheke, Kruscht und minderwertige Ware, wie sie der billige Jakob auch nicht besser durch die Endkontrolle hätte schmuggeln können. Die Überschwemmung der unspezifischen Magazine mit Schrott im Doppelpack, mit überflüssigem Gewurbel und Geschlonz, Damenstrumpf und Klapptisch, Melonenspaltgerät und Staubsauger, nagt dem Konsumopfer an Netzhaut und Verstand, fordert zum ästhetischen Deathmatch heraus und bringt den Käufer, der einfach nur ein Stück Brot gekauft hätte für sein Geld, zur Emotionsbulimie. Wuchernde Flächen, die nach und nach das Kerngeschäft – normale Waren zum akzeptablen Preis-Leistungs-Verhältnis – an die Wand pappen. Die ganze Bude degeneriert zur dreidimensionalen Werbebande für Schutt en gros. Nicht mehr der Handel mit hereingekübelten Prekärprodukten steht hier im Vordergrund, der ist längst passé. Der Resthirnuser weiß, dass man funktionsfähige Türstopper besser nicht im Fischgeschäft kauft, der Manager weiß, dass der es weiß, und also kleistert er seinen Basar mit Lockrufzeichen voll: die Überflüssigkeit des zur Dekoration geronnenen Angebots, das der Bescheuerte getrost ignorieren kann, da es nur symbolische Form ist, kannibalisiert den Geschäftszweck.

Die Entartung des Erwerblichen grinst schon diabolisch durch die Kategorien. Man bucht seine Reise heute bei der Bank, während den passenden Kredit zur Finanzierung das Autohaus liefert. Rasenmäher und Bettgestell finden sich einträchtig neben Kinderspielzeug und Adventsdekoration im Heimwerkermarkt. Es dürfte eine Frage der Zeit sein, bis man beim Internisten gleich seine Bestattung buchen kann. Für drei Koloskopien gibt es wahrscheinlich einen Gutschein. Und Röstkaffee.





Shopschwerenot

18 11 2009

Kornmöller zupfte an den silbernen Girlanden, die wie überdimensionales Lametta im Tannengrün klebten; der Budenzauber sah aus wie die Bad-Salzschlirf-Variante einer Las-Vegas-Dekoration, bunt, glitzernd und penetrant. Er beugte sich zu mir herunter. „Und, wie finden Sie’s?“ Ich teilte ihm mit, dass mein Magendurchbruch unmittelbar bevorstünde. „Wunderbar“, jubilierte Kornmöller, „wenn Sie es nicht ausstehen können, werden die anderen Kunden es lieben!“

Der kleine Karren an der Seite des Korridors war mir schon zuvor zwischen den weihnachtlichen Versatzstücken aufgefallen. Ob es sich um einen umgebauten Golfwagen handelte? „Ganz recht“, bestätigte der Geschäftsführer der Superkauf-Passage, „wir nehmen Carts dafür. Die Windschutzscheibe haben wir natürlich komplett umgebaut, wie Sie sehen.“ Ich riskierte einen Blick. Tatsächlich, das Flachglas war einem Plasmabildschirm gewichen. „Damit werden wir die Umsatzrekorde brechen“, jauchzte Kornmöller. „Wir werden das ganze Weihnachtsgeschäft revolutionieren mit unserem total neuartigen, kundenfreundlichen Shopping-Angebot. Es wird einfach grandios sein!“ Mir schwante Schlimmes; ausgehend von den schauderhaften Adventsdekors in Kunststoffspritzguss sah ich goldbeflitterte Engel Haushaltswaren anpreisen, leicht bekleidete Damen im Autozubehör und jede Menge Nikoläuse im Spielwarenbereich. Mein geistiges Auge tränte ergriffen. Doch Kornmöller wischte das alles mit einer Handbewegung fort. „Das alles war gestern! Wenn Sie heute noch jemanden erreichen wollen, müssen Sie mit der Zeit gehen und ein völlig neues Einkaufsgefühl kommunizieren – Shopping wie im Internet!“ „Soso“, antwortete ich mokant, „wie im Internet. Ich kann die Ware nicht anfassen, das Produkt sieht so ähnlich aus wie das Symbolfoto, die Ware ist nicht lieferbar, da noch nicht hergestellt oder noch nicht auf Lager, und zu guter Letzt bin ich einem Betrüger aufgesessen?“ „Quatsch“, schnaubte er, „alles billige Vorurteile! Setzen Sie sich, ich zeige es Ihnen!“

Wir bestiegen den Einkaufs-Wagen. Kaum saß ich in auf der unbequemen Bank, begrüßte mich die leiernde Stimme meiner virtuellen Ladenhüterin. „Herzlich willkommen bei Ihrem persönlichen Einkaufsbummel Sie werden jetzt im Menü die einzelnen Abteilungen sehen wenn Sie eine Abteilung auf dem Touchscreen berühren halten wir an.“ „Sehr praktisch“, befand ich, „mehrere Abteilungen, und ich darf mich frei entscheiden – revolutionär!“ Kornmöller musste den leisen Spott in meiner Stimme überhört haben, jedenfalls fragte er sofort nach. „Sie sagten doch vorhin, dass Sie eine Krawatte und neue Schuhe bräuchten.“ Er tippte auf die Schuhabteilung. Bilder zischten über den Schirm. Die Stimme hub wieder an zu leiern. „Der Vacuumat Z-3000 ist die völlig neue Synthese aus Sandstein und schonend feuervergoldeter Schafschurwolle mit 30% Majoran er setzt Maßstäbe dank seiner enormen Strahlungssicherheit bei gleichzeitig vollverzinkter, kalorienarmer Beschleunigung und ist auch in Ihrem Garten das modische Accessoire für den Weltfrieden.“ „Sehr gut! Ich bin begeistert!“ Er grummelte. „Nein, ich bin wirklich begeistert. Jetzt noch etwas über Herrenschuhe, und ich könnte dieses Ding glatt ernst nehmen.“

