Kommunikationsgeräte

17 05 2023

Herr Breschke wischte verlegen auf dem Gerät hin und her. „Ich bin ja nicht mehr der Jüngste“, sagte er entschuldigend. „Und wenn meine Frau meint, dass das sicherer sei, dann hat sie natürlich recht.“ Ganz geheuer war ihm dieser elektronische Apparat nicht, das sah man ihm an. Nun also hatte auch ihn die digitale Ära erreicht in Gestalt eines handlichen Smartphones, dem ersten seines Lebens.

„Man vergisst ja schon mal etwas“, beruhigte ich ihn, „mir geht das auch nicht anders.“ Er nickte. „Aber wenn ich mir den Einkaufszettel tatsächlich in die Jackentasche gesteckt habe, dann denke ich an alles.“ Gerade daran hatte es – unter anderem – gelegen, sein bisher tadelloses Gedächtnis hatte mit der Zeit nachgelassen, so dass er sich kaum noch die zehn Dinge auf der Liste merken konnte oder aber statt der benötigten Möhren mit Sellerie aus dem Sonderangebot nach Hause zurückkehrte, sehr zum Missfallen der Gattin. „Und dann habe ich den Zettel in die falsche Jacke gesteckt, als es neulich auf einmal warm wurde, und es sollte Linsensuppe geben.“ Auch die Aussicht, kurz vor dem Kauf an der Kasse nochmals Rücksprache mit dem Vorstand des Hauswirtschaft zu halten, um etwaige Fehler zu korrigieren, schmeckte ihm nicht. „Ich will ja nicht klagen“, murmelte er. „Aber Sie wissen ja…“

Immerhin hatte der pensionierte Finanzbeamte sich bereit erklärt, ein abgelegtes Telefon von Anne anzunehmen. Nicht nur, dass sie außer einem Blech des legendären Butterkuchens von Frau Breschke auf eine Gegenleistung verzichtet hatte, das von der Tochter aus einem asiatischen Versandhaus besorgte Ding hatte allerhand Spracheinstellungen von USA bis Altägypten, ließ sich aber bloß auf Sanskrit und Tagalog bedienen. „Hier ist irgendwo auch so eine Rechenfunktion“, erklärte er. „Man muss natürlich die Umsatzsteuersätze noch von Hand eingeben, aber immerhin kann man die Haushaltskosten damit aufsummieren.“ Ganz abgeneigt schien er dem neuartigen Weggefährten also nicht, das war schon mal ein Anfang. Seine Affinität zur Technik war mir bekannt, ebenso die ab und an auftretenden Fehler, die sein Verständnis für die nicht rein mechanisch arbeitenden Helfer des Alltags. Und schon hatte ich die Möglichkeit entdeckt, sein Interesse zu wecken.

„Man kann mit dem Modell auch ganz gute Bilder machen“, erklärte ich dem verdutzten Mann. Er schaute skeptisch auf den schmalen Bildschirm, kniff die Augen zusammen und entdeckte endlich das Kamera-Symbol. „Ob ich mal darauf tippe?“ Er tat es, und schon öffnete sich die Frontlinse, die zu seinem Erstaunen sein eigenes Gesicht auf den Monitor warf. „Das scheint nicht noch nicht ganz ausgereift“, bemerkte Herr Breschke kritisch. „Von mir gibt es schon genug Bilder, aber wenn ich zum Beispiel mal im Urlaub fotografieren möchte, dann doch wenigstens ein paar Sehenswürdigkeiten, zur Not mit meine Frau im Vordergrund.“ Da hatte er ja recht, also hub ich an, ihm das Konzept der heute üblicherweise verbauten Selfiekamera zu erklären, doch er unterbrach mich. „Ich mag nicht mehr der Jüngste sein, aber wie ein Fotoapparat funktioniert, das haben wir in der Schule gelernt.“ Und er drehte das Gerät einfach um. So weit, so gut, nur konnte er durch die rückwärtige Linse eben nichts sehen. „Das muss defekt sein“, befand Horst Breschke. „Ihre Freundin hat mir tatsächlich ein Handy mit kaputtem Sucher angedreht!“

