Und verstehe die Freiheit

29 01 2014

„Meine Güte, jetzt kann ich es bald nicht mehr hören!“ „Wem sagen Sie das. Ewig diese Bilder von den Demonstrationen.“ „Und die Polizei, und die Barrikaden und die Straßenschlachten, das ist doch nicht mehr zu ertragen!“ „Und dann diese – ach, was rege ich mich auf.“ „Also mich regt das aber gewaltig auf, das können Sie mir glauben.“

„Mal ehrlich, ich frage mich nämlich langsam mal eins: was ist denn da eine Verfassung noch wert?“ „Sicher nicht das Papier, auf dem sie geschrieben wird.“ „Genau, und dann wird sie auch noch frei Schnauze, ich sage mal: ausgelegt.“ „Wozu diese Zimperlichkeiten, Herr Nachbar? Verbogen wird sie. Zurechtgestutzt.“ „Sie sagen es.“ „Gebeugt, bis sie bricht.“ „Eben, das ist der Punkt – es sind doch nichts anderes als Verfassungsfeinde, das sieht man sofort!“ „Und wehe, man sagt ein Wort dagegen.“ „Jawoll, sofort die Keule. Wir sollen uns nicht einmischen, wir haben da gar nichts zu melden, das sind innere Angelegenheiten.“ „Ich kann’s schon nicht mehr hören.“ „Ich auch nicht, das können Sie mir glauben.“

„Aber ich frage Sie, da ist doch etwas verrutscht in der öffentlichen Wahrnehmung.“ „Sie meinen die mediale Berichterstattung?“ „Nicht nur. Teilweise. Es geht um das, wie soll ich sagen: das öffentliche Bild von öffentlicher Gewalt.“ „Also die Diskussion über das dialektische Verhältnis über die Grenzen des…“ „Nein, das ginge mir schon einen Schritt zu weit. Ich würde niedriger ansetzen.“ „Bei der Sinnfrage oder bei der Frage, wie diese Gewalt entsteht und wohin sie führt?“ „Na, Sie haben ja einen ganz hübschen Überblick.“ „Man macht sich eben so seine Gedanken. Gesamtgesellschaftlich gesehen.“ „Wirklich, Respekt.“ „Ach was, wir haben damals in der Schule etwas darüber gelesen. Man hat ja seine Erfahrungen mit Volksaufständen, wissen Sie.“ „Ja, und es ist eben immer derselbe Grund.“ „Diese… darf ich mal sarkastisch werden, Herr Nachbar?“ „Selbstredend.“ „Dass es immer und immer wieder kleine, ideologisch vernagelte Grüppchen gibt, die sich einbilden, ihre Interpretation von Demokratie sei maßgeblich.“ „Das nenne ich Sarkasmus!“ „Ach, ist doch wahr.“ „Allerdings, allerdings.“

„Dann muss man auch über die Konsequenzen reden.“ „Oder vielmehr erstmal welche ziehen wollen.“ „Ja, natürlich. Wobei auch klar ist, dass beide Seiten das völlig gegenteilig bewerten.“ „Aber es dürfte jetzt doch feststehen, dass keiner so einfach wieder auf den Status quo zurückfallen kann, ohne sich lächerlich zu machen.“ „In der nationalen Politik?“ „Vor der Weltgemeinschaft.“ „Ja, das ist selbstverständlich zu bedenken. Wenn man sieht, dass es immer internationale Resonanz hervorrufen könnte, dann muss man schon auf die Verantwortlichen einwirken, dass sie nach einem kategorischen Imperativ handeln.“ „Man sieht da, wer wirklich Verantwortung übernehmen will.“ „Auch vor der Geschichte.“ „Und wem es im Grunde nur um seine eigenen Ziele geht.“

„Kennen Sie noch dieses Gedicht von Hölderlin?“ „Ach, das mit den Birnen?“ „Nein, dies mit dem Prüfen, und den Himmlischen danken, und verstehe die Freiheit.“ „Ja, das ist heutzutage so ein individualistisches Problem. Es gibt zu viele falsche Deutungen davon.“ „Sie würden also sagen, dass die Freiheit zuerst dem Staat dienen sollte?“ „Nein, der Staat sollte zuerst der Freiheit dienen. Sonst verraten wir ja unsere Ideale.“ „Hm, da ist was dran. Jedenfalls muss man auch immer die staatsrechtliche Sicht der Dinge berücksichtigen, das ist nun mal unerlässlich.“ „Aber man darf auch nicht die Perspektive der Generationen außer Acht lassen.“ „Richtig. Wir haben ja eine junge Generation, die zusehen muss, wie ihre Chancen durch die Alten langsam immer mehr zerstört werden.“ „Für ein bisschen trügerische Sicherheit.“ „Mammon.“ „Und die Illusion, dass ein in sich längst unbeweglich gewordener Staat noch die Aufgaben übernehmen könnte, für die man in installiert hat.“ „Das ist ja sowieso ein Wunschtraum, wer würde das heut noch behaupten. Man ist doch aus der Geschichte klug geworden.“

