Gernulf Olzheimer kommentiert (DCLVII): Das Märchen von der fremden Gewalt

31 03 2023
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Das war bei Rrt noch verhältnismäßig einfach. Wer ungefragt seinen Wurfspeer anfasste, kriegte einen Satz heiße Ohren. Ob nur die Sippe am Bach bei der westlichen Felswand ihre Alltagsfragen auf diese Art klärte, weiß heute keiner mehr, doch liegt die Vermutung nahe, dass es in den Erdhöhlen der Steppenbevölkerung ähnlich zuging. Wüssten wir, wer aus welchem Antrieb die Impulskontrolle verlor, wir würden die Ergebnisse strukturieren und zum Ergebnis kommen, dass sich die Stämme zwar alle gegenseitig eine reinzimmern, wenn es gerade passt, dass wir sie aber anhand kleiner Unterschiede durchaus in Gruppen sortieren können, stets mit der Implikation der Wertigkeit, denn was wären solche Untersuchungen ohne selbstgefällige Moral. Eine ethnologische Betrachtung von Gewaltformen ist zwar theoretisch wenig sinnvoll, da es auch keine allgemeingültige Definition der Gewaltformen gibt, aber nichts hindert uns daran, derlei Märchen in die Welt zu setzen – warum also nehmen wir uns nicht einmal unsere eigene westliche Zivilisation vor?

Speziell der Deutsche reklamiert für sich, nicht mit den primitiven Hominiden in einen Topf geworfen zu werden, die er sonst als minderwertige Zuwanderer gerade noch erduldet, auch wenn er sie nur auf dem Arbeitsmarkt als Hilfskräfte verwenden und sofort aus dem Land schmisse, weil sich ihre rassefremde Hautfarbe nicht mit dem Straßenbild vertrüge – ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft zu verleihen wäre nach Ansicht der Arschgeigen mit besser verstecktem Migrationshintergrund ohnehin blanker Volksverrat. Woher also die Hybris, nur der Einwanderer wäre aus Hass auf Personen, die nicht seinem sozialen Hintergrund entsprächen und nicht seine Ideologie teilten, zu gewalttätiger Praxis fähig und würde sich einen feuchten Fisch um geltende Gesetze scheren? Neigt nicht der Deutsche aus tief verwurzeltem Nationalwahn, andere Ethnien als unbrauchbare Evolutionsversager zu bekämpfen, in struktureller Gewalt, die seine eigene Unfähigkeit, sich an die Realität anzupassen, kaum verbirgt? Hat nicht der Teutone quasireligiös verschwiemelte Ansichten zur Gewaltausübung, die er auch mit der Axt in der Hand noch als Notwehr deklariert, weil ja der böse Kriegsflüchtling seine Heimat durch die reine Anwesenheit schädigt und am Ende genetisch verwässert? Glaubt er nicht in einer Art Hexenwahn an die Weltverschwörung, deren Urheber er trotz industriellem Genozid und bewaffnetem Volkszorn nicht ausgerottet bekommt? Sperrt er sich nicht manisch dagegen, dass man seine Gewaltausübung hinterfragt, wenn irgendein Soziopath ein Dutzend Menschen abknallt, während die Polizei genervt ist, dass sie nachts ausrücken darf? Und beharrt er nicht darauf, dass Gewalt als solche nicht missverstanden wird und sich daher schon selbst rechtfertigt?

Alles das wirft der angeblich gesittete Germane den Fremden vor, etwa ein antiquiertes Denkmuster von Ehre und sozialem Rollenverständnis, das in Kapitalverbrechen endet – begeht er selbst Mord und Totschlag, meist Femizid oder Selbsttötung in erweitertem Rahmen, bauscht er seine Opferrolle post mortem zur Familientragödie auf, als hätte es in letzter Verzweiflung keine andere Möglichkeit gegeben, als den ehernen Gesetzen symbolischer Gewalt zu gehorchen. Einen Ehrenmord würde der Rheinländer ja nie verüben, mutmaßlich mangels vorhandener Ehre.

Interpretieren wir Gewalt als kommunikativen Akt, der durch Symbolkraft an Bedeutung gewinnt, wird auch klar, dass beispielsweise Racial Profiling als bedauernswerte, aber letztlich nur pragmatische Handlung zur Sicherheit der Mehrheit durchgesetzt werden muss, egal, was nun in diesem Grundgesetz wieder drinsteht. Ruft eine faschistische Tunte vor dräuender Umvolkungsgefahr dazu auf, dass das Deutschtum männlicher werden müsse, liefert das Heldenideal bereits Feindbild und implizite Freund-Feind-Raster mit, aus denen jeder den Auftrag zu stochastischem Terrorismus heraushören kann, der aus der herbeifantasierten Wehrlosigkeit des Staates die Anwendung von Gewalt durch kriegerische Eliten ableitet. Dies mündet im Paradox, dass die Reichshackfressen ihre eigene Staatsgewalt gegen den nicht existierenden Staat ausüben wollen.

Und so haben auch hoch entwickelte Staaten hinreichend Erfahrung mit einem Gewaltkontinuum von sozialer Ausgrenzung, Fremdkategorisierung, Entmenschlichung bis zur Versachlichung, die den Völkermord als logistische Leistung anerkennt, die nur deutsche Experten so reibungslos auf die Kette gekriegt hätten. Gewalt ist also keine Ausnahme der ansonsten friedlichen Gesellschaftsordnung, dient nicht eben selten zur Stabilisierung vorherrschender Werte und des Normalzustandes, der scheinbar von außen durchbrochen wird, wenn die Wirklichkeit sich wieder nicht an die Hausordnung hält. Wir haben die Destruktivität bereits so verinnerlicht, dass wir ihre Folgen als alternativlos markieren und von Opfern eine Entschuldigung verlangen. Nicht nur ungezügelte Aggression, auch die zwanghafte Unterordnung, die keine Macht verleiht, zerstört. Darum ist unsere größte Bedrohung derzeit der gewaltlose Protest, sich auf die Straße zu kleben. Wer duldet schon Ethik, der sie selbst nicht hat.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DCXXXVIII): Die Trägheit der Dummen

