Gernulf Olzheimer kommentiert (CCCLXXXV): Helikoptereltern

8 09 2017
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Rrt hatte alles im Griff. Zwei Nachkommen waren im Vollkontakt mit der Säbelzahnziege zu Biomasse geworden, zwei weitere hatten sich mit gängigen Vorgartenpflanzen ins Nirwana gekaut. Die Gattin ließ die Brut kaum an den Steilhang jenseits der großen Schuttfläche, denn dort lauerten die wirklichen Gefahren: Sonnenbrand, Käferbiss und Brennnesseln ohne dreisprachige Warnschilder. Noch hielt die Reproduktion keine besonderen Erfordernisse bereit. Weiter so, das war die Devise. Aber schon bald sollte sich das Blatt wenden. Die Zivilisation ließ nicht mit sich spaßen. Dunkel rattert es am Horizont entlang: die Helikoptereltern.

Bereits der durchschnittliche Kinderspielplatz bringt Pädagogen an die Grenze der Hirnembolie. Im Windschatten modisch vermummter Latte-macchiato-Väter und teilbartfreier Hipstermütter bohrt die nächste Runde im Generationenvertrag Dellen in den Sand, hektisch beobachtet von auf primäre Pädagogik gedrillten Hysteriefachkräften, denen kein armageddonöses Szenario zu blöd wäre für eine prätraumatische Belastungssimulation. Alle sind sie überdurchschnittlich höchstbegabt, ohne Ausnahme für Frühkantonesisch und Fagott, den Bundesliga-Kurs und ein Diktatorentraining beim Dieselkonzern geeignet. Kinder, rülpst das üble Gewissen, an die Macht. Weil die meisten der als Eltern firmierenden Schädelvollprothesen sich nicht imstande sehen, das Ergebnis ihrer genetischen Laienexperimente zu akzeptieren, leidet eine ganze Generation unter ihren verquasten Vorstellungen von Perfektion, die dann doch wieder nicht reicht.

Die allzeit bereiten Verziehungsgerechtigten sind nach eigener Aussage in der Pflicht, das Balg möglichst schnell zu makellos funktionierendem Gesellschaftsmaterial reifen zu lassen: ohne jede Auseinandersetzung mit Umwelt oder Staunässe, Wind und Mückenstichen. In der Grundschule wirkt es ja noch putzig, wenn der Abkömmling mit dem SUV ins Institut gekarrt wird, weil auf den Straßen zu viel gefährlicher Autoverkehr herrscht, doch spätestens im Hauptseminar II über Riemanns wirre Vermutungen sind alle väterlichen Versuche als überwältigend niveaulos zu betrachten – sollte sich der Jungmann irgendwann einem signifikanten Anderen nähern, hier wohl Objekt klein a kursiv, sind Mangel und Begehren aus der Illusion des Bekloppten schnell zusammengeschwiemelt und erklärt. Der Fötus hat nach Maßgabe der Alten stets die embryonale Stellung einzunehmen, aus der die Ernährungsberechtigung erwächst, ohne Rücksicht auf Verluste. Was kann eine Konserve, was diese Blödkolben nicht könnten?

Man kann seinen Kindern jedenfalls nicht klarer kommunizieren, dass man sie für grundsätzlich voll verkackt per Design hält, unfähige Würstchen im Strafrock, die schon als Ausschuss auf die Welt gekommen waren, um sich hernach noch einmal stattlich zu blamieren. Das Grundbedürfnis nach Kompensation ist bei den Erzeugern offenbar derart dominant, dass man den Ablösungskonflikt sogar ohne Drogeneinsatz an die Wand möllert – an der Reife von Reis und Blüte erkennt der Bescheuerte dumpf den Fortschritt des eigenen Welkens, der unweigerlich in nicht mehr behandlungsbedürftige Formen des Schweigens mündet. Alles hat ein Ende, nur will das keiner hören. Das Blag als die letzte Aufgabe fürs gelungene Projektmanagement voller kritischer Fluchtpunkte ist auch nur eine eigene Form der Hilflosigkeit, die ausnahmsweise keinen eigenen Namen mit sich herumschleppt. Die wird flockig an die neurotische Kreatur vererbt wie eine Laktoseintoleranz, wie Leistungsdruck im Gewand einer gnadenlosen Auslese, der die Alten nicht ansatzweise mithalten könnten. Lediglich ihre missratenen Methoden prägen das Erlebnis von Entkräftung und Selbsthass, der sich entweder in billiger Stereotypie durch die Vita kotzt oder im einfachen Fall ein sauber zersägtes Ich hinterlässt. Beides kann auch amüsant sein, wenngleich nur in Ausnahmefällen.

Man kann diese Eltern nicht aus Versehen als personifiziertes Heftpflaster am Hosenboden der Nachkommenschaft sehen, sie schädigen noch über die eine Fruchtfolge hinaus jegliche Autonomie, die sie dem Flaschenwuchs opfern, die sterile Kopie der Knalltüten mit der Anlage nämlicher Blödheit. Glücklich ist, wer aus diesem Kindergarten mit roher Gewalt ausbricht, knöchelhoch verbrannte Erde hinterlassend, wo üblicherweise die Kombination aus Nägelkauen und Bettnässen ausreichen würde, um die Problemkinder zu identifizieren. Mit etwas Glück verebbt das im Burnout, weil es die Eltern der Sandkastenfreunde mit Securitate-Methoden durchfilzen und danach der Steuerfahndung zuführen muss. Mit etwas mehr Glück geht das über die Wupper, wenn sich die Söhne und Töchter ihre etatmäßigen Kopfläuse an der Theke abholen und das eigene Immunsystem die finale Grätsche macht. Die Natur würfelt nicht. Sie hackt ungehindert Kerben in die vorhandene Materie. Weil sie es kann.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CCXXIX): Das Kind im Wattepanzer

14 02 2014
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Seit Generationen waren sie am östlichen Seeufer barfuß über die Geröllhalde gelaufen, schon deshalb, weil Schuhe erst ein paar Jahrtausende später erfunden wurden. Sie hatten sich die Knie eingehauen, waren aufgestanden, vor den Büffeln davongelaufen, waren in den See gesprungen, haben Fische mit der bloßen Hand gefangen, in die Höhle geschleppt, mit Feuersteinmessern aufgeschlitzt und gebraten, und wenn das mit den Wollnashörner nicht gut ausging, kamen von den zehn nur neun zurück. Sie hatten nicht einmal ein Dosentelefon oder einen Zettel, auf dem stand, dass sie regelmäßig trinken sollten da draußen in der Wildnis. Und sie haben es ihren Kindern und Kindeskindern erspart, wie auch die ihren Blagen. Nur wir denken, wir müssten unsere Sprösslinge in den Wattepanzer stopfen. Gewaltfrei natürlich.

Die Hysterie, mit der die Beknackten heute an den dräuenden Untergang für jedes Kind denken, wie er bereits in Gestalt eines Puschelhäschens lauern könnte, diese Wahnvorstellung wird mit einer Intensität durch sämtliche Schichten dieser unserer Gesellschaft dekliniert, mit der normale Menschen Konzerne gründen. Wir schleifen die Rotznasen im zartesten Alter zum Turnen, in die Chinesisch- oder Geigenstunde und laden sie zu arrangierten Zeiten bei ausgewählten Spielgefährten ab, um vom Start an die besten Sozialkontakte zu unterhalten. Wir drücken ihnen ungefragt die Wasserflasche ins Gesicht, schwiemeln ihnen zuckerfreien, fettarmen und geschmacksneutralen Pomps in den Stoffwechsel und stopfen sie in mundgehäkelte, genderneutrale Säcke mit Knopf und Faden, bis sie mit tödlicher Sicherheit psychotische Vollklopse sind, Abbilder ihrer geistig erodierten Erzeuger.