Das Gefährt teilte mir mit, dass es gar keine Schuhe im Einkaufszentrum gäbe; gleichzeitig schossen lauter Pop-ups mit Aktionsangeboten in die Höhe, darunter auch edles Schuhwerk für Herren. Ich piekte den Finger hinein und lauschte der monotonen Botschaft: „Die Abteilung die Sie gewählt haben ist derzeit nicht verfügbar bitte besuchen Sie stattdessen auch unsere Abteilung Herrenschuhe und feine Lederwaren.“ „Das nennt sich jetzt bestimmt Multitasking“, schätzte ich. „Wie toll muss dann erst Multimedia sein. Fast so, als hätte man den Schuh in der Hand.“

Wir navigierten durch die Schuhregale, die es offiziell gar nicht gab – das Ressort befand sich in einer Seitennische der Baustoffe, links neben dem Zubehör für Perlstickerei und Völkermord – und ich fand einen halbwegs akzeptablen Budapester. „Sie können das Modell natürlich heranzoomen und drehen.“ Kornmöller fingerte auf dem Screen herum, doch nichts tat sich. Ich kratzte mich am Kopf. „Vielleicht sollten wir das System jetzt neu starten, um die Veränderungen anzuzeigen?“ „Das ist völlig normal“, beeilte er sich, mir mitzuteilen, „es hakt manchmal ein bisschen. Ah, da ist ja die Produktinformation.“ Und wieder schnarrte das einschläfernde Getön vor sich hin. „Dieser Herrenschuh in klassischem Schwarz ist ein Schuh den Sie zu vielen Gelegenheiten kombinieren werden er besteht zu 100% aus Llllllllllllllllll…“

Das Ding hing. „Sie hatten Recht“, höhnte ich, „ein völlig neues Einkaufsgefühl.“ Da Kornmöller bereits hektische Flecken im Gesicht trug, legte ich nach. „Ihre Karren fahren also auf einem Crash-Kurs? Da müssten wir uns jetzt überlegen, was wir machen. Ach Gott, er ist ja offen – alle Fenster schließen fällt also flach.“ Er lief krebsrot an und stieg aus dem Fuhrwerk. „Hübsches Blau übrigens. Was halten Sie davon, die Fehlermeldungen auch farblich individuell zu gestalten?“ Wutentbrannt trat der Weihnachtsgeschäftsmann gegen die Karre. Ich tröstete ihn. „Lassen Sie den Kopf nicht hängen, Kornmöller. Das wird schon. Und bis dahin drücken Sie den Leuten am Eingang einfach einen schönen Katalog in die Hand. Das ist ja auch fast wie Einkaufen.“





Gernulf Olzheimer kommentiert (XXIX): Verpackungen

16 10 2009
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Die Vernunft ist ein kostbar Ding; bisweilen so kostbar, dass der Dauerdemente sie gleich nach dem Betreten der Außenwelt an der Garderobe abgibt. Ohne Widerspruch lässt er sich aus Handteller und Kaffeesatz den größten Stuss vorlesen und nickt mit hohlem Kopf dazu. Dass der Mond aus grünem Käse sei, glaubt er eher als dem Schild Frisch gestrichen an der Holzbank. Schwappt dies Gewitter aus Form, Farbe und Lautstärke über den Eichstrich, so setzt beim Beknackten schlagartig Unzurechnungsfähigkeit ein.

Dass Intelligenz ein evolutionärer Irrweg ist, zeigt der Synapsennachzügler an Verpackungen. Im Normalzustand erscheint die Regalkulisse eines Supermarktes nur als Anhäufung beliebiger Waren, doch unter Drogen oder ohne geistige Gegenwehr wird die Umgebung zu einem bunten Paradies der falschen Vorspiegelungen. Im Großraumsarg lauert der tiefgekühlte Pigmentsurrealismus. Besäße der Debile Zeit, Hirn und Geschmacksnerven, um sich das auf Plastefolie vierfarbig aufgemöllerte Gemüse zuzubereiten, das ihm der Serviervorschlaghammer in die Netzhaut dengelt, müsste er nicht die Floradarsteller mampfen. Boden- und Zahnpflege unterscheiden sich lediglich durch Konsistenz und Geruch. Wer unter lebensbedrohlicher Paprika-Allergie leidet, greift zu Brotaufstrichen, die das Nachtschattengewächs auf dem Deckel abgebildet haben; es dient unzweideutig als Beweis, dass die Schmiere unter Abwesenheit von Paprika in den Behälter gesuppt war. In analoger Manier werden auch Erdbeerjoghurt, Schokoladenkekse sowie lachshaltiges Tierfutter gefertigt. Im Güterverkehr existiert der Begriff der Betrugsabsicht nicht. Erst wenn das überteuerte Erdnusstütchen im Billigflieger vor Erdnüssen an der Innenseite warnt, weiß der Passagier, dass es Lebensformen gibt, bei denen noch ein paar mehr Schrauben locker sitzen.