28 10 2022
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Die poröse Stelle an der Höhlendecke war Rrt schon seit längerer Zeit ein Dorn im Auge gewesen. Was, wenn der beständig herabtropfende Niesel die ohnehin brüchige Struktur herauslöste und in die Tiefe stürzen ließe? Natürlich war der Platz an der Feuerstelle begehrt, auch hatte der Sippenälteste wenig Lust, sich von der mit Jagdszenen anmutig geschmückten Wand zu entfernen, die gleichzeitig bei gutem Wetter ein laues Lüftchen und Wärme im Winter bot. Er machte also Gebrauch von seiner Richtlinienkompetenz und entschied, dass nichts geschehen solle. Satt und schläfrig lag er auf einer Lage Bärenfell, als leises Knistern einsetzte. Wenig später bollerten ein paar Tonnen Gestein und Reste von Anhydrit auf den Alten, der sich schon in den ewigen Jagdgründen befand. Nicht mangelhafte Kenntnisse der Mineralogie hatten die Katastrophe befördert, sondern die bräsige Ignoranz eines wie immer nicht an der Umwelt interessierten Deppen, der letztlich für sein eigenes Schicksal und das der gesamten Sippe verantwortlich war. Die Trägheit der Dummen hatte wieder einmal gesiegt.

Es gibt viele Arten, auf die Herausforderungen der Zukunft zu reagieren. Manche beglücken die wehrlose Menschheit mit Hysterie, mit tumben Lügen, mit aggressiver Verleugnung, abhängig von Erkenntnisfähigkeit und Interessenlage. Ab und zu schlägt auch eins Profit daraus, entweder aus dem drohenden Unheil oder aber aus der Tobsucht der Menge und viele sind schlicht gelähmt, weil sie die Angst vor dem Unbekannten und seinen Folgen in Haft nehmen. Nichts aber ist so unverständlich wie die dusselige Ignoranz, die Phlegma und weißes Rauschen zwischen den Ohren erzeugen. Ja, es ist Pandemie, aber wir haben jedes Jahr Weihnachten in der Großfamilie gefeiert. Sicher, man merkt im Sommer die klimawandelbedingte Hitze, aber wie kommen wir denn sonst nach Mallorca? Der in Denken und Handeln verfaulte Honk aus der Mitte der Gesellschaft hält sein Abwägen zwischen den Chancen und Risiken bereits geschehener Havarien gar für vernunftorientiert und beweist messerscharf, dass ein Tempolimit auf deutschen Straßen ja gar nicht durchzusetzen wäre, denn sonst hätte man es längst beschlossen. Er hat die Ruhe weg, hält er sie doch für die einzig notwendige Bürgerpflicht.

Diese Bequemlichkeit, die sich allerlei Gründe zurechtschwiemelt, um aus dem Bezugssystem auszusteigen, betrifft dabei nicht nur den Einzelnen, sondern im Zweifel die ganze Menschheit, die mit der trägen Masse wie mit einem Gewicht um die Füße laufen muss, weil einige offensichtlich zu behämmert sind, um die Kausalketten zu kapieren. Nicht wenigen reicht ein einziges Motiv, das sie mit gewohntem Hirnplüsch entkräften oder gleich in die Richtung des Verschwörungsgelabers drücken, denn wer will sich schon nachsagen lassen, dass er seine eigenen Interessen verriete.

Dabei ist ἀκήδεια, die negative Verknotung von Begehren und Zorn, genau diese Selbstzerstörung, die eine ganzheitliche Lähmung erzeugt, und so hocken die dünn gestrickten Nachtjacken auch nicht einmal mehr wie das Kaninchen vor der Schlange, sie legen sich zur guten Ruhe und hoffen, dass der Weltuntergang schon nicht so schlimm wird. Ist die Dummheit ohnehin selten eine löbliche Eigenschaft und versteckt sich gern hinter der Absonderung von verbalem Bauschaum, die Gruppendynamik in der Krise verträgt intentionstransparente Bremser nicht, die gerade die Mutlosen noch davon überzeugen, dass ein Schiff, das mit ordentlich Schlagseite im Eismeer trudelt, erst ab einem Neigungswinkel von mindestens soundsoviel Grad verlassen werden dürfe, da alles andere die Konfrontation mit kalter Seeluft nach sich zöge. Es ist die Unelastizität, die auch dieses System aus Politik und Technokratie in einen Betonklotz verwandelt, auf dem sämtliche Kackbratzen bis zum Erbrechen diskutieren, ob auch ja alle Interessen von Staat und Wirtschaft in ausreichendem Maße berücksichtigt worden seien, bevor der Meteroit diesen zweifelhaften Planeten aus der Umlaufbahn befördert.

Möglicherweise ist der gesellschaftliche Gehalt an Schnarchschaben unter den Querkämmern schon ein verlässlicher Indikator, wie weit es noch sein kann bis zum Aufprall. Man könnte sie nutzen wie einen Kompass, der beharrlich nach Süden zeigt. Aber es ist komplexer, denn sie sitzen oft an den Schlüsselstellen von Macht und Verantwortung, wo sich die Gleichgültigkeit auf die Überlebenschancen der restlichen Menschheit direkt auswirken könnte, wenn man ihnen nicht im entscheidenden Moment das Messer an die Kehle setzt. Und nicht einmal dann wäre klar, ob wir uns aus der festgefressenen Situation befreien könnten, die uns die Knalltüten eingebockt haben, weil ihnen eine Flasche Bier, ein schnelles Auto, der Fernsehabend wichtiger waren, die Umgehungsstraße, der Grillabend mit jüngst infizierten Nachbarn, die Gasheizung, ihre billige Entschuldigung, die Gläubigkeit an die Errettung in letzter Sekunde, Zweifel an der Selbstwirksamkeit, Skifahren, Charity, das neue Smartphone, Bioobst und zehn Euro im Monat für arme Waisenkinder in Bangladesch. Es ist uns allen scheißegal. Wenn es kippt, haben wir ja immer noch die Opferrolle.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DCXXXIII): Die lügende Macht