Denn die wollten ja einfach nur das Beste für ihre Stöpsel, und das ist das Problem. Die Kohorte der heutigen Fortpflanzer ist mehr denn je gegen die Wand gelaufen, schlimmer als alle zuvor. Was als Individualisierung innerhalb der vergangenen Jahrzehnte herhalten musste, weckt heute nur noch ein müdes Lächeln. Punk? in diesem Jahrtausend tragen sie Vollbart, die Nonkonformistenuniform des Spätkapitalismus, dazu Brillen, die aus jeder Durchschnittsphysiognomie einen Knalldeppen zaubern. Das bisschen Einzigartigkeit, wenn sie morgens Kevin auf die Sojaplörre pinseln, kann man sich auch schenken. Sie gehen alle unter; vielleicht ist das nicht einmal schlecht, weil von der Evolution so vorgesehen, aber es löst diese dumpfe Urangst vor der Vernichtung aus. Die Einschläge kommen näher. Sie haben sich mit letzter Kraft reproduziert. Und das soll jetzt alles gewesen sein?

Vor dem Hintergrund der eigenen Nichtigkeit plustern sie ihre genetische Hinterlassenschaft auf und projizieren ihre Besessenheit auf das wehrlose Wesen. Die obsessive Jagd nach Unverletzlichkeit, nach der perfekten und makellosen Imago treibt ihre Sumpfblüten. Wie eine Puppe inszeniert der teilzeitintelligente Teil der Erlebnisgesellschaft seinen Abkömmling, steril und unantastbar, schon ab Empfängnis reizstoffarm gepuffert und ab der Geburt quasi im Schutzhelm geparkt, vegan und laktosefrei mit Mozart zugekleistert, damit nichts das gepamperte Glück der Leibesfrucht stören möge. Und das alles nur, weil eine Rotte völlig verseifter Dummklumpen aus der bröselnden Mittelschicht den Gong zur letzten Runde nicht gehört hat.

Kriegt der Neubürger dadurch die Klimakatastrophe in den Griff, dass er erst mit zehn unter Aufsicht ein Fahrrad mit Stützrollen fahren darf? Erledigen wir die NSA und den Hunger in der Welt, den Nahostkonflikt und die Vogelgrippe, indem wir männlichen Flugpassagieren verbieten, neben fremden, wahlweise auch neben ihren eigenen Kindern zu sitzen? Wird die Finanzkrise, wird die Arbeitslosigkeit, werden Rassismus und soziale Ungerechtigkeit dadurch entschärft, dass nach einer narkosefreien Hirnverödung Eltern ihre Schutzbefohlenen in Klarsichtfolie einschweißen, um sie vor dem Kontakt mit gleichaltrigen Kita-Kommilitonen zu schützen? Der Windmühlen sind viele, aber der Kampf hat ja auch erst begonnen.

Die Ängstlichen. Sie haben derartige Furcht vor dem Abnippeln, dass sie sie auf ihre Erben werfen, und die reflektieren sie in ihrer Schwäche strikt zurück. Lauert irgendwo der Untergang? dann ist es besser, sie balsamieren ihre Kurzen nicht erst post mortem ein, sie erledigen sie jetzt schon und nehmen sie dem Leben, statt ihnen das Leben nehmen zu müssen.

Was fehlt, sind Bungeekurse auf Krankenschein. Für manche mag es der bessere Weg sein, sich ordentlich die Gräten auszurenken, als das für Jahrzehnte an einem wehrlosen Wesen zu unternehmen. Und die Kampfhubschraubereltern gehen ja nicht nur ihren Kindern auf die Plomben. Wahrlich nicht.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CCXXV): Das optimierte Kind

17 01 2014
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

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Das waren noch Zeiten, als flachgekämmte Väter ihre präsumptiven Erben an der Schulter packten, ihnen Klinkerbude, Stall und Schrankwand zeigten, um mit bebender Stimme zu verlautbaren, dass alles das einmal ihnen gehören werde. Ob derart große Gesten immer angebracht sind, sei dahingestellt, immerhin zeigt es noch eine klare Sicht auf die Tradition: was der Abkömmling ererben würde von seinem Alten, erwerben müsse er es, um es zu besitzen, und dann würde es ihm auch besser gehen als den Ahnen. Möglicherweise. Sie haben alle eine realistische Perspektive auf den weiteren Wuchs des Stammbaums gehabt, die Altvorderen. Und sie wussten, dass die Knirpse den ganzen Quark namens Leben selbst über die Bühne zu bringen hatten. Alles andere wäre Faulheit gewesen. Denn irgendwann sollten sie aufhören, ihre Füße unter den elterlichen Tisch zu strecken. Jahrhunderte und Jahrhunderte kamen so junge Menschen zustande, die ein langweiliges Dasein geführt haben müssen. Wenige von ihnen hatten Plüsch im Kopf oder Burnout.

Mit dem Trend zur Individualisierung – jene leicht verschwiemelte Geisteshaltung, die sich selbst für geistig hält – haben vor allem die Macken an Gewicht gewonnen. Keine Mittelschichtmuddi würde ihren Ruben-Jonas, wahlweise: ihre Marie-Melissa übermäßig normal erziehen, um sie dem Durchschnitt anheimzustellen, der Schicht, die nicht glutenallergisch ist, Industriezucker ohne Ekzeme verkraftet, Hausschuhe tragen kann, ohne Sehnenscheidenentzündungen im Vorderfuß zu erleiden und sich nicht für hochbegabt hält, weil in der Familie alle ihren Namen auswendig schreiben können. Überhaupt die Hochbegabung, sie scheint das Schicksal ganzer Landstriche zu sein, die sich zufällig mit gentrifizierten Altbaugebieten deckt, wo nur in Ausnahmefällen ein Kind mit einem IQ unter 150 durch den Kaiserschnitt gezerrt wird. Natürlich werden die Blagen mit laktosefreier Milch hochgepäppelt, weil das Muttertier in der Evolution falsch abgebogen ist und ihr Gesäuge nur mit herkömmlicher Brustplempe dienen kann. Macht aber nix, seinen Schaden bekommt der Wechselbalg, sobald die Verziehungsberechtigte ihn in die mehrsprachige Krabbelgruppe schleppt. Spätestens nach sechs Wochen, wenn die Leibesfrucht weder selbsttätig sitzen noch mit deutlichem Mandarin-Akzent lallen kann, lässt die Alte ihren Frust an dem Kurzen aus und schafft eine neue Generation psychotischer Arschlochmonster.

Längst wird der Nachwuchs aber nicht mehr nur von chronisch Bekloppten drangsaliert, die ihre Kollateralbekinderung als ideologisch korrektes Accessoire am Gängelband neben sich tippeln lassen wie einen Modehund. Die wahren Stammhalternazis geben sich wie blöde die Sporen, ihren Söhnen und Töchtern vom ersten Augenblick an das Leben so gründlich zu versauen, dass es kein Zurück mehr gibt. Sie wählen die Tunnelvision der Hölle und optimieren die Folgegeneration zu Tode.

Das Inferno ist nicht die autoritäre Erziehung. Es ist ein von Foucault entwickeltes Zwangssystem der omnipräsenten, klebrigen Liebe, die mit stumpfen Nadeln unter die Haut gegraben wird. Die helikopternden Elterntiere kriechen mit jedem guten Ratschlag zur absolut passenden Zeit aus der Brotdose mit der ökologisch korrekten Dinkelstulle plus Biosalatblatt, die sich der Vierzehnjährige im Schmollwinkel reinpfeifen muss, während die mental noch nicht verrümpelten Klassenkameraden das Ende ihrer Pubertät bereits zur Kenntnis genommen haben. Der mit einem unsichtbaren Ganzkörperfahrradhelm gegen die böse Realität ausgestattete Schnösel (er kann nichts dafür, ist aber trotzdem einer) bleibt ein emotionaler Nichtschwimmer, das ist eine Seite der Medaille.