Wer im Vollbesitz seiner semantischen Kräfte die Hygienebatterie betritt und auf einer Papierware den Ausdruck samtstark entdeckt, sei sich Mitleids gewiss. Dergestalt angemeiert zu werden ist sich der kaufende Knalldepp schon nicht mehr bewusst, wenn er ein als kakaohaltig tituliertes Getränkepulver – hieße in etwa: Inhalt besteht nicht ausschließlich aus Rübenzucker und künstlichen Farbstoffen – mit dem Aufdruck „extra schokoladig“ verziert sieht. Ist die Plörre mit nennenswertem Anteil an Kakao gepanscht und also derart kakaoig, als wäre an ihrer Statt Kakao drinnen (dann könnte man wenigstens einen der beiden Inhaltsirrläufer einsparen), oder hat Doktor Mabuse bloß beim Zusammenrühren eine Tafel Vollmilch durchs Labor geschmissen? Tragödien lauern im brauen Sud, bevor man ihn in den Drahtkorb gehebelt hat.

Ein weites Feld stecken Light-Lebensmittel ab; im Gegensatz zu ihrer Bezeichnung führen sie zu schweren Ausfallerscheinungen, wenn im Stauraum zwischen den Ohren die letzte Birne ausgeknipst wird. In Ermangelung organischer Konservierungsstoffe und Geschmacksträger wie Fett und Zucker, die der Behämmerte für die Erfindung außerirdischer Invasoren hält, werden Light-Käse, Light-Quark und sonstige Light-Wesen auf niedermolekularer Ebene mit Substanzen verdrillt, die in anderen Haushalten die Scheiben abdichten oder das Kleinkraftrad hurtig über den Schotter knüppeln lassen; folgerichtig protzt die Geschmacksangabe Natur auf dem Schmierkäse, der unter unsäglichen Mühen auf den Geschmack von Westwind im Ostharz getrimmt wurde – Wunder der modernen Chemie. Ein Kohlenstoffring mehr, und es wäre ein Kautschukeimer geworden.

Die Entfremdung schreitet wacker fort. Längst gebiert der Schlaf der Wirklichkeit Dinge, die an Unmögliches grenzen: Landjoghurt aus industrieller Massenproduktion, sahnelosen Sahnepudding, sensitive Seife (die vermutlich den Kontext lernt, während man sie auf die Flossen schwiemelt) und Fruchtsaft mit Zusatznutzen (das Fallobst wird im Nadeldrucker unter Kohlepapier zermatscht). Das Leben ist eine große Mogelpackung. Wer sich im Handbuch der Knochenfische bereits nach dem Laichgebiet der Seelachse totgesucht hat, gewinnt eine Instant-Beerdigung in der endzeitlichen Vorderschinken-Dose: maschinell zerfetzt wie die Formsau aus der Designerschnitzelanlage. Büchse und Aufschrift neigen zu dialektischem Verhältnis, und gerade der Bescheuerte aus dem Land von Goethe, Kleist und Westerwelle fühlt sich an selige Zeiten erinnert, als noch der Schutzwall das einig Vaterland spaltete. Das historisch bedeutendste Schwindelgebinde war doch die DDR, denn sie war weder deutsch – vielmehr internationalistisch, schließlich hatte der Russe auch keine Apfelsinen – noch demokratisch, von der Republik mal ganz zu schweigen. Aber schön war’s doch. Denn das Kaufhallensortiment war so hässlich, dahinter konnte sich nur Ehrlichkeit verbergen.





Nicht nur zur Weihnachtszeit

30 09 2009

07:31 – Eine Rentnerin macht Friedbert K. (41), den Leiter der örtlichen Supi-Filiale, auf die nicht ordnungsgemäß angefüllte Regalreihe mit Schoko-Weihnachtsmännern aufmerksam. Sie kündigt unter Protest an, den Discounter fortan nicht mehr zu betreten, wenn das Personal nicht schleunigst daran ginge, die erforderlichen Jahresendfiguren in Vollmilch nachzuräumen. So beginnt der 30. September, ein Tag, der im Gedächtnis dieser Kleinstadt bleibende Spuren hinterlassen soll.

08:02 – Kurz nach der Öffnung der Kaufdas-Niederlassung auf der gegenüberliegenden Straßenseite beschließt Helmut M., sein Geschäft solle im Existenzkampf nicht unterliegen. Er kontert mit einem ursprünglich für die Adventszeit vorgesehenen Sonderaufsteller, der sich unter zentnerweise Spekulatius biegt.

08:06 – M.s schändliches Treiben war weder den Angestellten des Supi-Marktes noch den unentschlossenen Passanten verborgen geblieben. Hastig schiebt K. vier Paletten mit Pfefferkuchen und Mandelgebäck in den Laden. Um Platz zu schaffen, kündigt er an, den Kunden bis auf weiteres kein Frischfleisch mehr anbieten zu können. Die Stimmung ist angespannt.

08:34 – Mit quietschenden Reifen stoppen die Lieferwagen des Feinkost-Großhändlers vor den Türen von Kaufdas. Binnen Sekunden stemmen Möbelpacker Honigkuchen, Königsberger Marzipan und Dresdner Christstollen im Großgebinde. Das Obst- und Gemüsesortiment wird auf dem Parkplatz entsorgt.

08:50 – K. kontert mit einer Blitzoffensive; bereits im Eingangsbereich ist kein Durchkommen mehr, da die deckenhohen Regale die Lagerbestände an Dominosteinen und Nussmakronen tragen. Baustatische Bedenken wischt K. mit einem markig geäußerten „Basta!“ beiseite.