23 09 2022
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Kunibert Ohnehose lief noch der Wein aus den Mundwinkeln. Er schwankte, rülpste hörbar in den Thronsaal und fing ansatzlos mit einer der sattsam bekannten Fantastereien an: ein kariertes Einhorn habe ihn mit Traubensaft abgefüllt, der zwischen Lipp’ und Kelchesrand plötzlich fuselte, so faselte der Monarch. Der Kronrat hatte genug. Seit Jahr und Tag wusste man, dass der König im Zustand heitersten Suffs gerne Bares vom Balkon hebelte, Gaukler zu Grafen und billige Mädchen zu Damen am Hof beförderte. Die Schwierigkeit bestand nur darin, dass sie ihn nicht absetzen konnten. Oder es nicht wollten, denn Wohl und Wehe, meist Letzteres lag in den Händen eines mächtigen Hofstaates, der sich einen versoffenen Feuchtbeutel hielt, um in seinem Windschatten ein angenehmes Leben zu führen. So mussten sie also die Hirngespinste des Regenten – Angriff aus Pumpolonien, eine neue Residenz im Kartoffelfeld von Bad Gnirbtzschen, Sondersteuer für den Vollmond – für bare Münze nehmen. Denn es waren keine gruseligen Ideen des irrenden Herrschers, sondern Einflüsterungen der Günstlinge. Und so zerstören die Lügen der Macht ein ganzes Land, das sich nicht entgegenstellt.

Die Lüge zieht sich durch die Geschichte als der Kitt bröseliger Diskrepanzen. Reiche und mächtige Männer befehlen über uns und üben Gerechtigkeit aus, weil sie reich und mächtig sind, in Wahrheit aber, weil irgendein Genomzonk mit höherem Arschlochlevel in früher Vorzeit Dörfer und Reiche zu Klump gehauen und sich deren Besitz unter die verpilzten Nägel gerissen hat. Es ist nicht in ihrem Interesse, Wahrheit und Aufklärung über die Menschen zu bringen. Und so heuchelt, täuscht und flunkert sich ein Establishment von einer Dynastie zur nächsten, denn Dreck haben alle am Stecken, und was kann eine Lüge besser verbergen als noch mehr Lügen. So verschwimmt allmählich die Grenze zur Wahrheit, mehr noch: die moralische Unterscheidung, ob und was man der Welt gerade als Tatsache auftischt.

In der Antike ersonnen, im Zeitalter der Medien zur Perfektion gebracht, hat sich die Propaganda als Kanal der dominierenden Meinung eine Autorität erschaffen, die auf stumpfer Wiederholung beruht. Nur wenig Variation ist erlaubt, um die gängigen Lügenmärchen auf niedermolekularer Ebene in die Hirnwindungen der Untertanen zu schwiemeln, die gleichgeschaltet nachplappern und marschieren, wo die Dummheit ihre Fahnen flattern lässt. Auch der vollkommene Verschwörungsmythos baut auf die Naivität der Dummdeppen, jede noch so dämliche und fadenscheinige Wirrnis inbrünstig zu glauben, zu verteidigen, am besten mit eigener Unwahrheit, und aus ihr heraus eine tiefere Weisheit zu ziehen. Was, wenn die Radfahrer wirklich unser Unglück sein sollten? Geht nicht die Sonne jeden Tag unter, weil die Klempnerinnung es befohlen hat? Ist nicht der Führer der Erlöser des Volkes, weil er ihm den Endsieg schenkt?

In der technokratisch regierten Welt, die sich als Parlamentarismus ein theoretisch unangreifbares System der Transparenz ersonnen hat, hat allein der Souverän in Gestalt der wählenden Bevölkerung die Macht und ist in der Lage, andere Ansprüche mit legalen Mitteln abzuwehren – theoretisch, denn die Kaste der Mächtigen überlebt noch die Bombe, bei der die Kakerlaken aufgeben. Um ihren Anspruch auf die fortdauernde Macht zu sichern, lügen auch sie, weil sie das eherne Gesetz der Konservierung von Herrschaft befolgen: sie nehmen für sich das Gesetz in Anspruch, halten sich aber nicht daran, während für die Untertanen das Gesetz gilt, das sie aber nicht in Anspruch nehmen können. So feiern sie rauschende Feste, versorgen sich mit Deals und Nebeneinkünften, setzen ihre Lobbyisten mit an den Verhandlungs- und den Kabinettstisch. Kippt das auf, geben sie scheibchenweise zu, was sich nicht mehr vertuschen lässt, schieben anderen dafür die Schuld in die Schuhe und suhlen sich in der Opferrolle. Der gemeine Bürger aber nimmt die Politik nur noch als Theatermaschinerie wahr, in der hin und wieder Knallchargen in der Versenkung verschwinden, während auf der Bühne immerzu das alte Stück weggenudelt wird. Wen wundert’s, dass der Souverän verdrossen das Parkett verlässt.

Letztlich zerstört die Lüge jede herrschende Macht; kann man das bei einem Diktator noch als gerechte Strafe für sein moralisches Fehlen sehen, ist es um ein demokratisches Gemeinwesen schon schlechter bestellt, wenn sich zwischen den aus Gewohnheit fabulierenden Ichlingen und der Rotte perfider Parallelexistenzen ein Schulterschluss ergibt, wer die Bürger am besten hinter die Fichte führt. Wie bei einer Währung ist die bindende Kraft nicht, was auf einem Stück Papier steht; der Kredit ist, was die Menschen an Glauben darin haben.

Es gibt nur eine Sache, die die moralisch schon komplett ausgeglittenen Darmleuchter nachhaltig übel nehmen: wenn nämlich Politiker sich trauen, öffentlich die Wahrheit zu sprechen und sich zu erklären. Das goutiert der Bescheuerte nicht, denn er weiß, wie oft und warum er selbst lügt. Die da gehören nicht zu ihm, denn die Welt will betrogen werden. Auch ein Machtanspruch.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DCXXX): Anstand

2 09 2022
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Der Kriegsgrund waren die Buntbeeren. Waren die Jungen noch voller Respekt vor dem Alter, so griff der Älteste in der Einsippenhöhle ungeniert in den Trog, in dem die Früchte lagen. Am ärgsten aber trieb es Uga, sobald nur noch ein paar saftige Beeren übrig waren auf dem Boden. Gerecht oder nicht, die Gier siegte über jeden Verstand, und so wurde er allmählich zum abschreckenden Beispiel für die kommende Generation. Vielleicht würden ja auch sie einmal das soziale Privileg des Alters an der Kalorienausgabe für sich beanspruchen. Vorerst jedoch begnügten sie sich, denn sie wollten keinen Verlust ihres Anstands kundtun. Wir hätte das denn ausgesehen.