„Was mir jedoch besonders sauer aufstößt: diese ungebändigten Kräfte laufen ins Leere.“ „Das ist, ich kann es nicht anders sagen, auch geradezu kriminell.“ „Diese Planlosigkeit, ja. Man verteidigt sich doch nicht mit diesem kopflosen Geschrei, das wirft nun wahrhaft kein gutes Licht auf die Ziele.“ „Und auf die Durchsetzung der Ziele.“ „Also schlicht auf die Ideologie, die sich dahinter verbirgt.“ „Natürlich eine Frage der Macht.“ „Und der Ohnmacht.“ „Also wieder ein dialektisches Verhältnis.“ „Und wir sind ja nicht unschuldig an der Misere.“ „Weil wir einfach zuschauen, anstatt endlich klar Partei zu beziehen und zu sagen: halt, bis hierhin und nicht weiter, hier werden Menschenrechte massiv beschnitten, das kann sich keine öffentliche Ordnung gefallen lassen.“ „Aber Sie kennen die Menschen, sie sind bis zum Schluss vollkommen unbelehrbar.“ „Übrigens eine recht interessante Symbolik, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.“ „Stimmt, diese Umdeutung des Alltäglichen.“ „Die Klobürsten, also fabelhaft.“ „Wieso Klobürsten? Wo waren denn da Klobürsten? Wovon reden Sie eigentlich die ganze Zeit?“ „Vom Hamburger Gefahrengebiet, und Sie?“ „Na, von Kiew natürlich.“





Die Angstmacher

26 07 2010

Das Kind weinte. Hoch oben stand es mit zitternden Knien, zehn Meter über dem Schwimmbassin, und der Bademeister schrie höhnisch. Doktor Sparski nickte zufrieden und schloss das Fenster. „Die Jugend lernt schnell, mein Lieber. Wir werden die Preise kräftig erhöhen müssen, sonst rennen Sie uns bald den Laden ein.“ Und er führte mich durch den langen Korridor im Obergeschoss des Instituts.

„Angst“, dozierte Sparski, „ist allgegenwärtig. Aber man muss natürlich etwas davon verstehen.“ Ich musterte ihn, einen kleinen, etwas korpulenten Mann mit schütterem Haar und dicker Brille. Er bewegte sich ruckartig und schielte nervös an den Dingen vorbei. „So“, erwiderte ich ironisch. „Man muss etwas davon verstehen. Das ist wohl typisch deutsch – die Sache als Wissenschaft betrachten, dann hat man immer Recht, gleichgültig, was am Ende herauskommt.“ Ungerührt öffnete er die Glastür, die den Gang mit dem Südflügel des Gebäudes verband. „Angst ist komplex, und da wir sie nicht ausschalten können, müssen wir uns näher mit ihr befassen. Dann werden wir sie verstehen. Und können besser mit ihr umgehen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas.“ In dem Raum saßen einige Männer und Frauen an Tischen und blätterten sich durch Papierberge. Sparski griff sich einen Stapel und hielt ihn mir hin. „Rechnungen, Mahnungen, eine fristlose Kündigung. Eine Vorladung, es steht eine Zeugenaussage bevor, Sie wissen nicht genau, worum es sich handelt. Eine Behörde setzt Sie unter Druck, Sie wissen nicht genau, welches Dokument Sie eigentlich beibringen sollen, aber der Brief ist herrisch und droht Ihnen mit empfindlicher Strafe.“ „Das ist ja kaum realistisch zu nennen“, wandte ich ein, doch er schüttelte den Kopf und schmunzelte. „Doch, durchaus. So ist es nun mal, wenn Sie ganz unten sind. Da nimmt man auf Sie keine Rücksicht mehr. Da verbietet Ihnen eine Behörde, über die Straße zu gehen, und die andere bestraft Sie, weil Sie nicht über die Straße gegangen sind.“