09:04 – Der Gebieter über die Kaufdas-Filiale kann nur schwer beruhigt werden. Als die Konzernzentrale ihm mitteilt, dass die Konkurrenz bereits jegliche Adventskalender im Landkreis aufgekauft hat, schleudert er den Telefonhörer an die Wand. In äußerster Entschlossenheit greift er zum Tresorschlüssel und stattet die Lagerkraft Sigurd P. (39) mit größeren Bargeldbeständen aus, um das vorfestliche Naschwerk zu besorgen.

09:11 – Es kommt nicht dazu. Mit einem Teppichmesser bedroht P. den Aushilfsfahrer, der die Adventskalender bei Supi abliefern sollte. In einem wilden Handgemenge gelingt es Kassiererin Waltraut U. (55), die Wagentür von innen zu verschließen. Ungefähr die Hälfte der süßen Fracht erreicht ihren Bestimmungsort. P. wird gekidnappt und bei den Resten des Frischfleisches verstaut.

09:32 – Während Kaufdas-Mitarbeiter Roland Z. (29) die Ausgestaltung der Filiale mit Lametta dirigiert, spricht K. der Supi-Einzelhandelskauffrau Sonja N. (22) gegenüber die fristlose Kündigung aus; N. hatte sich strikt geweigert, eine rote Mütze mit Puschel aufzusetzen und die Kundschaft mit „Ho, ho, ho!“ zu begrüßen.

10:04 – Fast simultan treffen die beiden Tieflader ein, die jeweils mehrere Tonnen Nordmanntanne und Blaufichte vor den Schaufenstern abladen. Die Hauptstraße gleicht einer vorbildlich bewachsenen Schonung in den deutschen Mittelgebirgen.

10:22 – Polizeiobermeister Hans-Joachim F. (44) setzt den Filialleitern eine 15-minütige Frist, die Fahrbahn zu räumen; der Durchgangsverkehr war zwischenzeitlich zum Erliegen gekommen und hatte einen Stau von sechs Kilometern Länge verursacht.

10:50 – Unter dem Murren der Anwohner walzt ein Tanklastzug die verbliebenen Christbäume nieder. Gurgelnd ergießt sich industriell gefertigter Glühwein in die eilig rekrutierten Geräte vom Typ Taktische Feldküche 250 des ortsansässigen Panzergrenadierbataillons. Der verwesungsartige Geruch macht das Betreten von Kaufdas zu einem Survival-Erlebnis.

11:00 – K. überwacht mit militärischer Strenge die Bestückung der Vitrinen mit Stimmungsleuchtern. Im Glanz von 273 sechsfarbigen Blinkapparaturen à 850 Watt bietet Supi ein verstörendes visuelles Pendant zu einem surrealen Fiebertraum.

11:09 – Glück im Unglück: der Rettungswagen war gerade in der Nähe. Bei einer Routinekontrolle gleitet Fritz D. (61) auf einem unter knöchelhoch liegendem Lametta unsichtbaren Adventskalender aus; der Oberamtsrat von der Gewerbeaufsicht vollführt nach einem exzellent eingesprungenen Schraubensalto einen dreifachen Rittberger und legt eine Punktlandung auf dem Verkaufstisch mit mundgeblasenen Christbaumkugeln hin.

11:23 – Inzwischen hat sich auch Sigurd P. wieder aus dem Kühlraum befreien können. Er kommt gerade noch rechtzeitig, um sein Teppichmesser zum zweiten Einsatz zu bringen, indem er die Anlieferung einer übermannshohen erzgebirgischen Weihnachtspyramide bei Kaufdas erzwingt.

11:27 – Friedbert K. holt zur letzten, verzweifelten Generalmobilmachung aus. Das bereits komplett in rote Mäntel gehüllte Supi-Personal wird abkommandiert, kilometerweise Lichterketten in der Halle zu spannen. Einen normalen Geschäftsbetrieb kann das Unternehmen längst schon nicht mehr aufrecht erhalten.

12:54 – Die Verkabelung ist abgeschlossen; hämisch grinsend schiebt K. den Stecker in den Wandkontakt, um die an 47 Verteilerdosen gebündelte Illumination ihrer Bestimmung zu übergeben. Ein mildes Knistern beendet den Plan. Dass in diesem Moment zwischen Delmenhorst und Espelkamp die Versorgung mit elektrischem Strom zusammenbricht, ist reiner Zufall.

12:55 – Längst ist die erste Ladung Glühwein verzehrt oder in den Feldküchenkesseln verdampft, als eine größere Gruppe aus dem Obdachlosenheim Kaufdas betritt, um das Frühstück einzunehmen. Substitutin Tanja W. (29) ist nicht in der Lage, das Absperrventil des Tanklastzuges vollständig aufzudrehen und fürchtet, dass die Gulaschkanonen durchglühen. Beherzt füllt sie die Kessel mit weißem Rum auf. Das zusehends blasser erscheinende Heißgetränk stößt bei der Verkostung auf hohe Produktakzeptanz seitens der Laufkundschaft.

13:03 – Nach dem Stromausfall kann die Beschallungsanlage im Supi nicht mehr mit festlichen Klängen locken. K. nötigt das Personal, Jingle Bells einzustudieren und unter seiner Leitung im Schaufenster zu singen. Die erste Beschwerde wegen Ruhestörung wird gemeldet. Ein Passant, der die Szene mit seinem Mobiltelefon filmt und das Ergebnis unter dem Titel The Nightmare before Christmas im Internet verbreitet, verhilft Praktikantin Mandy Ö. (17) ungewollt zu einer großen Karriere als Erotikdarstellerin und Volksmusik-Star.