Auf Anstand liegt der Jäger nur, damit er mit scharfem Auge entdecken kann, was nicht anständig ist. Schickliches Benehmen, kurz: was sich mit der gesellschaftlichen Stellung der Figur vereinbaren lässt, ohne es beanstanden zu müssen, entgeht den Schnöseln, nur ein Makel nicht. Und so ist es bis heute die Daseinsberechtigung der wohlanständigen Bürger, mit dem Finger auf die Fehler der anderen zu zeigen, damit die eigene Kaste sauber bleibe, achtbar, gediegen. Indes der Mangel liegt nicht im Detail.

So ist Anstand kein Wert für sich, sondern nur der durch Sozialisation in einer bestimmten Umgebung erworbene Kodex an Verhaltensweisen, die eine Person nicht als Außenseiter in einem moralischen Gerippe offenbaren – wer weiß, wie Moral aus zeit- und kulturabhängigen Stellgrößen zusammengeschwiemelt wird, so dass sich beinahe jeder schmerzfrei noch eine zweite leisten kann, der wird über die Verwendung des Begriffs kaum süße Illusionen haben. Gemeinhin verwechselt der reine Tor Anstand und Sitte in Unkenntnis dessen, dass mit dem korrekten Aufhebeln von Krustentieren die Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft bemüht wird und nicht die intrinsischen Wertvorstellungen des guten Menschen eine Rolle spielen, und so bleibt alles in schönster Harmonie: die akzeptierte Moral spiegelt sich in der Verwendung des rechten Bestecks, die Ansichten des Freiherrn von Knigge werden auf hygienische Hacks heruntergebrochen, die fein in eine Tanzstunde passen, und schon bleiben die Anständigen wieder unter sich.

Pustekuchen. Es ist kein Wunder, dass in einem von Gier und Verrohung triefenden Zeitalter – der Effekt des Herabtropfens ist hier übrigens korrekt beschrieben, das Gesindel hockt an der Spitze der Gesellschaft – der Ruf nach Anstand lauter wird, gerade von denen, die die angeblich guten Sitten als Ausdruck tradierter Wertvorstellungen hochhalten. Wer sich schamlos bereichert, lügt und betrügt, dem wird mangelnder Anstand vorgeworfen, was genau bedeutet: wenn man schon auf den moralischen Vorstellungen der Gesellschaft herumkoten muss, dann doch bitte nicht öffentlich. Derlei Verhalten erregt öffentliches Ärgernis, und keiner will, dass es öffentlich sei.

Denn im Grunde ist eine ganze Gesellschaft verroht, wenn sich materiell unterfüttertes Streben nach Macht zum Konstruktionsprinzip entwickelt hat. Fordert eine auf die korrekte Inszenierung der Geschichte erpichte Klasse nun ordentliches Benehmen, ist es so, als habe man ja nichts gegen Wohnungseinbrüche, wünsche sie aber in seiner Nachbarschaft aus Lärmschutzgründen nur am frühen Nachmittag. Ausgewählten moralischen Prinzipien wird Genüge getan, man denkt dabei an die Allgemeinheit, sogar an die Kinder, ansonsten darf jede Schweinerei auf eigene Faust stattfinden. Sicher ist nur, dass vor allem privates Betragen eine gute Note erhält, weil Rocksaum und Haarschnitt wenig Anlass zum Skandal geben. Den Charakter aber zeigt es nicht, wie auch Höflichkeit, die täuschend ähnliche Schwester der Freundlichkeit, vor jeder Arschgeige artig knickst, bevor sie ihr eins über die Rübe zieht.

In einem Gemeinwesen, das sich, ganz auf die Außenwirkung bedacht, eine preziöses Fassade vor die Fratze hält, ist die Sittlichkeit längst zu einer lächerlichen Übung geronnen, zur kategorischen Invektive gegenüber der praktischen Vernunft. Wie das Böse als Freiheit verstanden wird, und so wird es verstanden, besteht der Umgang des Menschen mit sich selbst nur aus Etikette und Schwindel, was als identitätsstiftendes Zeichen jedoch immer schon genug war. Die Hauptsache ist, wir werden dabei anständig verladen und kriegen ordentlich eins auf die Mütze. Inzwischen hat sich die Kinderstube bis auf das Terrain der Kriegsdiplomatie ausgeweitet, und mit stilisiertem Entsetzen blicken wir auf das Unzivilisierte, als könnten wir es bannen. Wer mit dem Finger zeigen kann, reklamiert noch immer den Anstand für sich, die Moral, die Sittlichkeit. Immerhin bleiben wir innerhalb unserer üblichen Wertvorstellungen, und es ist immer gut, wenn sie nicht einer aus dem Wandschrank holt, der sie auch verstanden hat. Wie praktisch, dass das so selten geschieht.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DCXVII): Der zurücktretende Politiker

3 06 2022
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Wahrscheinlich haben die Menschen alles schon gesehen, den Zyklopen auf dem Einrad, einen Kardinal mit Kind und Kegel oder den Liberalen, der eine ganze Tasse im Schrank hat. Nach ein paar Jahren jedoch verblasst die Erinnerung, wabert ins Ungefähre und wird zum Mythos, mit dem man die Erzählung des Stammes auf ein neues Niveau hievt. Wie allerdings Minister aussehen, die sich nach dem Fund silberner Löffel in ihren Hosentaschen ohne Ehrenwortspielchen vom Acker machen, ist seit kurz vor der Erfindung der Höhlenmalerei nicht mehr bekannt. Warum ist uns der zurücktretende Politiker nicht wenigstens als moralische Figur in der Gesellschaft erhalten geblieben?

Kurze Antwort: da es keiner moralischen Figur mehr bedarf, wo die Gesellschaft auf Moral pfeift. Wir haben uns über einen längeren Zeitraum damit abgefunden, dass die angeblichen Lichtgestalten, denen wir die Verwaltung dieses Landes auftragen – von Führung spricht ja keiner mehr, seitdem wir die Ansammlung von EEG-Nullkurven als Kanzler präsentiert kriegen – die Bürger repräsentieren, die außer ‚Weiter so‘ oder ‚Mir doch egal‘ nicht viel intellektuelles Postulat zusammenzuschwiemeln bereit sind, auch nicht mit der Knarre am Kinn. Die Einäugigen entfernen vorsorglich dem einzigen Blinden in ihrer Mitte auch noch das Gehirn, damit er sie nicht überfordert. So funktioniert heute die Demokratie, über die sich alle beschweren, dass sie heute nicht mehr funktioniert.