Auf der anderen Seite steht der Narzissmus, der den Teilzeitgescheiterten die schärfste Waffe in die Hand gibt, Liebesentzug, mit dem sich jedes intakte Kind in eine von Lemuren getriebene Kreatur verwandeln lässt. Die für eine Zukunft mit erhöhter Weltuntergangsgefahr getrimmten Nesthäkchen tun das alles nur, um die Zuneigung ihrer Erzeuger zu sichern, die ansonsten in das umschlüge, was die eigentliche Haltung ihnen gegenüber ist: blanke Ignoranz, aus der die Verwahrlosung spricht, die sie der folgenden Schicht im Gemenge der Generationen gerne aufdrücken würden. So peitschen sie ihre Experimentierembryonen mit Lust in die Mühle, die die Funktionstüchtigen durchlässt, damit sie sich ein Leben lang aufreiben können, um eine Gesellschaft zu stützen, die sie vergiftet. Sie taumeln von einem Double Bind ins nächste, wenn die Eltern sie zum Konzertgeiger gedrillt um die Welt jagen, ihnen aber aus lauter Fürsorge nicht erlauben, sich selbst die Schnürsenkel zu binden. Diese Hölle hat keinen Notausgang.

Immerhin gibt es eine legitime Art der Rache, wie sie vor einem Jahrhundert oder zwei noch nicht möglich war. Die effizienzverseuchten Bambini wählen in naher Zukunft das Pflegeheim aus, wo ihre Eltern den Löffel abgeben werden. Da sind sie, die Arschlochmonster. Viel Spaß noch.





Gernulf Olzheimer kommentiert (LXXXIII): Elternabend

19 11 2010
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Das Kind hat es verhältnismäßig leicht. Es verbringt den Vormittag in angenehmer Atmosphäre beim Klingeltonherunterladen, auf dem Raucherhof oder gleich Pädagogen schonend im Stadtpark, panzert sich eine Portion Separatorenfleisch in die Figur und döst vor der Spielkonsole dem Abend entgegen, wenn die Haushaltsführung abrückt, um selbst die Schule zu betreten. Die Suppe auslöffeln sollen die, die das Blag unvorsichtigerweise in die Welt gesetzt haben. Es ist Elternabend.

Größtenteils paarig gemischtes Publikum in herkömmlicher Wuchshöhe trifft sich zum rituellen Fest der Selbsterniedrigung, und da das wörtlich gemeint ist, falten sich Bausparer im Schlichtpulli neben Zahnwälten im Kaschmirsakko auf XXS-Stühlchen zusammen, bis der Meniskus röhrt. Zehn Masochisten treffen zehn Sadisten, die Spielregeln standen lange fest, bevor einer der anwesenden Akteure die Bildfläche mit seiner langweiligen Existenz entnervt hatte. Es geht nicht um Schule, Erziehung, Bildung, es geht um alles, aber nicht um Kinder, schon gar nicht um die, die tagsüber der Versetzung entgegenschnarchen in diesem Reservat der unangenehmen Körpergerüche, wo noch die Ausdünstung des letzten Jahrhunderts aus dem Bröckelputz keucht. Hier sind Erwachsene ganz unter sich. Wenngleich sie sich nicht unbedingt auch dementsprechend verhalten.

Allerdings beruht das auf Gegenseitigkeit. Der Auftrieb der Genspender hat nichts mehr gemein mit dem ursprünglich angedachten pädagogischen Partizipationsschmonzes, er gleicht inzwischen einer Aktionärshauptversammlung mit Powerpoint-Präsentationen und haufenweise Overhead-Folien über die Performance der Blagen: Justin notiert fest, Frühenglisch zieht an, während die Mathe-Werte in diesem Quartal stagnieren, dafür kann Anne-Sophie schon ganz toll ihren Namen tanzen. Demnächst werden sie die Corporate Identity der Penne auf einem Motivationsseminar kommunizieren und den Biestern Benchmarks verpassen, börsentaugliche. Leistung und Anspruch klaffen jäh auseinander, komplett verstrahlte Lehrerinnen reflektieren tapfer völlig irrelevantes Anstaltsgeschehen, das weder wichtig noch schmerzfrei zu ertragen wäre. Möglicherweise sind die ganzen Rotzlöffel inzwischen sowieso schon alle hochbegabt, stopfen sich anorganische Materialien nur noch aus Protest gehen die strukturelle Verschleierung der Heteronormativität in die kariesverseuchten Plärröffnungen und freuen sich auf den Tag, da sie die narzisstischen Gehstörungen mit der Waffe in der Hand auf die Gesellschaft trampeln können. Denn um Bildung ging es ja kaum.

Sollte es aber. Die Altlasten der Großbaustelle namens Schule klömpern auf Erziehungsberechtigte ein, die längst abgeschaltet haben und sich nur noch ärgern, in welche Mischpoke man sie verfrachtet hat. Was aus diesem verschwiemelten Ansatz von Gesellschaft soll daran witzig sein, wenn Ökos, Kapitalistenschweine und Hipster sich mit dem freundlichen Neonazi von nebenan über die Kost auf dem Wandertag zanken müssen? Cola sei ein freundlichen Gruß in Richtung Satanismus, gibt der Moppel aus dem Frauenbuchladen zu Protokoll, während die erfolgreich geschiedene Kreative eh nur Holunderlimo als adäquat ansieht – was diverse Migrationshintergründe aus einer Scheibe Schinken machen können, ähnelt bei flüchtigem Hinsehen bereits dem Spanischen Erbfolgekrieg. Auf Gedeih und Verderb ist man zusammengeschweißt, obwohl man sich im wirklichen Leben meist aus dem Weg gehen würde – wo nicht ohnedies Homogenität herrscht, weil der Mietspiegel längst die untere Mittelschicht an den Rand gedrängt hat und sich keine Sorgen mehr macht, wenn das Schulessen bei drei veganen Gerichten zur Auswahl aus dem Budget kippt, weil die elenden Bastarde ohne eine korrekte Verwesung in Sahne-Glutamat-Emulgator keine Pause überstehen könnten, ohne die ganze Hütte zusammenzuschreien.

Und so führen die Beknackten lustvoll ihre Stellvertreterkriege, Mann gegen Mann. Während der eine Sohn tolle Lateinnoten bekommt, hat der andere aus reinem Interesse den Gasthörerschein in Festkörperphysik – beides Gejodel infantiler Papas, um aus dem lästigen Stuhlkreis wenigstens etwas Personality-Show zu machen, auch wenn es wieder keine Sau interessieren dürfte. Das glutenfreie Dinkelgebäck, das die Bambinos zur Belohnung nach dem repressionsfreien Nasenflötenunterricht mitbekommen, verstärkt den Eindruck permanenter Fassadenbildung; was die Kids mit dem Schmadder machen (Fußball, Weitwurf, Tauben vergiften), entzieht sich im Regelfall der elterlichen Kenntnis und soll es auch, denn sie bemerken recht schnell, dass die Großen irgendwie nicht alle Latten am Zaun haben können. Möglicherweise sind die sogar ein bisschen glücklich, wie sie so kauern auf ihren Möbelchen, adulte Streber, absolut unfähig, den Ernst des Lebens auch da wahrzunehmen, wo er wirklich einmal lauert. Sie merken es an Söhnen und Töchtern, wie sie ins offene Messer der Peinlichkeit laufen, man lässt sie die Erniedrigung spüren. Und Kinder können so grausam sein.