13:20 – Mit mehrstündiger Verspätung treffen die beim AStA georderten Weihnachtsmänner ein. In Unkenntnis der Sachlage verpasst die Studentin der Soziologie und Anglistik Sarah A. (21) zunächst Helmut M. eine Standpauke, weil sich der Kaufdas-Chef selbst für säkulare Jahreszeiten außergewöhnlich kindisch aufführt. M. weigert sich daraufhin, das vereinbarte Honorar zu zahlen, so dass die Hochschüler als Rache einen Flashmob inszenieren; „Yeah!“-Rufe gellen durch den Ortskern.

13:22 – Zwar sind die Motorschlitten, die auf Geheiß von K. vor den Supi-Toren abgeladen werden, in makellosem Zustand, doch es stellt sich keine rechte Freude bei den Passanten ein. Das Angebot, ab einem Einkaufswert von zehn Euro gratis nach Hause gefahren zu werden, scheitert an der sommerlichen Temperatur, die kaum baldigen Schneefall erhoffen lässt.

13:32 – Waltraut U. dringt in den Sozialraum von Kaufdas ein und findet unter dem Tisch Sigurd P. vor. Der Lagerist flieht. Mit dem Teppichmesser durchtrennt er den Tankschlauch; ein klebriger Schwall schwappt heraus, so dass die Kassenfee am Boden festklebt. Unglücklicherweise läuft P. ungebremst in die Weihnachtspyramide, die im knisternden Schein mehrerer Reihen von handgezogenen Wachskerzen behagliche Stimmung schafft. Das Meisterwerk ostdeutscher Schnitzkunst neigt sich in Zeitlupe Richtung Feldküche.

13:33 – Von der Stichflamme in Panik versetzt verschanzen sich Einzelhändler, Anwohner, Kunden, Lieferanten sowie ein Student der Kunstgeschichte in vollem Nikolaus-Ornat mit Umhängebart und Bischofsstab hinter den Sattelschleppern der Event-Agentur X-Mas 4 U. Es dauert Sekunden, bis eine ungeheure Detonation die Stille zerreißt. Wo jahrelang sich Kaufdas befunden hatte, gähnt ein Krater. Noch Stunden später gehen Mandelsplitter über Belgien nieder und in der Ukraine regnet es Lametta. So endet ein Tag in einer Kleinstadt, in der die Menschen einfach nur in Ruhe ein paar Einkäufe erledigen wollten.





Schöner Shoppen

3 09 2009

Ausgerechnet heute musste mir das passieren, wo sowieso wenig Zeit blieb. Kurbel hin, Passiermühle hin, Kartoffelteig hin – Knockout für die Gnocchi. Die Aussicht, ein ganzes Pfund Kartoffeln mit der Gabel auf dem Teller zu zermusen, hob meine Stimmung nur unwesentlich. Ich erledigte die Arbeit, quetschte mir nur zweimal den Daumen und beschloss dann, eine neue Lotte in die Küchenflotte zu integrieren. Haushaltswaren Birnstiel & Söhne gibt es schon lange nicht mehr, nur noch ein schwacher Abglanz alter Herrlichkeit ist in der Abteilung des City-Kaufhauses zu finden. Ich hin.

Das Heer des elektrischen Küchenschamotts gleich großräumig umsegelnd landete ich an der Küste des Kleingeräts an. Töpfe, Pfannen und Salatschleudern buhlten um Aufmerksamkeit, hie und da ragte ein einsamer Messerblock aus den Niederungen des Schneidwerkzeugs. Menschenleer schien die ganze Abteilung, doch plötzlich lugte eine hoch aufgeschossene, dürre Gestalt zwischen Sauteusen und Kasserollen hervor. „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“ Ihr Blick irritierte mich. Diese Verkäuferin schien mit beiden Augen gleichzeitig an mir vorbei zu schielen. „Ich möchte“, sprach ich zu ihrem linken Auge, „ein Passiergerät.“ Sie wackelte ein wenig mit dem Kopf, so dass ich wohl in ihr Gesichtsfeld gerückt sein musste. „Was ist das denn?“ „Eine Passiermühle“, gab ich mit gereiztem Unterton zurück, „Flotte Lotte, Passevite, Passetout, eine Gemüsemühle. Oben Kurbel, unten Sieb.“ Leer blickte sie um mich herum. Ob ich ein Opfer der Lichtstrahlenbiegung war und sie bereits so um mich herumschielte, dass sie mich gar nicht mehr wahrnahm? Sie griff aufs Geratewohl in die Stellage und zeigte mir einen Schlitzwender.

„Wenn ich mich vorstellen darf, Süßschwager mein Name. Ich bin hier der Personalchef.“ Das kleine Männchen mit der großen Brille schaute freundlich zu mir herauf. „Sie haben sicher schon unser neues Marketing-Konzept bemerkt?“ Welches neue Konzept? „Nun, wir setzen unser Personal nach wissenschaftlichen Kriterien ein. Streng an neuesten psychologischen Erkenntnissen orientiert. Fühlen Sie sich gut beraten?“ „Wenn Ihr Konzept darin besteht“, sagte ich mokant, „dass Ihr Personal vollkommen ahnungslos ist, dann scheint Ihr Plan aufzugehen.“ „Aber nein“, beschwichtigte der Personaler, „das ist es ja gar nicht. Frau Hülzke hilft nur aus, sie ist sonst in der Parfümerieabteilung.“ Aber was war es dann? „Sieht sie nicht wie die ideale Verkäuferin aus?“