Wir hatten in der jüngeren Geschichte eine gute Anzahl an Mehlmützen, die sich nach einer Runde im Ring verabschiedet haben, Weichlinge, denen das Amt über den Kopf wuchs, Hobbybrezeln mit Ambitionen jenseits der eigenen Intelligenz, selten die wenigen Frauen, denen man mit Kinkerlitzchen kam, die ihre testosterongeschwängerten Kollegen als Beweis für ihre Schmerzbefreiung genommen hätten. Ab und zu musste eins aus Überzeugung die Brocken hinschmeißen, selten protestierte ein späterer Präsident gegen die Wiederbewaffnung der Betonregierung. Ansonsten umgab die Diener der Herren, die sich als Herren der Diener empfinden, der selbstgehäkelte Nimbus der Unfehlbarkeit, Jahre vor Merkel teflonisiert mit dem Extrakt von Geschichte und Missachtung der Wähler, die als Souverän im politischen System eh die Last der Missachtung mit sich schleppen. So kann jede dahergelaufene Namensansammlung mit ohne Berufsabschluss die Sänfte ordern, die zum Schafott führt, oder der kernkorrupte Lackl aus der königlich-bayerischen Korrekturanstalt, die die Soziopathen als aktive Biowaffen ins Bundesgebiet schickt, um zu testen, wie viel Kohle ein einziger Blödföhn in der verhassten BRD GmbH abfackeln kann. Die Beispiele, wie viele Minions trotz kaum sichtbarer Eignungen die Nähe der Verantwortung genossen haben, ist inzwischen Legion.

Denn Verantwortung ist komplett aus der Mode gekommen. In früheren Zeiten haben Politiker das Amt schon dann zur Verfügung gestellt, wenn sich unter ihrer Führung bräsiges Personal mit seinen Schnapsideen selbständig gemacht hat – haben die Mäuse auf dem Tisch getanzt, kriegt halt die Katze eins vor dem Latz. Reichte es früher noch, als Verteidigungsministrant in Badehose zu posieren, muss man heute Machtmännlein, die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ausplaudern, Polizeigewalt beim Erzeuger ordern oder einen Maskendeal für Freunde und Familie organisieren, um sich von der Kohle Villen zum Schnäppchenpreis zu kaufen, als normale Vertreter einer ganz normalen mafiösen Branche sehen, die immer mal wieder die asozialen Arschgeigen nach oben spült, um auszutesten, was man dem Volk noch zumuten kann, bis jemand dem Hohlschwätzer unter Applaus ein Kantholz in den Rüssel schiebt.

Wir haben mit der Umformung der Gesellschaft auf ein konkurrenzorientiertes Rattenrennen auch die Umwertung aller Werte erlebt, von denen die Repräsentanten der Verfassung scheint’s nichts wissen wollen, da sie ihren persönlichen Begierden im Weg stehen. Böse ist Gut, Dumm ist Schlau, und als käufliche Kasperade hat man einen einklagbaren Anspruch, dem Volk das letzte Hemd auszuziehen – so die Ambition derer, die sich selbst für wesentlich halten, nicht aber ihr Amt. Die Geschichte wird es nicht kümmern, welche Schranzen sich durch sie hindurch barzeln und barscheln, Hätte man früher die Möglichkeiten gehabt, die akademischen Grade der Herrschaften auseinanderzupopeln, die Karriere mancher Schreihälse wäre leiser abgesoffen.

Immerhin haben wir heute zur Kompensation der gröbsten Auswirkungen, die uns das Peter-Prinzip beschert, eine Patentlösung: das Prinzip ist seine eigene Therapie, mit der die Querkämmer auf irgendeinen Posten gehievt werden, auf dem sie nicht mehr viel Schaden anrichten können, oftmals bei fürstlicher Besoldung und ohne jegliche Folgen in Bezug auf ihren vorherigen Griff ins Klo. Auf diese Art lernen die Schimmelhirne nie, wann es wirklich vorbei ist, und alles beginnt wieder von vorne. Wie ulkig wäre es, ein Minister träte heute zurück, weil er die Putzhilfe seiner Frau aus öffentlichen Geldern gezahlt hat. Wie altmodisch.





Vorläufige Bilanz

27 03 2022

für Erich Kästner

Wir sind so weit. Die Welt geht aus den Fugen.
Wir haben den Planeten fast zerstört.
Noch gelten die Bedenken, die wir trugen.
Es ist nur nicht geklärt, wem was gehört.

Der Eigennutz ist groß, uns zu beschützen.
Wer hungert, den schießt man am besten tot.
Der Fortschritt soll zu guter Letzt auch nützen.
Wen wir nicht sehen, der ist nicht bedroht.

Was nützt die Utopie, es sei die Erde
mit etwas Freundlichkeit ein Paradies?
Die Schafe bleiben immer bei der Herde.
Am Boden liegt nur, wer nicht selber stieß.

Wir rechnen ab. Sind wir nicht weit gekommen?
Ein Strich darunter, und dann ist schon Schluss.
Ein jeder hat sich möglichst viel genommen,
was nicht bedeutet, dass er zahlen muss.

Wir rechnen ab. Natürlich sind Verluste
recht ärgerlich. Nie schafft man etwas ganz.
Es kommt nicht darauf an, wer wann was wusste.
Wir rechnen ab. Und hier ist die Bilanz

Wir zahlen – manche mit dem nackten Leben,
mit Kleingeld, mit der Würde, oft mit Blut.
Die Welt ist nicht gerecht. Das soll es geben.
Woran es lag? die Menschen sind nicht gut.