Der junge Mann, der mit zitternder Oberlippe einen Stapel widersinniger Versicherungsunterlagen durchwühlt hatte, brach in Wutgeschrei aus. Zwei Wärter mussten ihn aus dem Raum führen. „Er wird diese Klasse morgen wiederholen. So lange, bis er es kapiert hat.“ „Was kapiert hat“, fragte ich. „Bis er verstanden hat, dass das keine adäquate Reaktion war. Er muss sich besser im Griff haben.“ „Aber bei dem Jungen fanden Sie eine emotionale Reaktion doch noch angemessen?“ Wieder lächelte Sparski. „Der Junge zeigt sein natürliches Verhalten, das hier erwünscht ist. Er lässt sich durch die Angst in die Enge treiben – so ist es psychologisch und nicht zuletzt physiologisch auch vorgesehen. Dieser Mann allerdings legt eine ganz und gar unhaltbare Wut an den Tag, vor deren Zerstörungsdrang wir uns hüten müssen. Wenn das jeder täte!“ Ich blickte auf den Papierstapel, auf den Tisch, in die Gesichter der anderen. „Ja, wenn das jeder täte. Aus diesem Satz kann man Gefängnisse bauen.“

Die Nachmittagssonne stand über dem Garten des Pavorariums. Die Insassen schritten durch einen schmalen Gang zwischen zwei Hecken hindurch; hier und da zischten plötzlich Fangleinen mit Widerhaken durch die Lücken, die empfindlich ins Fleisch schnitten. Doch nicht die kleinen Wunden waren so schmerzhaft, es war jene Entladung der Spannung, die auf den Treffer folgte, jene blitzartig durch den Körper zuckende Scham, es nicht bis ans Ende geschafft zu haben. „Nun, Existenzangst, Versagensangst, alles dies lässt sich gut trainieren. Wir haben recht ausgeklügelte Programme.“ „Aber verwechseln Sie nicht etwas?“ Sparski blickte mich erstaunt an. „Verwechseln? Was denn verwechseln? Was gibt es denn mehr als Angst?“ „Phobien. Und Ängstlichkeit.“ Er lächelte. „Ich bitte Sie – wo ist denn der Unterschied?“ „Ängstlichkeit ist ein Maß, wie sehr sich Menschen von Angst leiten lassen. Wie stabil ihr Selbstbewusstsein ist. Die Phobie ist die Krankheit, die eine gesunde Angst in ein Leiden verwandelt. Sie kennen diese Unterschiede nicht?“

Sparski putzte sich umständlich die Brille. Er blickte an mir vorbei, dann stülpte er abrupt die Brille ins Gesicht. „Sie wissen genau, wozu das hier ist. Angst ist das Element, das die Gesellschaft in ihrem Innersten noch zusammenhält. Es ist die Angst, die wir kultivieren. Angst vor dem Versagen, vor Arbeitslosigkeit, sozialem Abstieg – Angst, so zu werden wie die Typen, die man auf dem Weg in die Fabrik morgens Schlange stehen sieht vor den Behördenhäusern. Angst vor dem Terrorismus, die dumpfe Furcht, dass die Fingerabdrücke, die man sich abnehmen lassen muss, um drei Stationen mit dem Vorortzug zu fahren oder im Internet einen Blumenstrauß zu bestellen, wirklich nur dazu da sind, eine Datenbank zu füttern, die nie jemand einsehen wird, weil man dazu Hunderte bräuchte, die jahrelang suchen. Man braucht diese Angst.“ „Sie hält das System zusammen, weil Menschen bewegungslos werden.“ Er nickte. „Sie werden sich nicht mehr rühren, wie der Junge auf dem Sprungbrett. Sie dürfen nur nicht in Wut geraten – Wut destabilisiert, denn sie ist nur sehr schwer unter Kontrolle zu halten. Sie steckt an. Und sie kann ziemlich unvermittelt in ganz andere Formen überspringen.“ Wieder putzte er seine Brille, als wollte er sich einen Schleier vor den Augen wegwischen. „Und dazu ist Angst ein hübscher Wirtschaftsfaktor“, fügt ich an. „Ja, das ist richtig. Einer muss diese Scanner und Kameras und die Sicherheitsschleusen ja bauen und anschrauben und bedienen. Die Ausweise mit den Fingerabdrücken, die Millionen und Milliarden Mails und Briefe, die gesammelt und gespeichert und dann doch nie gelesen werden, und die bleibende Angst, würde es jemand tun, er fände etwas, das nicht rechtens ist. Die bleibende Angst. Sie hält zusammen, was sonst auseinanderflöge. Wir sind die Angst in uns.“