Hinter uns räumte eine dickliche Matrone die Regale mit einem Parmesanreiben-Sonderangebot voll. Sie stapfte wie ein Matrose auf schwerer See durch die Gänge und wälzte sich hinter die Kasse. Was hatte das alles zu bedeuten? „Die University of South Australia hat jüngst eine Studie veröffentlicht, der zufolge hübsche Verkäuferinnen den Umsatz gefährden. Also haben wir das Personal entsprechend umstrukturiert.“ „Sie meinen also ernsthaft, dass die attraktiven Damen in Ihrem Küchenkram von den chromblitzenden Pfannen ablenken?“ „Nicht ablenken“, korrigierte mich Süßschwager, „nicht das Sortiment ist der springende Punkt. Es sind die Kundinnen.“ Die Kundinnen? „Jawohl, die Kundinnen. Es ist jetzt wissenschaftlich erwiesen, dass zu schöne Verkäuferinnen, insbesondere solche, die zu gut aussehen, in anderen Frauen das Gefühl der Konkurrenz erwecken. Das ist eine biologische Tatsache! Die Kaufbereitschaft sinkt erheblich, und das ist völlig unabhängig von der Ware, die wir anbieten.“ „Und deshalb haben Sie jetzt die Haushaltswaren nur noch mit Schreckschrauben besetzt?“ „Genau. Wir haben bei den frauenaffinen Sortimenten begonnen. Haushaltswaren, Kosmetik und Damenoberbekleidung. Auch Spielwaren ist gerade bei der Umstellung. An den Kindermoden knobeln wir noch.“

Jetzt fiel mir auch auf, dass Isabella gar nicht mehr hier war. Das schwarzäugige Halbblut mit den schwer bezähmbaren Locken hatte doch den einen oder anderen Lichtblick geboten zwischen Schaumkellen und Schneebesen. „Wir haben alles versucht“, jammerte Süßschwager, „Frau Regazzoni hat sich zum Schluss nur noch von Schmierkäse und Schokolade ernährt, um wenigstens Pickel im Gesicht zu bekommen. Aber es war alles umsonst.“ Sie würden doch diese Schönheit nicht herausgetan haben aus dem Geschäft? Immerhin hatte ich bei ihr regelmäßig Teigschaber, Servierpfännchen und zuletzt einen Keramikwetzstab erworben, von den unzähligen Backpinseln ganz zu schweigen. Sie hatte mein Selbstbewusstsein nicht im Geringsten geschmälert. Keine konnte wie sie einen Pürierstab in Packpapier wickeln. „Natürlich konnten wir keine entlassen. Schauen Sie doch mal ins Untergeschoss. Da finden Sie alle wieder.“

Und wirklich, da waren sie. Die elegante Frau Kinkelskirch mit dem hüftbetonten Gang und Irene Wemser, deren erotisierendes Lispeln zuvor die Spielwarenabteilung verzaubert hatte. Hinter der Kasse aber thronte Isabella und warf einen verführerischen Blick zu mir herüber. So also funktionierte heute Marketing – wissenschaftlich fundierte Verkaufspsychologie war der Schlüssel zum unternehmerischen Erfolg. Nur damit war der Einzelhandel in diesem Land noch vor dem Untergang zu bewahren. Aber so weit ich auch schaute, kein Passiergerät. Nichts. Allerdings war damit auch nicht zu rechnen gewesen, hier unter den schönen Damen beim Autozubehör.





Gernulf Olzheimer kommentiert (XIX): Shopping-Malls

7 08 2009
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Vorbei die Zeiten, in denen man das an Steuer und Ehegespons vorbei angesparte Geld noch gemütlich in Wurstwaren, Oberbekleidung und Unterhaltungselektronik umsetzen konnte. Die Nachfahren des Einzelhandels, auf die grüne Wiese gekloppte Betonschalenteile im Halbrund hinter einem Parkplatz, der zur Zwischenlagerung der kompletten DDR vor der Ausreise in den Westen gelangt hätte, sie alle sinken in düstere Agonie, denn die Bescheuerten in der Gewerbeförderung haben die Prärie längst abgegrast und nehmen sich neues Terrain zur endsicheren Verschandelung vor. Die Innenstädte müssen dran glauben.

Kam man um Dreck in the City gerade noch einmal wegen der horrenden Grundstückspreise herum, so dass liebliche Schutthalden in einst blühenden Sandsteinlandschaften zwischen dem alten Rathaus und Sankt Eusebia ihr anheimelndes Dornröschenschnarchen beibehalten konnten, kaum gestört von nächtlichem Gebüsch, das über das Kopfsteinpflaster rollt, kaufen heute schon Investorengruppen mit gepumpter Staatsknete die historischen Kerne der menschlichen Besiedelung auf und funktionieren sie zum sozialen Brennpunkt um. Laden stößt an Laden, Shops grenzen an Center, alles häuft, ballt, türmt sich zur neuen Horrorvision des Konsumismus: Einkaufszentren an der Stelle der Innenstädte. Da, wo gerade noch Textilketten die Früchte pakistanischer Kinderarbeit zum sozial verträglichen Preis unters Prekariat jubelten, wächst zur Einweihung von Darmstadt-Dubai der Kristallisationspunkt des Grauens: die Shopping-Mall. Kaufhalle für Kaufhalle die sanfte Unausstehlichkeit der westlichen Welt.