Die gute Nachricht: es wird Menschen geben.
Bestimmt lebt in der Zukunft manches Kind.
Die schlechte Nachricht: die es überleben,
sind auch nicht besser, als wir heute sind.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DLXXIX): Der menschliche Algorithmus

5 11 2021
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Mit dem Gebrauch von Werkzeugen, mutmaßt die Biologie, beginnt bei Lebewesen die Intelligenz, die das Begreifen der Erfahrung mit dem Ableiten von Beziehungen und Zusammenhängen verbindet: je länger das Hölzchen, das der Spechtfink sich in den Schnabel klemmt, desto besser wird er Futter aus der engen Röhre stochern. Hat er erst einmal gelernt, wie sie die Gerätschaft benutzt, wird er auch lernen, was sich dazu eignet, gemessen an der Menge der erbeuteten Insekten, am Erfolg seiner Geschicklichkeit und deren Wirkung, die sich dann evolutionär fortentwickelt. Mag ein herumliegender Kaktusstachel den Sperlingsvogel erst zu seiner Leistung gebracht haben, er erschließt sich durch die geistige Durchdringung seiner Umwelt einen Vorteil, der zunächst seinen Trieb befriedigt, damit dann das Überleben der Art sichert. Bis hinauf zu den Primaten, die von dünnen Röhrchen Termiten lutschen oder mit flachen Steinen Muscheln und Nüsse zerschlagen, scheint sich der Gebrauch des Dings zu steigern, bis auffällt, dass der Afrikanische Elefant gezielt Gegenstände in einem Elektrozaun wirft, um einen Kurzschluss auszulösen. Ab da ist der Weg in die künstliche Intelligenz nicht mehr so weit, die neben der Erfahrungsverarbeitung auch die Fähigkeit des logischen Schließens erfordert und den Menschen nachahmt, wie er sich durch die Entscheidungsfreiheit getrieben mit den Problemen des Daseins auseinandersetzt. Sie ist zum Scheitern verurteilt, dafür sorgt der menschliche Algorithmus.

Haben wir uns mit Regeln und Einschränkungen eine Sozialstruktur zurechtgeschwiemelt, den Markt und etwas, das man als System bezeichnen kann, so spielen uns allerhand kleine Befindlichkeiten im täglichen Handel und Wandel in die Hände. Die Ware wird zu genau dem Preis angeboten, der der Nachfrage entspricht; ab einer gewissen Menge ist ein Rabatt kalkulierbar, es sei denn, es handelt sich um einen Käufer, der tatsächlich schon immer die Ware beim Händler bezog und auch nicht nur diese eine Ware, denn dann greift der Abschlag vielleicht schon ein bisschen früher. Ist der Kunde aber ein Zwischenhändler, der prozentual an der Summe beteiligt wird, was spräche dann für den Verkäufer dagegen, den Preis schlankerhand zu erhöhen? Sie einigen sich auf eine Wettbewerbsverzerrung, die nicht im Sinne des Marktes ist, aber zwei von drei Teilnehmern nicht schadet. Cui bono?

Der Einsatz von Rechnern zur Automatisierung des Preisgefüges ist längst die Regel, sei es bei Schnittblumen auf dem Großmarkt oder Kraftstoff an den Zapfsäulen, wo die Zahlen je nach Menge des verfügbaren Guts und Nachfrage von einem Ausgangspreis steigen und fallen, wenn das IT-Konstrukt innerhalb der eigenen Dunkelkammer die Prognosen trifft, wo der größtmögliche Gewinn sich innerhalb der regelnden Grenzen erzielen lässt. Allein die intelligente Software hat längst gelernt, die Faktoren intelligent zu manipulieren oder ganz auszublenden: die Preise steigen, weil sie die Reaktion der Konkurrenten antizipieren, in schöner Gleichmäßigkeit mit eben den Mitbewerbern, die sie aus dem Weg räumen müssten, um sich am Markt zu behaupten. Zwar streicht ein Konzern mehr ein als ohne Synchronisation dieser Effekte, doch letztlich zocken sie alle den Verbraucher ab, der kaufen kann, wo er will. Ausgenommen wird er am Ende überall, und zwar von der KI.

Der menschliche Algorithmus ist der Fluch seiner eigenen Entwicklung, denn er basiert im Gegensatz zur naiven Vorstellung der Bekloppten nicht auf moralischen Grundsätzen. Wie auch. In die Bredouille, auf einem ramponierten Planeten zu hocken, den eine Rotte geldgieriger Arschgeigen mit Technik retten will, die gegen Naturgesetze verstoßen muss, um zu funktionieren, haben uns nicht die Maschinen gebracht, sondern Knalltüten, die sie als Ausfluss von etwas feiern, was sie mit Intelligenz verwechseln. Moral ist ohnehin nur ein Konstrukt, die Maschine hat kein Problem damit, nach festgelegtem Regelwerk zu entscheiden, wen sie übermangelt und für wen sie bremst. Kommt der Mensch ins Spiel, und sei es metaphorisch, wird es eng. Wir haben als Nutzanwendung der Ethik stets Vor- und Nachteile abgewogen, aber nie Eigennutz gegen Gemeinnutz, weil technischer Fortschritt nur für den Eigennutz des Marktes denkbar ist, auch wenn plötzlich das gemeine Volk vom Aussterben bedroht sein könnte, sobald es nicht mehr mit 230 Sachen in die Leitplanke möllern darf. Algorithmen ahmen den verantwortungsbefreiten Utilitarismus des Nutzenkalküls nach, das vor allem den Gewinn maximiert, das Gemeinwohl nonchalant ausblendet und die Kosten nach unten durchreicht. Wer hier Werteobjektivität erwartet, zeichnet sich durch eine außerordentliche Putzigkeit aus oder betreibt selbst das System.

Uns bleibt ein Fluchtweg, der jeden guten Plan zunichte macht: die natürliche Dummheit, die noch jede Intelligenz gebremst hat. Algorithmen, die den Kunden ausdauernd mit Werbespam für Matratzen vollschmeißen, nachdem er sich gerade erst eine Matratze gekauft hat, sind nicht die Ausnahme, sie sind der Normalfall. Die Geschäftsbeziehungen regelt dann meist der Markt.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DLXXXVI): Vom richtigen Leben im falschen

15 10 2021
Gernulf Olzheimer

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Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Die Situation ist unübersichtlich: kein Komet am Himmel, die Erde tut sich nicht auf, Leviathan lässt auf sich warten. Nur die Flüsse steigen über die Ufer, während die Felder verdorren, der Sand wird knapp und es gibt so viele Jobs, dass manche von ihnen gleich drei haben. Es seufzen die Lenker der Staaten und lehnen sich verdrießlich zurück, da ihnen auch nichts einfällt. Sie müssen zusehen, wie alle ihre Absichtserklärungen zu Asche zerfallen, tatenlos natürlich. Am Ende werden es die Leute sein, dieses schwer erziehbare Volk von Menschen, das noch immer Plastikverpackungen kauft, weil es billige Discounterschnitzel nun mal nicht gleich in die Manteltasche gibt. Es ist schlimm, aber nicht ausweglos, der Schuldige ist gefunden: wir sind es. Wir, die ein richtiges Leben versuchen im falschen.