Gernulf Olzheimer kommentiert (XXXIII): Elternprojektionen

13 11 2009
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Früher war nichts komplizierter als die Logik, die dem Leben innewohnt: Väter sterben, Söhne erben, der Betrieb bleibt in der Familie. Das Nötige, das es für den Seifensieder, Schmierbrenner oder Leichenwäscher zu wissen gilt, wird von einer Generation zur nächsten vererbt. Selbst der unterste Rand, der höchstens ab und an als US-Präsident in den Arbeitsmarkt reingereicht wird, überfordert sich nicht mit der billigen Faustregel: wenn Du bei einer Sache zusehen kannst, ohne Dich ernsthaft zu verletzen, dann behaupte, Du habest es sowieso schon gekonnt. Ein Großteil der Nieten im System wird über diesen Selektionsprozess installiert.

Vereinzelt bedroht etwas das Gequirle in der Existenzbrühe; Elektrizität, Relativitätstheorie und Nanotechnologie versuchen mit Innovation die abgestandenen Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, doch gelingt ihnen selten mehr, als eine neue Gewerkschaft zu gründen. Fundamentale Sprünge lehnt der Behämmerte kategorisch ab, er lässt sich nicht vom Baum noch aus der Höhle prügeln. Seine Begeisterung für steigende Lebensqualität durch minimale Veränderungen ist eher eingebildet als vorhanden, denn er lehnt Veränderungen, so minimal sie auch sein mögen, ab. Etwaigen Wellen begegnet der geistige Nichtschwimmer mit radikaler Verleugnung, der Inszenierung eines Weltkriegs oder vorzeitigem Gesprächsabbruch.

Doch der Bekloppte wäre nicht bekloppt, besäße er nicht schließlich und endlich die Fähigkeit, vollkommen gegen legitime Ziele wie Arterhaltung, Lebenszeitverlängerung und Wohlstand zu arbeiten und sein Recht auf Frustration, Krieg und seelische Verrohung mit der Kraft der Hohlbirne zu verteidigen. Er entwickelt Ehrgeiz; allerdings wirft er den Nachbrenner erst dann an, wenn er mit der Stirn vor dem benzingetränkten Bretterzaun klebt. Sein Motiv: der Generationskonflikt, aber so, wie er ihn versteht.

Der grauenhafte Prototyp dieses einseitigen Ausstiegs aus der Zivilisation ist die Eislaufmutti; das Gesichtsübungsfeld auf welkfleischigen Rumpfresten lümmelt sich an der Bande zum Kunsteis, riecht penetrant nach billigem Parfüm, kann einen Salchow nicht von einem Wadenkrampf unterscheiden und verleiht dem Begriff der Peinlichkeit eine ungeahnt kategoriale Tiefe, ohne es doch selbst zu begreifen. Mittlerweile hobelt es in runderneuerter Form als Tennisvater über die Kanten des Erträglichen oder schleppt als Stage Mum die überwiegend weibliche Brut in Beauty-, Ballett- und Blödblunzenbewerbungen, obwohl sie selbst bei der Aufnahmeprüfung in den Zoo als Plumplori-Ersatz durchgefallen war.

Fehlgeleitete Gutmenschen, die dreimal im Jahr unbezahlten Urlaub nehmen, um suizidgefährdete Investmentbanker wieder ins Meer zurück zu schleppen, interpretieren diese narzisstische Spielart des Machtanspruchs als reinen Sadismus; statt die Abkömmlinge im Machwahn zu Geigenspiel, Eisschnelllauf, ja Wirtschaftschinesisch zu drängen, könnte man ihnen in einem Anfall von Ehrlichkeit gleich eins in die Fresse zimmern. Dem Hass auf die Jugend wäre Genüge getan, das Kind müsste nicht länger als Stellvertreter der volljährigen Flachbratze seinem Missbrauch als Placebo beiwohnen und leistete durch seine Abwesenheit in der Kompensation klebrigen Selbstmitleids einen erheblichen Beitrag zur seelischen Gesundheit – seiner eigenen, auf die es hier eher ankommt als auf den Synapsenkasper eines Abflussschnorchlers, der einmal zu oft gegen die Kacheln gepaddelt ist. Selbstbetrug atmet die ganze Konstruktion, denn welches Blag würde nach mühevollem Aufstieg am Sportler- und Intellektuellenhimmel konstant mit dem Finger auf den Verursacher zeigen? Damit der Betrieb in der Familie bliebt, wenn Söhne erben, muss Pappi ja erst mal unter die Grasnarbe.

Schmerzhafter noch ist der Alltag, wo die Vollbrezel sich einbildet, die Frucht seiner Lenden gehöre zu den an jeder Straßenecke auftretenden, da weltexklusiven Hochbegabten. In verschwiemelter Rückwärtslogik tritt die Vermutung, der Erzeuger des Stammhalters verfüge über eine Anzahl von Hirnzellen im hohen, fast schon zweistelligen Bereich, schwerpunktmäßig unter egozentrischen Dumpfblähern auf, die den bisherigen Gasaustausch vorwiegend dazu genutzt haben, sich zum Prädikatsdeppen zu machen. Sie gieren nach Anbetung, weil sie selbst eine nicht nennenswert verlaufende Kindheit überlebt haben – und rächen sich für ihre intellektuellen Rasenlöcher an dem Jahrgang, der ihretwegen gar nicht erst ein eigenes Selbstwertgefühl entwickelt. Einen Zeugungsakt später geht die Grütze wieder von vorne los.

Es besteht keine Hoffnung, dass sich etwas ändert; in viehischen Phantasmagorien sieht man, wie der Große Depp durch Traumwälder torkelt, er ist der ontologischste aller Transzendentalbeweise, denn etwas derart Bescheuertes kann sich kein Mensch ausdenken. Er nagt noch einmal am geräucherten Vater, stößt sich gewaltig die Birne und lallt also: „Wenn ich in Rente gehe und Euer Erbe versaufe, dann wird das alles hier einmal Euch gehören!“





Kindersicherung

15 10 2009

Der Diener stieß seine Nase so vornehm in die Luft, dass man ihn auch für verschlafen hätte halten können. „Sir Jeremy lässt bitten“, näselte er und öffnete die Tür. Ich trat in ein dunkles Zimmer, das ganz mit dicken Teppichen ausgelegt war. An den Wänden hingen die Porträts älterer Herrschaften aus viktorianischer Zeit. Sir Jeremy stand hinter einem mächtigen Schreibtisch. „Ich erbitte Ihre Verzeihung“, begrüßte er mich, „ich hatte Sie für eine Weile warten lassen, ist es nicht? Aber nehmen Sie sich einen Platz.“ Und so tat ich es.