Irgendwo müssen die Beschränkten Bedarf für derlei Konglomerate ausgemacht haben und konfrontieren den Käufer mit immer neuen Herausforderungen. Einst konnte man frisch erstandene Waschvollautomaten und Plasmaglotzen noch behaglich in die Stellplatzwüste karren und mit dem eigenen Wagen in die Zivilisation zurück gurken, heute freut man sich, dass die Innenstädte mit Busspuren und Fahrradwegen gepflastert sind und vom Mittelalter bis zur Neuen Peinlichkeit genug Zeit hatten, eine Kulisse in die Landschaft zu klotzen, durch die man stundenlang einen Wäschetrockner schleppen kann, bis man das Kraftfahrzeug am Stadtrand erreicht hat.

Auch ansonsten beherrscht die postmoderne Neuinterpretation von Kundenfreundlichkeit das Geschehen. Samstags steht Familienausflug ins Krisengebiet auf dem Einsatzplan: während Vati nur mal eben einen Sack Grillkohle nachladen wollte, kontrolliert die Alte den Jahresausstoß an Riemchensandaletten und die Kinder quengeln nach Speiseeis und Ballerspielen. Wer hier nicht am Rad dreht, war auch vorher schon nicht ganz dicht. Dazu kann man die Blagen nicht mehr im Kinderparadies entsorgen oder wenigstens ausrufen lassen, weil die Aufenthaltsqualität nicht mehr konstant unter einem Dach stattfindet, sondern sich auf sechsundachtzig Einzelgeschäfte verteilt. Doch so groß ist der Unterschied nicht. Die Verkäufer sind Betreuung nach eingeübten Standards gewohnt und vertreten die alte Schule von Servicementalität; die Frage nach der Kurzwarenabteilung werten sie bereits als sexuelle Belästigung.

Zwischen Sanitärbedarf auf der einen und Bio-Obst auf der anderen Straßenseite lauert die Gastronomie mit ihren Attacken auf Moral und Volksgesundheit. Über Brackwasserdampf erhitzte Tütenpasta aus Trockenei lassen sich als Spaghetti Alfredo feiern, während am Nebentisch die aus Sprühsahne und Instantkaffee hingeschwiemelte Brühe als Cappuccino auf der Rechnung prangt. Zusammen kostet der Zauber so viel wie elf halbe Hähnchenleichen aus dem Sperrfeuer mit frittierten Holzkohlestäbchen eine Fraßbude weiter und wird mit etwas Glück erst nach dem Verlassen des Konsumtempels in die Landschaft erbrochen Wer jedoch denkt, dies sei Dienst am Kunden, verkennt die Sachlage. Das Gastgewerbe dient ausschließlich zur Steigerung der durchschnittlichen Verweildauer und damit der monetären Umschichtungsmaschine. Flugs noch einen Doppelten gekippt in der Pinte neben dem Umstandsmodenbasar, wo das männliche Treibgut angeschwemmt wird und an Stehtischen strandet, und dann auf zum Erwerb einer preisreduzierten Pendelhubstichsäge aus dem blauen Sortiment, um den Torfschädel vom Jeans-Shop, der zu beschäftigt war, um die richtige Größe aus dem Lager heranzuschaffen, in mundgerechte Stückchen zu zerlegen. Das ändert nicht den Lauf der Gestirne, damit wäre nichts bewiesen, doch darauf kommt es auch überhaupt nicht an. Die Hauptsache ist, dass das Heimwerkerparadies zwohundert Öcken Umsatz gemacht hat, da nimmt man unangekündigte Umstrukturierungen in der Personalsituation gerne mal mit in Kauf.

Den ganzen Zauber finanziert natürlich der Depp, der hier kaufen soll. Und wenn bis heute auch noch nicht geklärt ist, wie der Konsumtrottel elf Drittel mehr vom Netto in den boomenden Binnenmarkt pumpen soll, eins ist sicher. Es vernichtet nicht nur Arbeitsplätze, es schafft auch fast so viele neue. Und das auch noch in bester Lauflage.





Fragwürdig

23 03 2009

Der Wecker klingelte – ein ganz normaler Samstag begann. Nein, kein normaler Samstag, denn heute hatte ich frei. Niemand fragte mich, ob ich beim Umzug helfen könnte. Keiner bat, Gartenzäune zu streichen. Anne war verreist. Ich konnte mich dem Wochenende widmen, und das hieß: Frühstück.

Was leichter gesagt ist als getan, wenn weder Kaffee noch Eier im Haus sind. Marmelade? Fehlanzeige. Die Vorräte waren begrenzt auf eine Dose Katzenfutter. Es ließ sich nicht leugnen, ich würde das Frühstück verschieben und zuerst einkaufen müssen.

Geduldig wartete ich in der Schlange, bis ich endlich vor der Bäckersfrau stand. Sie nahm eine Papiertüte, zückte die Brötchenzange und fragte nach meinen Wünschen. Was mich verwunderte, schließlich kaufe ich seit gut zwanzig Jahren jeden Samstagmorgen zwei Brötchen. Ganz einfache Schnittbrötchen. Bei drohendem Erdbeben würde ich auf Knäcke mit Schmierwurst umsteigen, der besseren Haftkraft halber. Aber so weit waren wir ja noch nicht. Der Rauch aus Breschkes Garten, wo Laub und Plastikabfälle um die Wette kokelten, stieg kerzengerade auf. Marmeladenbrötchenwetter.

Sie atmete sehr tief ein. „Weizen, Roggen, Hafer, Dinkel, Schwarzbrot, Zweikorn, Dreikorn, Mehrkorn, Vollkorn, Sesam, Mohn, Kümmel, Ölsaat, Schinken, Käse, Glyx, Milchbrötchen, Franzbrötchen?“ Irritiert guckte ich sie an. Ich wollte nur Brötchen. Brötchen! „Kaiser, Knüppel, Schnitt, Einfache, Rundstück, Schrippe, Semmel?“ Was denn der Unterschied zwischen Schrippe und Knüppel sei. Ich wurde aufgeklärt. Eine Schrippe sei länglich geformt und geschlitzt, ein Knüppel dagegen geschlitzt und länglich geformt. Das leuchtete mir ein. Das Auge isst schließlich mit.