Wie man den Berufspendlern den Stau in die Schuhe schiebt, weil sie an der stillgelegten Bahnstrecke wohnen und ihre Autos nicht einfach für den Klimaschutz stehen lassen, so macht man uns weis, wir seien das System. Daneben übt sich die Politik in milder Enttäuschung, wo immer ein Kreuzfahrtschiff dem Reiseveranstalter Gewinne verschafft und dennoch wie vorhergesehen die Luft verpestet – sie täten ja gerne etwas, aber sie können nicht. Es liegt am ungeheuren Bedarf, und wer würde schon verbieten wollen, was so beliebt ist? Unsere Wirklichkeit passt nicht zu den Ansprüchen, die wir haben sollen, wie sie uns der Zeitgeist in die Rübe schwiemelt. Es gibt da ein gesellschaftliches Ideal, und doch gibt es den Sachzwang, in dem das Leben stattfindet. In dieser Spreizung stecken wir fest, und es ist kein schöner Anblick, wenn wir das große Ganze sehen. Wie schon in den traditionellen Mythen zur Lenkung systemstabilisierender Ethik erprobt lässt sich nichts besser instrumentalisieren als nachhaltig erzeugtes Bewusstsein, eine Sünde begangen zu haben. Einmal geboren, zack! alles falsch gemacht. Warum soll sich der korrupte Dreckrand ein anderes Deckmäntelchen umhängen als das bequeme Christentum?

Gerade vor dem Leistungsgedanken, den der Kapitalismus neu definiert – die konsumistische Konfession bekennt zuerst den Glauben, sich alles leisten zu können – bleibt auch das Versprechen auf einen Aufstieg gefangen: die Unterschicht wird sich bald so viel leisten können wie die Mittelschicht, die sich wird leisten können, was die Oberschicht besitzt. Scheuklappen weg, auch Geltungskonsum schützt nicht davor, als weißes Rauschen in die Geschichte der Hirntätigkeit einzugehen. Auch der gezielte Kauf kostspieliger Produkte ist noch keine Absolution; solange die Designernietenhose aus demselben Stoff an derselben Maschine von demselben Kind gefertigt wird wie die Jeans für den Billigheimer, die nur etwas weniger als fünf Prozent der Protzklamotte kostet, solange kann sich der liberale Wurstverkäufer in eine Körperöffnung nach Wahl predigen, wenn er Arbeitslosigkeit als Chance auf eine individuelle Neuerfindung preist oder Armut als sozial erwünschtes Gegengewicht für eine Kaste, die ihre verschissene Randexistenz ohne Flugmango für das hält, was sie in Wahrheit längst ist: überflüssig wie Brechdurchfall beim Drahtseilakt. Askese als Pfad der Erkenntnis wird vor allem dem Armen empfohlen. Vermutlich sind andere für spirituelle Impulse eh nicht mehr zu begeistern. Oder für Ethik. Oder die Menschheit.

Ob mit oder ohne gründliche Entsolidarisierung durch den Fokus auf die individuelle Schuld an der gesellschaftlichen Entwicklung frisst sich ein Gesinnungsterror durch die prekären Schichten, der die eigene Verkettung in die Phänomene noch viel gründlicher verdrängt, als es die nutznießende Elite könnte. Sie teilt und lässt herrschen, vornehmlich von den kultivierten Kräften der Gier, die sich so unerhört produktiv ansteuern lässt durch Werbung, Spaltung, Angst, kurz: alles, was den Trieb ihrer intellektuellen Überformung durch die Zivilisation entledigt. Wir werden Mittäter, Kollaborateure, Ausnutzer, wo unsere Entscheidung alternativlos ist und nur der eigenen Rechtfertigung dient. Bald ist Armut der neue Reichtum – die Pseudoeliten der Bourgeoisie neiden den Erwerbslosen ja schon ihre Zeitsouveränität und würden sie am liebsten acht Stunden lang in die Tretmühle zwingen, auch wenn dann keine Zeit mehr bliebe, sich um die Arbeit zu bemühen, die es ohnedies nicht mehr gibt – und nur der Gedanke an die Umsätze des Einzelhandels ist noch im Weg, dass man dem Prekariat den Konsum kategorisch untersagen würde. Irgendwie muss das Pack überleben, sagt sich der Kapitalismus, womit allerdings nicht die Kunden gemeint sind.

Die humane Konditionierung lässt nur wenige Wahlmöglichkeiten. Ohne Revolution sind alle an den bestehenden Verhältnissen schuldig und also trefflich erpressbar. Wer mittwochs nach sechs eine Flugmango wollte oder zu Weihnachten für den Nachwuchs unbedingt eine Spielkonsole, der trägt die gleiche Schuld. Die einen werden schweigen, grinsend vermutlich, weil sie wissen, dass sie in diesem Klassenkampf die Opfer werden schlachten können. Die anderen schweigen ebenfalls. Im Sinne einer nachhaltigen Lösung wäre es nicht verkehrt, die Positionen einmal zu überdenken.





Des Königs Schnupftabakdose

18 07 2021

Die Schlacht von Kunersdorf, sie führt den König
nach Kunovice, wie das Dorf doch hieß.
Hier warteten des Preußen gar nicht wenig,
den vor dem ersten Schuss der Mut verließ.

Der Tag hub an mit einer Kanonade,
und Friedrich, statt er sich damit begnügt,
gerät in eine feindliche Parade,
worauf sich jählings eins zum andern fügt.

Zwei Pferde wurden unter ihm erschossen,
wie man von beiden Seiten ihn bedrängt.
Er aber schreitet, reitet unverdrossen,
bis er sich selber eine Kugel fängt.

Da rutscht den Generälen in die Hose
das Herz, das ihnen unter Friedrich blieb.
Wie ein Mirakel traf es jene Dose,
die trug er stets im Rock und hielt sie lieb.

Darinnen stak die Kugel – unbeschädigt
stand er vom Boden auf und sah aufs Feld:
ins Hühnerfließ gedrängt und schon erledigt,
mehr blieb ihm nicht. Es brannte eine Welt.