„Sir Jeremy“, begann ich, „ich bedaure dieses scheußliche Verbrechen außerordentlich, aber die Reaktionen in Ihrem Land sind, mit Verlaub, doch ein bisschen merkwürdig.“ „Nein, durchaus nicht!“ Er schüttelte heftig den Kopf. „Das sind, wie sagt man in Ihrer Sprache? ein Haufen von Beknackten. Sie haben nicht mehr alle Latten am Zaun, wenn Sie mir dies Wort gestatten.“ Und er goss einen stark duftenden Tee in die Tassen. „Es ist ja recht albern, was passiert in der Politik in dem Moment. Die Gesellschaft geht auf dem Kopf. Man könnte das Gefühl haben, wir sind bei den Hottentotten.“ „Weil diese Behörde die Daten sämtlicher Briten sammelt?“ „Nein, weil sie sie nicht sammelt, verstehen Sie?“ Er verwirrte mich ein wenig. „Weil sie sie nicht sammelt – noch nicht.“ „Aber es wird doch schon registriert“, wandte ich ein, „wer etwas mit Kindern zu tun hat.“ Er lehnte sich zurück in seinen Sessel und seufzte tief auf. „Es ist der Missbrauch. Ich muss Ihnen das erklären. Es ist sehr kompliziert.“

Er zog eine Liste aus der Schreibtischschublade. „Schauen Sie auf diese Berufe. Lehrer und Erzieher und Krankenschwestern, Ärzte und Studenten, das nimmt kein Ende. Jeder von diesen könnte im Prinzip ein Pädophiler sein, was der Grund ist, dass er diese Profession ausübt.“ „Damit wird also jeder unter Generalverdacht gestellt“, konstatierte ich, „und ganze Berufsstände sind ausgegrenzt.“ „So verkehrt ist das ja nicht“, antwortete Sir Jeremy bissig, „Sie wissen wohl, dass eine Hälfte der Rechtsgelehrten ihren Beruf haben, um kriminelle Energie in ihnen zu überkompensieren.“ „Wer muss sich denn überhaupt registrieren lassen?“ „Jede Person. Wenn Sie ein Gemüsehändler sind und haben jeden Tag Kinder in der Kundschaft: Sie lassen sich registrieren. Ein Busfahrer: Registrieren. Ein Verkäufer in einem Geschäft, das hat Kinderschuhe: Registrieren. Jeder darf das tun müssen.“ „Dürfen?“ „Es ist freiwillig“, bestätigte Sir Jeremy, „was das Perfide daran ist. Denn dann, wenn Sie sich nicht registrieren lassen, bekommen Sie eine Geldstrafe aufgeurteilt von bis zu 5.000 Pfund Sterling. Und Sie werden gestellt an einen öffentlichen Pranger – also nicht ein öffentlicher Pranger wie im Mittelalter auf dem Markt, aber ein Strafregister, das ist öffentlich für jeden einsehbar. Es ist eine Art Hexenjagd. Sie denunzieren die Putzfrau, die arbeitet in einer Schule, und sie wird in das Register eingetragen und ist eine Pädophile!“

„Und wenn diese freiwillige Eintragung nicht mehr gemacht wird…“ „… macht die Behörde den Missbrauch“, vollendete er. „Es zerstört die Kommunikation in der Gesellschaft. Denken Sie darüber, was wird, wenn die Behörde entscheidet, dass die Freiwilligkeit nicht nützlich war – dann wird man jeden mit Zwang in das Register schreiben und jeder ist ein Pädophiler.“ „Was wird da geschehen?“ Er senkte den Kopf. „Da wird sein kein Vertrauen mehr. Sehen Sie, wenn Sie ein junger Mann sind und studieren Medizin, um Kindern zu helfen, Sie werden als Pädophiler geführt – wer wird werden noch ein Kinderarzt? Wer wird noch leiten einen Kinderchor freiwillig oder trainieren eine Fußballmannschaft?“

Sir Jeremy stellte die Tasse klappernd ab; seine Hand zitterte vor Zorn. „Das ist dasselbe Ding, was hat Ihre Ministerin gegen Familien gemacht, in Ihrem Land. Die Kinder werden missbraucht in Familien, und also missbraucht die Politik die Sache für ihre manischen Ideen. Man braucht diese Hysterie dazu, dass man die Gesellschaft kann total kontrollieren.“ Ich nickte. „Genau genommen muss man doch jetzt auch sämtliche Eltern als Pädophile registrieren – sie halten sich doch am meisten bei Kindern auf.“ „Sie werden erstaunt sein“, sagte Sir Jeremy, „sie tun es. Natürlich nicht nur mit eigenen Kindern, sondern mit den Kindern auch von den Nachbarn oder wen immer man kennt. Ein ehemaliger Kriminalbeamter ist dazu gezwungen, dass er die Bilder löscht, was er hat gemacht von seinem neun Jahre alten Enkel. Er gilt nun als ein Pädophiler.“ Er lachte verzweifelt auf. „Stellen Sie sich vor, ein königlicher Prinz wird Vater – Sie dürfen das Baby anschauen, aber nicht mehr ein Bild davon schießen! Es ist recht lächerlich.“

„Ich las, dass es da bestimmte Richtlinien geben solle.“ „Ach was“, wischte er die Sache vom Tisch, „Geschwätz! Personen mit schwerer emotionaler Einsamkeit werden registriert werden – in England neigt man dazu, mit seinen Gefühlen sich auch zurückzuziehen. Verwendung von berauschenden Substanzen – ich neige zu schlechter Laune und trinke jeden Abend ein Glas Port, deshalb bin ich also pädophil? Nein, das ist ja Unsinn!“ „Und weshalb braucht die Behörde dies Register?“ Er blickte mich traurig an. „Es ist der Perfektionismus. Und es macht viel weniger Kosten. Mit Ausnahme von meinem Bruder Gordon, der ein schrecklicher Kinderhasser ist und nie Kinder um sich hat, wird man die Bevölkerung von England haben. Alle in einer Datei und alle sind verdächtig. Ganz einfach. Das hat nicht geschafft einmal Ihr Herr Schäuble.“





Gernulf Olzheimer kommentiert (XIV): Progressive Eltern

3 07 2009

Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer


Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Die Welt tickte noch sauber, als Mütter und Väter noch das waren, als was sie von der Natur und den Ansätzen diverser gründlich missratener Zivilisationsversuche vorgesehen sind: Mütter. Und Väter. Teils Laktationsautomat und Maschine zum Windelwechseln, teils der bärtige Teilnehmer am ordnungsgemäß absolvierten Ödipuskonflikt, der in letzter Sekunde vor dem Abtanzball demonstrieren darf, wie man sich einen Strick unter den Kragen nudelt. Andere Kulturtechniken wie Bierflaschen öffnen, Bierflaschen leeren, Bierflaschen in der Landschaft verstreuen eignet sich der Jungspund lieber durch teilnehmende Beobachtung im Kreise der Gleichaltrigen an. Gehen die ersten Versuche von Komasaufen, erotischer Annäherung oder akrobatischen Übungen auf dem Zweirad gründlich in die Hose, so ist es dem Adoleszenten immer noch lieber, sich in Anwesenheit der Klassenkameraden schlagartig bewusst zu werden, dass ein Abgrund gähnt zwischen dem Realen und dem unter der Schädeldecke köchelnden Schwachfug, der sich nach und nach an den Tatsachen abschmirgelt. Er zieht sich gerne zurück ins Elternhaus, wo ihm die dumpfe Heile-Welt-Spießigkeit zwar voll auf die Plomben geht, doch weiß er, dass er aus dieser Zwangslage spätestens am nächsten Wochenende wieder entwischen wird und dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis er als Volljähriger den Ort seiner Gefangenschaft endgültig verlassen kann.

Nicht so der progressiv gehegte Halbwüchsige. Wo prügelnde Megären und dauerbesoffene Nulpen mit ihrem Latein am Ende sind, die folgende Generation für das eigene sinnlose Dasein büßen zu lassen, da fallen die Behämmerten par excellence ins weite Feld der Bevormundung ein, marodierend und verbrannte Erde hinter sich lassend. Es sind progressive Eltern, die sich an den Stammhalter ungefragt heranwanzen, als hätte der noch nicht genug Katastrophen am Hals. Mama und Papa als Kumpeltypen – ein Weltuntergangsszenario aus dem Bilderbuch für Grenzdebile.