Eine Stellage mit Konfitüren fiel mir ins Auge. Richtig, ich wollte Marmelade kaufen. Ansatzlos stimmte sie die nächste Litanei an. „Kirsch, Pflaume, Erdbeer, Himbeer, Aprikose, Pfirsich-Maracuja, Orange, Heidelbeer, Dreifrucht, Mehrfrucht, Waldfrucht oder Apfelgelee?“ Als ich nach Erdbeermarmelade verlangte – im Vertrauen, ich hatte mir die anderen Sorten gar nicht gemerkt – hakte sie nach. Unbarmherzig. „Erdbeer, Erdbeer-Rhabarber, Erdbeer-Himbeer, Walderdbeer-Himbeer, Erdbeer-Wildhimbeer oder Diabetiker?“ Ob es inzwischen Marmelade für orthopädische Notfälle gibt? Oder Bananen-Kiwi-Konfitüre, die beim Öffnen des Schraubverschlusses automatisch Paganini geigt? Ich wählte Erdbeer, ganz normal. Ohne Paganini und Rhabarber.

Nachdem ich bar bezahlt hatte – Kreditkarte, Euroscheck, Lastschrift, Rechnung oder Abarbeiten kamen für mich nicht in Frage – griff ich die Brötchentüte. Sofort klappte die Bäckerin ein markerschütterndes Grinsen ins Gesicht: „Vielen Dank, dass Sie sich für die Bäckerei Prillwitz entschieden haben! Haben Sie jetzt noch einen wunderschönen Tag! Guten Tag, was darf ich für Sie tun?“ Der Rest der Sprachschleife wickelte schon die nächste Kundin ein. Also verließ ich die Bäckerei. War diese Schlange immer schon derart lang gewesen oder kam mir das nur so vor? Diese Service-Attacke machte mich jedenfalls stutzig.

Also zum Wochenmarkt. Eier. Am Eierwagen trug ich meine Bitte vor, wobei ich vorsichtshalber nuschelte und nur auf die Eier zeigte. Doch war mir das Glück nicht hold. „Weiß oder braun? Freiland, Bodenhaltung, Legebatterie oder Legebatterie, wo Freiland draufsteht?“ Ich fragte ihn, ob er auch Eier mit kleinem, großem, mittelgroßem oder nicht ganz so großem wie die mittelkleinen Dotter habe. Der Eiermann furchte die Stirn. „Werden Sie nicht frech!“ Feindselig blickte er mich an. „Sie glauben wohl, nur weil Sie dafür bezahlen, können Sie sich hier alles herausnehmen?“ Ich kam nicht umhin, dies vollumfänglich zu bejahen. Mit einem Papiertaschentuch wischte ich die Eireste aus dem Haar und wandte mich dem Wurststand zu. Schinken. Gekochter Schinken. Zweihundertfünfzig Gramm. Aber ach, der Fluchreflex, er wartete auch hier. „Wollen Sie Schweineschinken oder…“ Ich verließ panisch den Markt. Bitte nicht auch noch eine Diskussion um die Blutgruppe der Sau!

Jeglicher Gedanke an ein Frühstück war mir nun verleidet. Nur noch einen Kaffee wollte ich. Stark und schwarz. Und da man auch den auf dem Markt bekam, ging ich zur Kaffeebude.

„Wollen Sie Arabica, Robusta oder Stenophylla? Aus Äthiopien, Kenia oder Kolumbien? Wollen Sie eine kräftige, milde oder Medium-Röstung? Ganze Bohnen oder die fertig gemahlenen? Handgefiltert, French Press oder Espresso-Methode? Viel Crema, wenig Crema, noch weniger Crema, fast keine Crema, gar keine Crema? Wollen Sie Zucker?“ Ich hielt mich fest. „Ich will…“ „Würfelzucker, Streuzucker, Hagelzucker fein, Hagelzucker grob, Puderzucker, weißer Zucker, brauner Zucker, Rübenzucker, Rohrzucker oder Süßstoff flüssig oder Süßstoff als Tablette oder Süßstoff zum Streuen?“ Ich hieb mit der Faust auf den Tresen und schrie ihn an: „Ich will jetzt verdammt noch mal einen schwarzen Kaffee!“ „Wollen Sie Frischmilch, homogenisierte Milch, Kondensmilch mit vier, Kondensmilch mit sieben, Kondensmilch mit zehn Prozent Fett oder Kaffeeweißer auf Pflanzenbasis?“

Mein Schalter kippte um. Mit hektischen Bewegungen beförderte ich Kaffeeumrührstäbchen und Servietten in eine annähernd kreisförmige Umlaufbahn und griff den Standknecht am Kragen. „Ich will nicht! Kein Kaffee! Will nicht!“ Schon näherte sich der Marktaufseher. Mit einem Regen von Pappbechern samt Schnabeltassendeckeln überschüttete ich ihn und ergriff die Flucht. Schreiend lief ich davon. Erst hinter meiner Tür fand ich mich wieder. Ich lag auf dem Boden und zitterte am ganzen Leib. Doch der Schlüssel steckte. Die Brötchentüte war noch in meiner Hand. Und im Küchenschrank befand sich ein kleiner Rest Früchtetee.

Danke, dass Sie sich für mich als Kunden entschieden haben.