Die Tabatière, wenn die Gewehre zielen,
sie war im Weg dem Schuss. Kein Blut floss rot.
Doch war’s für die Soldaten, die dort fielen,
für fünfunddreißigtausend Mann der Tod.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DLXI): Freiwillige Selbstverpflichtung

23 04 2021
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Schon im frühen Mittelalter soll es sehr liberal zugegangen sein. Pippin der Mittlere, Hausmeier von Burgund, setzte stets auf eigenverantwortliche Untertanen, denen er sicherheitsrelevante Bereiche der Königsburgen zu Schutz und Verteidigung überließ, indem er ihnen erklärte, dass er im Falle der Pflichtverletzung überhaupt keinen Spaß mehr verstehen würde. Ein brennender Wehrturm, zehn bis hundert feindliche Reiter im Burghof – Rübe ab, und zwar sofort. Kontrolle, das wusste der alte Arnulfinger, ist nur besser, wo Vertrauen herrscht. Nur ab und zu musste er durchgreifen, dann aber mit der zeittypischen Zielstrebigkeit, bei der auch enge Verwandte nicht lange im Weg standen. Die Geschichte, das wusste der Urgroßvater Karls des Großen, würde alles schon richtig einordnen. Die Lehensleute und ihr Gefolge hätten ja genau gewusst, worauf sie sich einlassen würden bei einer freiwilligen Selbstverpflichtung.

So ähnlich funktioniert das Controlling in einer durchschnittlichen Studierenden-WG: zwei bis drei oder mehr verantwortungsbewusste Personen haben die Notwendigkeit verinnerlicht, die Küche und die sanitären Anlagen je nach augenscheinlich eruierten hygienischen Befunden zu säubern, um den Befall mit Ungeziefer oder Kammerjägern vermeidbar zu machen. Der Prozess wird als zeitnah einsetzend bezeichnet und soll möglichst sanktionsfrei gegen die Wohnenden durchgeführt werden. Historische Forschungen zur Motivation haben ergeben, dass sich dieses System sukzessive etabliert hat, als der seit Jahrzehnten gebräuchliche Putzplan endgültig sinnlos geworden war und seine Verankerung im sozialen Gefüge der angehenden Akademiker total eingebüßt hatte. Lebensrhythmus, die psychische Bereitschaft sowie die Akzeptanz eines Stimulus-Response-Modells in der Bedingtheit eines auf die autoritären Wurzeln der bürgerlichen Wohnweise beschränkten Rollenverständnisses brachte die Sache zu einem Kipppunkt: Putzen ist für Nazis.

So sieht es in dieser Gesellschaft auch aus. Da überraschenderweise Machtverhältnisse auch sind, wo man sie erwartet – ein Minister lässt Gesetze erarbeiten, die Wirtschaft wird davon in ihrer freien Entfaltung eingeschränkt – ändert sich auch die Tragweite dieser Pflichten. Fadenscheinig und nicht selten irreführend werden die Beziehungen, wenn sich zeigt, wer wen beherrscht. Gibt der Ministrant den Konzernen das Muster einer verschwiemelten Verpflichtung vor, das diese aus freien Stücken abnicken und ansonsten ignorieren dürfen, dann ist weder ein Rechtsanspruch entstanden noch eine bindende gesetzliche Regelung, die der Gesellschaft Sicherheit gäbe. Die freiwillige Selbstverpflichtung gaukelt Verantwortung und Handlungsfähigkeit vor, wo sie jedes Handeln vermeidet und sich aus der Verantwortung stiehlt.

Was mit etwas Naivität betrachtet noch den Eindruck von Rechenschaft erweckt, ist nicht viel mehr als ein billiger PR-Stunt. Kükenschreddern und Ferkelkastration, Ausstoß von Stickoxiden und Abbau des fairen Handels, der Kleiderschrank mit den Schutzmäntelchen ist gut bestückt und deckt eine Menge übler Lügen zu, die die Politik offiziell nicht bekämpfen kann, weil der Gegenstand sich außerhalb ihres Zugriffs befindet, oder kaum mehr wird bekämpfen können, weil sich die Folgen des Versäumnisses längst zur Havarie entwickelt haben. Die Frauenquote und den flächendeckenden Einsatz von Schulhunden mag man lässlich finden in einer Welt, deren Wirtschaft die Menge des anfallenden Plastikmülls in den Meeren für nicht so gravierend hält, solange der Tourismus davon verschont bleibt, wo aber Protzkarrenbauer statt des versprochenen Drei-Liter-Autos Straßenpanzer vom Band rotzen und ihre Brüder von der Braunkohlelobby die bis zu zwanzig Prozent veranschlagte Reduktion des CO2-Ausstoßes als Freibrief zum Tiefschlaf versteht – Nichtstun ist ja auch irgendwo zwischen 0 und 20 – haben wir die Reinform der lobbygesteuerten Schuldumkehr erreicht.

Wie viel Lächerlichkeit in derartigen Kodizes steckt, sieht der geneigte Realitätsallergiker, wenn die Abgeordneten einer Regierungspartei freiwillig zu beteuern gezwungen werden, sich nur legal die Taschen gefüllt zu haben. Wer nichts zu verbergen hatte, hätte auch keinen Grund gehabt, sich lauthals zu beschweren; wer den Schwanz einkniff und als Lügner auffiel, sorgte nur im Glanz der übrigen Scheinheiligen für bigottes Empörungsgepopel. Der Zweck einer ethischen Maskerade bleibt also die billige Präventiventlastung, damit keiner mehr für den Mist gerade stehen muss, den er in Amt und Würden verursacht hat. So schaffen sich Politik und Wirtschaft gemeinsam rechtsfreie Räume mit zwei separat benutz- und verschließbaren Ausgängen, um ein Vakuum an Einfluss, Zuständigkeit und Moral zu erzeugen, wann immer sie es brauchen. Bis auf Weiteres werden Küken geschreddert, Öl in den Ozeanen verklappt, Wälder für überflüssigen Kohleabbau abgeholzt und Boni an Bänker gezahlt, die die höchsten Umsätze mit Schwarzgeld machen. Nur als Supermarktangestellte sollte man besser keinen Kuchen mitnehmen, der in den Müll gehört. Aber das versteht sich ja wohl von selbst.