Zunächst haben die Erziehungsberechtigten einen solchen Vorrat an Verständnisinnigkeit, dass es dem Sprössling graut. Er sucht sich mühsam seine Chancen zur Rebellion zusammen, vergiftet ein Rudel Kois in Daddys Gartenteich und nagelt Mammis Prada-Sammlung zwölfzöllig ans Cabrio. Die Altvorderen analysieren es kritisch und sehen, dass der Bankert durchaus nachvollziehbar handelt. Väterchen findet auch gar nichts dabei, er wollte den Sportwagen ohnehin abwracken, weil er denkt, dass ein Motorrad zu einem modernen Mann mit Kind ohnedies besser passt. Dass die Chrommühle nur angeschafft wird, damit er seinen Erben damit entspannt zur Engtanzfete kutschieren kann, steht auf einem anderen Blatt. Dass der Knabe vor dem anwesenden Damenflor lieber erektile Dysfunktion zugäbe als die Anwesenheit seines Erzeugers, steht für letzteren gar nicht zur Debatte. Er meint es gut, und genau das ist das Problem.

Mehr noch, die Erziehungsberechtigten maßen sich an, jedes noch so intime Detail ihrer Brut in sämtlichen Erscheinungsweisen mit dem klebrigen Überzug ihres Einfühlungsvermögens zu beschmieren. Wer weiß, wie Pubertierende ticken und dass eine Auseinandersetzung unter kleinen Mädchen – Chantal mag nicht mehr neben Jacqueline sitzen – die klassische Vorstellung von Harmageddon dagegen in ein minder schweres Kaffeekränzchen verwandelt, kann sich ausmalen, wie es die Blagen empfinden, wenn Mutti ihren eigenen missratenen Reifungsprozess als Parallele zu Töchterleins ersten zarten Erfahrungen auf dem Rücksitz eines Personenkraftwagens heranzieht. Sie hätte vielleicht gleich eine tiefenpsychologische Interpretation des Tagebuchs anfertigen sollen, um aus dem Mädel eine Portion Leibesfruchtsalat zu basteln. Die Hauptsache ist, es geht den Alten gut. Sie genießen nicht das Leiden ihrer Abkömmlinge, sie bemerken es nicht einmal.

Peinlichkeit ist ihre zweite Natur. Subfontanell unmöbliert wie sie sind, treiben sie glühende Krampen unter die Nägel ihrer kleinen Schatzis, indem sie sich als deren beste Freunde bezeichnen, öffentlich und ungefragt. Hatte der Rebellionsdrang schon keine Chance, so wird das Seelenleben der Jugendlichen hiermit endgültig in die Grütze geritten, denn die Gruftis kapieren nicht, dass man sich Freunde im Gegensatz zur Familie aussucht – jede Sozialisation der gesellschaftlichen Debütanten ist damit ausgeschlossen, die Bande wächst zu einem Haufen Psychoarschlöcher heran, die sich nur durch grobe Gewalteinwirkung von den Tentakeln der Mutterliebe und des Vaterstolzes lösen können.

Nach schweren Träumen kommt es dem Sohn mal wieder so vor, als hockte Pappi auf der Bettkante und gäbe seinen Sermon von sich. Die Sicherung brennt durch, und während die Nachbarn schon auf das Sondereinsatzkommando warten, verarbeitet das Kind seinen Schnödipus mit Hilfe der Laubsäge in handliche Päckchen. Alle sind fassungslos. Wo doch seine Eltern immer so viel Verständnis für ihn gezeigt hatten.





Gernulf Olzheimer kommentiert (V): Mütter im öffentlichen Raum

1 05 2009

Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer


Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Während intelligente Arten, Schnaken etwa oder Schmeißfliegen, nach dem unerlässlichen Akt der Reproduktion ihr Gelege fresstechnisch günstig in der Landschaft verstauen, um sich angenehmeren Dingen ihrer Existenz zu widmen, reißt eine Spezies gewaltige Lücken in die ansonsten gültige Annahme, dass die Natur planvoll auf ihr Ziel zusteuere. Es ist der gemeine Bekloppte, vor allem das weibliche Exemplar, sobald es im unbedachten Moment aus der kotzrosa bis babybleu beflaggen Blagenhöhle entwischt und mit neurotischen Getue die unschuldige Umwelt in den Wahnsinn treibt.

Frühere Epochen gingen davon aus, dass sich die Gebärmutter bei akuter Unterversorgung mit männlichen Sekreten aus dem Staub machte, einen Trip durch die Innenseite der Fettzellen anträte und schließlich sich im Hirn festbisse. Die moderne Definition der hysterischen Persönlichkeitsstörung liegt davon nur mäßig weit entfernt, im Ergebnis läuft es allerdings auf dasselbe hinaus: affektiver Firlefanz, der sich im öffentlichen Raum ausbreitet wie Fliegenlarven in einem Stück Schlachtabfall nach mehrwöchigem Kontakt mit der Grasnabe. Medikamentös ist da nichts mehr zu wollen.

Schon aus durchschnittlicher Auffahrentfernung sieht man ans Wagenheck genietete Warnhinweise wie Noée-Luana an Bord, die zweierlei Informationen expressis verbis ans Brechzentrum des Betrachters vermitteln. Erstens sind die Kleber einer temporären Sauerstoffunterversorgung der Denkmasse zum Opfer gefallen und nur noch knapp in der Lage, lallend zu artikulieren; schwierige Lautkombinationen müssen sie grundsätzlich mit Bindestrich schreiben, den Verlust der zuvor möglicherweise intakten Muttersprache haben sie en passant abgehakt. Zweitens outen sich die Aufzuchtsberechtigten als gewissenlose Volleulen, die mit demselben Exhibitionismus Atommüll im Handschuhfach auf ihre Ladeklappe löten würden, wenn’s das Schild für Geld zu kaufen gäbe. Sie sind behämmert, und jeder soll es wissen.

Ihre gefährlichste Allzweckwaffe ist der Kinderwagen. Jeder durchtrainierte Terrorist sähe es mit feuchten Augen, wie sie die Balgbeschleuniger am Wegschmeißbügel zielsicher allen arg- und wehrlosen Supermarktbesuchern in die Hacken knallen, um eine halbe Millisekunde früher an hochgewürgten Bananenexkrementen mit Spinat und angewestem Karottenspeichel mit Bienenkotze im umweltneutralen Schraubgläschen zu sein. Ohne Hemmung fegen sie Rentner samt Rollatoren aus der Kampfbahn, schubsen Rollstuhlfahrer auf abschüssig angelegte Verladerampen und schlenzen Singles in den Tiefkühlkostfriedhof. Widerrede ist zwecklos, wer sich beschwert, ist politisch unkorrekt und als asoziale Drecksau abgestempelt; einmal im Frühjahr hat Vati ihn hoch gekriegt, jetzt finanziert das hormonelle Sperrfeuer mit den dicken Beinen die Rente der anderen. Es kommt ihnen nicht auf die Versorgung ihrer genetischen Nachhut an. Sie schieben auch am Königstigergehege die Kinderkarren bis unmittelbar vor die brusthohe Mauer, scheißegal, ob sich der Rotzlöffel zusätzlich zum täglichen Fallrückzieher vom Wickeltisch das Nasenbein einebnet. Es zählt nur, dass ihre Brut nach vorn kommt. Wenn tot, dann eben auch tot.