Lange blickte ich auf das Sprungbrett, in den Garten mit den schnurgeraden Rabatten. Auf einmal begann Sparski leise zu sprechen. „Natürlich muss man etwas davon verstehen, denn die Zeiten ändern sich vielleicht schneller, als man es denkt. Es war einmal der Kalte Krieg, eine Reaktorkatastrophe, jetzt ein Ölbohrloch – Gefahren, die uns nicht so sehr ängstigen, obwohl sie viel weniger abstrakt sind als das, was alle Angstmacher beschwören. Um das zu verstehen, muss man die Angst in sich selbst verstehen. Ihre Dynamik. Man würde sonst irgendwann selbst nicht mehr funktionieren, wenn sie einen neuen Grund ausgeben, weshalb man Angst haben soll. Diese Gesellschaft verlangt ja einiges an Flexibilität.“ Ich nickte. „Und wer sich nicht anpasst, wird verschluckt. Aber was wäre nun, wenn wir alle diese Angst auf einmal überwänden?“ Sparski zuckte zusammen, als hätte ihn ein Blitz getroffen. Oder einer der kleinen Haken, wie sie zwischen den Gartenhecken hervorschnellen. „Ich kann es nicht sagen“, antwortete er, „ich kann es mir nicht vorstellen. Vielleicht wäre es auch der Augenblick, in dem wir nicht mehr alle wütend wären, wenn die Angst geht. Wir wären andere.“ „Andere?“ Er setzte die Brille ab; diesmal blickte er mich aus kurzsichtigen Augen genau ins Gesicht. „Was wäre der Deutsche ohne Angst, ohne Hass und Neid? Ein Mensch.“





Beerdigung dritter Klasse

18 04 2009

für Heinrich Heine

Mir träumte, ich stünde am offenen Sarg
und spräch den Verwandten mein Beileid.
Begraben ward heute die Ahnfrau selbst,
die alte Tante, die Freiheit.

Da lag sie so friedlich von Blumen bekränzt,
die Schwestern, sie schnäuzten sich krächzig.
Die Tante, sie hat überlebt tausend Jahr
und sah doch erst aus wie Sechzig.

Die traurige Rede, die hielt ein Mann,
nach alter Erzvätersitte.
Er kraute sich ständig am Bauch herum
und schielte verlegen zur Mitte.

Er sprach durchaus lange, er litt routiniert
und hat sein Handwerk erledigt.
Nur hat er sich dann ganz zum Schluss
den eigenen Kragen bepredigt.

Man hatte nicht Kosten noch Mühen gescheut
und krittelte doch am Ergebnis.
Der Sarg war zu morsch und das Totenhemd dünn
und teuer das Erbbegräbnis.

Sie waren sich alle spinnefeind,
der teuren Verstorbenen Erben,
und wünschten sich sämtlich reihum nur eins:
die andern, die mögen bald sterben.

Zwei Kerle kamen von links und von rechts,
die schlossen die Eichentruhe.
Sie schraubten den Deckel recht ordentlich fest,
denn nachts hat man gern seine Ruhe.

Dann griff man die Lade, man hob sie empor
und senkte sie schließlich hinab;
sechs zwergisch kleine giftige Narren,
die schmissen die Kiste ins Grab.

Sie trieben die Trauernden hastig hinfort,
sie warnten vor Leichengefahr.
Doch hielten zuvor ihre Händlein sie auf
und bettelten um ein Pourboire.

Erst schmissen sie alle Blumen weg,
die giftig keifenden Zwerge,
und zogen dann über den Acker hin,
zu suchen sich andere Särge.

Die Fahne, die noch auf dem Totenschrein lag,
die musste man hinterher flicken.
Sie bröckelte leise, der Kranzschleife gleich
„Die Deutschen Republiken“.

Dies wussten die Schwestern, die Brüder ja nicht,
sie ahnten nichts von diesem Graus.
Sie fraßen und soffen und hurten längst
beim würdigen Leichenschmaus.

Sie fraßen das Erbe der Tante schon auf,
sie nagten und schluckten gar redlich;
sie tupften am Leichentuch sich ihren Mund
und rülpsten so pietätlich.

Dieweil die Gesellschaft lustig war
mit Schnaps und Wein und Braten,
da kam der Totengräber an
und schwang seinen furchtbaren Spaten.

Die Erde wurde der Toten schwer.
Es polterten dumpfig die Schollen.
Er schaufelte emsig und kam nicht voran,
das Männlein, es konnte nur rollen.