Ab einem gewissen Zustand – der Säugling krabbelt zwar schon selbsttätig, hat aber seinen Schließmuskel noch nicht unter Kontrolle – entlässt das Muttertier sein Geschlüpftes in die Freiheit. Es durchrobbt autonom gastronomische Einrichtungen, Ladenlokale, Zahnarztpraxen, Baustellen und Gleisbetten, ist nach Ansicht der zugehörigen Mutter herzallerliebst dabei anzuschauen und zieht die unterste Dose eine Konservenpyramide nur deshalb heraus, um Frühreife zu demonstrieren: das kluge Kind studiert die praktische Wirkung der Fallgesetze. In Wirklichkeit übt es die Inszenierung einer Massenpsychose, weil es das Fehlverhalten seiner Erzeuger millimetergenau kopiert.

Der einzige Weg, das Aggressionspotenzial der Mütter im öffentlichen Raum in Schach zu halten, ist das Mitführen einer Schwangeren. Nicht aus gebärfreudiger Frauensolidarität, weil die Trächtige ihren Embryo noch nicht geworfen hat, sondern aus tief empfundener Beißhemmung, die zur Erkenntnis führt, noch nicht das absolut untere Ende der Sozialskala darzustellen. Schwangere empfinden naturgemäß reziprok, so dass etwaige Anfälle von Stutenbiss und anderen psychosomatischen Frauenerkrankungen durch sofortiges Ausschalten größerer Hirnareale minimiert wird, die bei normal Reagierenden verhindern, kontinuierlich einkotende Kleinprimaten als den Gipfel von Niedlichkeit zu empfinden. Vati hat hier nichts zu suchen, er kommt in der Matrix der Bekackten nicht einmal vor und darf sich freuen, wenn seine Erektion im nächsten Frühjahr von der Schnepfe im Kinderzimmer überhaupt zur Kenntnis genommen wird.

Die einzig befriedigende Lösung wäre das Wegsperren in verkehrsberuhigte Zonen, in denen sie ungestört ihre Säuglinge über Buckelpisten schieben können. Sollte sich der Nachwuchs über kurz oder lang erledigt haben – kein Hosenmatz überlebt den Aufenthalt im Mamaghetto auf Dauer – darf Vati wieder ran und neuen Laich freisetzen. Zwar wäre durch Vollversorgung mit Schwangeren die Sache für ihn kaum angenehmer, es würde aber den Rest der Umgebung von den Müttern befreien. Dauerhaft.





Noblesse oblige

24 03 2009

„Kommen Sie am besten gleich zur ersten Sendung“, hatte mir Siebels geraten, „Sie werden staunen, wie authentisch das Format ist!“ Also fuhr ich ins Studio. Bisher war auf den alten Fernseh-Fuchs noch immer Verlass gewesen.

Annegret Noble kam gerade aus der Maske und setzte sich auf die Designercouch. Wo war der alberne Strohhut? Warum steckte die Therapeutin auf einmal im Hosenanzug und trug kostspieliges italienisches Schuhwerk? War sie am Ende selbst Opfer eines erlebnistherapeutischen Experiments geworden? „Wir passen uns dem Publikum an“, klärte mich Siebels auf, „die gepflegte Maske ist Teil der Strategie für das Premium-Publikum.“

Und schon schlurfte die erste Verhaltensgestörte rein. Wie ich dem Sendeprotokoll entnahm, war Noée-Shaleena (16) mehrmals volltrunken im Wagen ihrer Mutter aufgegriffen worden. Sie hatte mit dem Springmesser einen Polizeibeamten verletzt und schließlich ihren kleinen Bruder vom Balkon auf den Kiesweg geworfen; der Dreijährige liegt seit Monaten im Wachkoma.

Zunächst war alles normal. Das halbwüchsige Ding mit den zahlreichen Piercings und den Klamotten, denen man nicht sofort ansah, ob sie aus der Edelboutique oder doch von der Mülldeponie stammten, pöbelte die brünette Störungsstelle an, hörte nicht auf ihre Beschwichtigungsversuche und benahm sich überhaupt so, wie man es von ihr erwarten konnte: gar nicht. Plötzlich eskalierte die Situation. Das Mädchen hatte eine goldene Kreditkarte aus der Handtasche gezogen und versuchte, Annegret Noble die Arme aufzuschlitzen. Erst drei hinter der Sitzbank hervorhechtende Bodyguards rangen die blondierte Furie zu Boden. „Das büßt Du mir“, schrie sie, „das sag ich meinem Pappi! Der macht Dich fertig, Du blöde Sau! Du landest im Knast!“

Einigermaßen konsterniert blickte ich Siebels an. „Was geht denn hier ab? Pappi? Knast? Normalerweise droht man doch mit Schlägern?“ Er schlug sich vor die Stirn. „Ach so, Sie hatten ja das Exposé nicht bekommen! Hier geht’s ausschließlich um Kinder aus der Oberschicht. Die drohen natürlich mit dem Rechtsanwalt.“ Zwischendurch wurde Mandy (15) ins Studio geführt. Gefährliche Körperverletzung, Einbruchdiebstahl, dazu mehrere Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz. „Ich gebe zu“, flüsterte Siebels, „wir verlangen dem Zuschauer einiges ab.“ Ich war ganz seiner Ansicht. „Nein, Sie verstehen das falsch. Ich meine nicht diese ungehobelte Sprache, die Gewaltbereitschaft, ich meine damit, dass wir der Gesellschaft so schonungslos den Spiegel vorhalten.“ Ob das nicht auch die anderen Sendungen täten? „Ach was! Schauen Sie sich doch mal diesen Kram an, da wird die so genannte Unterschicht stilisiert, der unterste Rand, damit sich der Zuschauer darüber erheben kann. Ein total verkorkstes Modell von V-Effekt. Wir arbeiten mit der medialen Widerspiegelung. Das Publikum sieht, dass die Probleme aus den Umständen seiner eigenen Schicht entstehen, und begreift, dass es selbst daran Schuld ist. Die alten Mechanismen, Verdrängung, die Suche nach dem Sündenbock, das geht nicht mehr.“ „Sündenbock?“ „Sicher. Die angebliche Machtelite kann sich doch nur konstituieren, wenn sie für ihr Versagen die Unterschicht verantwortlich macht. Sie lenkt von ihrer eigenen Unfähigkeit ab, indem sie die Schuld für ihr Versagen nach unten abschiebt.“ Derweil agierte Mandy wie vorhergesehen ihre Aggression an der Sozialklempnerin aus.

„Außerdem“, fügte Siebels hinzu, „ist unser sozialpädagogisches Konzept viel wirksamer.“ Ich verstand nicht gleich. „Wir sehen es am familiären Umfeld. Seelisch verroht, Moralvorstellungen sind nicht mehr vorhanden oder werden nicht realisiert, manche wären dem Gymnasialbesuch zum Trotz eher für die Sonderschule geeignet, zu allem noch diverse Suchterkrankungen. Die Kinder sind dementsprechend.“ Ich zuckte zusammen. „Was haben denn Sie jetzt gedacht? Das Problem sind die Eltern. Man sieht es doch, selten mal Menschen- oder Waffenhändler, der überwiegende Teil stammt aus dem höheren Bankmanagement.“ Ich tupfte mir den Schweiß ab.

Kevin (17) betrat die Szene. Nach erfolgreicher Kokserkarriere schulte er derzeit auf Zuhälter um. Offenbar wies sein Elternhaus eine leichte soziale Mobilität auf, wofür auch das gerade anhängige Verfahren wegen Sprengstoffbasteleien sprach. „Wir haben einen bildungspolitischen Auftrag. Indem wir die Jugendlichen davon abhalten, die Biografien ihrer Eltern nachzuleben, werden wir unserer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht. Denn nichts ist verhängnisvoller, als die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen.“

Etwas unterschied Kevin von den anderen. War es sein Fluchen? Dass er der Psycholorette die Brille zerknickte? Immerhin blieb die ihrer eigenen Predigt treu und hielt die Fehler ihrer Patienten aus. Sicherlich ließ sie sich auch nur aus Schafsgeduld ins Gesicht spucken.

Da stürmte der Schlacks auch schon auf uns zu. Siebels trat er so heftig in den Unterleib, dass der sich auf dem Boden krümmte. „Weg da, Du Schwuchtel“, brüllte mich der Grünschnabel an, „oder Du bist gleich tot!“ Ich muss ihn beim Ausholen ein wenig unglücklich erwischt haben. Er drehte sich, während er einige Meter weit in die Türme aus Stapelstühlen flog. Mit zitternden Fingern tastete er sein Gesicht ab, da stand ich auch schon über ihm. „Pass mal gut auf, Milchgesicht“, säuselte ich sanft, „das war Ernst. Und wir wollen doch beide nicht, dass der Onkel jetzt gute Laune kriegt, oder?“

Als ich Siebels aus der Klinik abholte – er war eine Nacht zur Beobachtung dort geblieben – frohlockte der Produzent. „Wir haben einen neuen Sponsor! Kevins Vater hat ein hübsches Sümmchen springen lassen. Sein Sohn ist noch am selben Tag zum Vorstellungsgespräch als Altenpflegehelfer angetreten. Freiwillig übrigens.“





Als die Welt noch warm war

12 03 2009

Wenn ich heute noch mal ganz von vorne anfangen sollte – nein, man kann das ja gar nicht. Tempora mutantur. Und sicher sind wir auch Kinder unserer Zeit. Denn die Zeit war unsere. Ob sie besser war? Jedenfalls will ich nicht noch einmal als Kind wieder von vorne anfangen müssen. Nicht heute.

Wie war das denn damals… da saßen wir im Hof, buddelten im Sand, spielten irgendwas, was wir gerade erfunden hatten. Eine Mutter kam und stellte ein kohlensäurehaltiges Erfrischungsgetränk mit naturidentischen Orangenauszügen hin. Wir sagten dazu Apfelsinenbrause und tranken das aus der Flasche. Aus einer Flasche. Alle. Einmal mit der Hand über die Öffnung wischen und gut. Heute würde Heidrun-Gerlinde Schwölm-Pannekoke einen Kreischkrampf kriegen. Halbliterfläschchen mit natriumarmen Wasser ohne Kohlensäure würde sie anschleppen, mit dem Textmarker die Grenzen zwischen Malte-Melvin, Tobias-Timon und Steve-Martin festschreiben und jedem Blag immerzu seine Buddel unter die Nase halten, als seien alle ihre eigenen Kinder. Derweil degeneriert deren Immunsystem proportional zur Frustrationstoleranz und wir klonen fleißig Sozialkompott.

Oder die Kindergeburtstage. Ich erinnere mich an einen brüllend heißen Julinachmittag, an dem wir – sieben Stöpsel so zwischen zehn und elf – in Reinmars Garten in einem wassergefüllten Schlauchboot saßen. Keine Ahnung, woher das Ding kam. Vermutlich ein ausrangiertes Kampfschiff, das die Rote Armee im Grenzgraben vergessen hatte. Groß. Schwarz. Es dauerte zwanzig Minuten, bis Onkel Vollert das Boot seetauglich hatte. Noch sehr viel länger, wenn sieben kleine Rabauken auf der Fußpumpe herumtraten. Eine Ewigkeit, bis das Gummiding voll Wasser war.

Aber es war unser Schlauchboot. Wir schrieen, planschten, sangen unsinnige Lieder in ohrenbetäubender Lautstärke, aßen zwischendurch Butterkekse mit Erdbeeren, alle aus einer Schüssel. Keine Supernanny hielt aus dem Off einen Vortrag über Seuchenmedizin. Kein Eventclown machte mit uns pädagogisch wertvolle Selbsterfahrungsspiele, bei denen jeder mal gewinnen musste, damit wir hinterher nicht bei Angelika Kallwass aufschlagen.

Es war, vorsichtig formuliert, heiß. So heiß, dass wir auch um halb sieben noch im Paddelbecken saßen. Vollerts kamen mit zwei Körben herunter, brachten Würstchen, Senf, Kartoffelsalat, absurde Mengen von Schokoladen- und Wackelpudding. Es dämmerte schon, da stiegen wir aus dem Schlauchboot. Behielten die Badehosen an und zogen Pullover über. Spielten Rugbyfußball, sechs Mann und ein Torwart. Irgendwann wurden unsere Eltern telefonisch zusammengetrommelt, aber nicht zum Kinderabholen. Sie trugen Klappstühle, Sitzkissen, auch eine Obstkiste muss dabei gewesen sein. Sie tranken Wein und Bier und Schnaps, redeten, lachten. Herr Stadler, Charakterbass an der städtischen Oper, sang auch unsinnige Lieder in ohrenbetäubender Lautstärke. Onkel Vollert rauchte Pfeife. Die Sonne sank. Es war Freitag, Ferien, und die Welt war warm.

Sie war immer warm. Auch wenn der Seewind pfiff, wenn der Regen rauschte. Lars oder Axel standen einfach so vor der Tür, oder Klaus und Uwe. Oder alle. Fielen ins Zimmer ein. Waren einfach da. Wir mussten keine Termine ausmachen zwischen Sprecherziehung, Ballett und Wirtschaftschinesisch. Manchmal kamen Axel und Uwe, und ich war nicht da. Dann schickte meine Mutter sie zu Klaus. Sie sandte vorher kein Fax zu seinen Eltern, um zu eruieren, ob der Besuch von Freunden ihres Sohnes heute wohl genehm wäre.

Um sechs teilten Eltern mit, dass Klaus’ und Reinmars Mütter soeben den Rückzug der Söhne angeordnet hatten. Dann gingen sie. Zu Fuß. Kein SUV wartete vor der Tür, damit man nicht lausige fünf Minuten durch den Nieselregen tapern musste.

Oder um halb sieben klingelte das Telefon. Die Gespräche verliefen immer gleich. „Hallo, Frau Vollert! Nein, Reinmar ist nicht hier. Rufen Sie mal bei Hartmanns an. Danke, gleichfalls. Ja, richte ich aus. Tschüß!“ Ob die Mobilfunkbetreiber die Elternparanoia vor Kidnapping nur ausnutzen oder sie erst schüren, weiß man nicht. Sicher ist, dass heute kein Hosenmatz mehr ohne drahtlose Fangleine der Höhle entkommt. Wer da nach Afrika ausreißen will, um den ganzen Mammiwahn hinter sich zu lassen, hat mein Verständnis.

Ja, wir haben im Matsch gespielt, ohne dass eine Lazarettschwester von der Desinfektionstruppe hinter uns stand. Wir sind über Zäune geklettert und ohne Stahlhelm auf Fahrrädern ohne Gangschaltung und Gelsessel gefahren. Immer den Berg runter. Wir haben Eis und Pflaumen aus Hartmanns Schrebergarten gegessen und gleich danach Mineralwasser mit Kohlensäure getrunken. Wir hatten keinen eigenen Fernseher, wir hatten eine Rodelbahn.

Natürlich haben wir auch Klavier und Fagott und Hockey gespielt. Ging nicht anders. Aber zwischendurch auch Milchtütenfußball und Halma und Fangen. Wir hatten keine Gouvernante und keinen Personal Trainer. Bei uns gab es keinen Schulpsychologen, weil wir keinen brauchten. Wir litten nicht unter chronischer Aufmerksamkeit hyperaktiver Talentscouts. Wir litten, wenn die Ferien zu Ende waren.

Und keiner von uns ist je aufgewacht und hatte plötzlich ein Ich-war-als-Kind-schon-scheiße-T-Shirt an.