Das Kreiselzeichen, mit dem man die Kamera wechselt, war schnell erklärt, und schon leuchteten seine Augen wieder. Lange Spaziergänge durch den Stadtpark mit seinem treuen Gefährten Bismarck schienen nun möglich, dem dümmsten Dackel im weiten Umkreis, dessen ausgeprägtestes Talent darin bestand, seinem Herrn an der Leine zwischen den Beinen zu laufen. „Dann kann ich ja öfters mal mit ihm zum Einkaufen gehen“, frohlockte der alte Herr, „und wir nehmen dann nicht die Abkürzung durch die Uhlandstraße in den Kiebitzstich.“ Sollte dies unscheinbare Kommunikationsgerät am Ende für mehr Bewegung an der frischen Luft mit dem Hund sorgen, so war das ein erhebliches Stück an Lebensqualität. Nicht, dass der Pensionär sich nur in sein Lesezimmer zurückgezogen und dort mit der Tageszeitung seine Stunden gefristet hätte, doch kam er nachmittags bisweilen eben nur in den Garten und drehte nur abends eine rasche Runde mit Bismarck. Ich rechnete bereits mit erheblichem Datenverkehr, da trat Frau Breschke aus dem Haus und schritt schnurstracks auf das Rosenbeet zu, wo wir standen. „Gut, dass Sie da sind!“ Sie entwand das Smartphone aus seinen Händen und wischte auf dem Screen herum. „Ich wollte nämlich mal fragen wie man diese ganzen Nummern einspeichert, von unserer Tochter, Husenkirchens und die Familie.“ Was auch immer sie da angetippt hatte, es tutete. „Hallo?“ Ein Kracksen verdeutlichte, dass hier eine Sprechverbindung zustande gekommen war, wie bei einem Telefon zu erwarten. Der Wahlwiederholung entnahm ich zu meinem großen Erstaunen, dass es sich um den Notruf handelte. „Oh Gott“, stöhnte Breschke, „das hat uns ja gerade noch gefehlt!“

Die beiden Beamtinnen, die der Ortung des Taschenfernsprechers folgten, kamen zunächst ohne Rettungswagen, aber mit säuerlicher Miene. „Ich habe es in die Hosentasche gesteckt“, log Breschke, um die Gattin aus der Schusslinie zu ziehen. „Da muss sich irgendwie ein Anruf gelöst haben.“ Sie durften mit Milde rechnen. „Nun“, riet die eine, „es gibt praktische Schutzhüllen, mit denen man das verhindern kann.“ Womit sie sich nach einer ernsten Ermahnung wieder auf den Weg machten. „Ich habe es geahnt“, bemerkte der Hausherr. „So alt, wie ich gedacht hatte, bin ich wohl doch noch nicht.“





Kammerspiel

16 02 2023

Herr Breschke war verzweifelt. „Das ganze Geld“, stieß er mit erstickter Stimme hervor. „Es sind an die tausend Euro, ich war gerade erst auf der Bank, und jetzt weiß ich nicht, wo mir der Kopf steht!“ Ich trat ins Haus und legte ihm beruhigen den Arm auf die Schulter. „Wir wollen uns die Sache einmal ganz genau ansehen.“

Nach wenigen Schritten hatten wir die Tür zum geräumigen Wohnzimmer erreicht, hinter der sich das Drama abgespielt hatte – in diesem Augenblick noch abspielte, denn die entsetzliche Ungewissheit hielt an. Das lederne Portemonnaie, das Breschke sonst teils in der Manteltasche mit sich trug oder in der Küchenschublade verstaut hatte, war nicht nur wegen der zahlreichen Karten und Ausweise für jeden Unbefugten von großem Interesse, so dachte er, auch das Haushaltsgeld sowie eine gewisse Reserve für unvorhergesehene Ausgaben befanden sich in dieser Börse, die jüngst zum Objekt einer Auseinandersetzung geworden war. „Wir haben in letzter Zeit öfter Handwerker im Haus“, erklärte der pensionierte Finanzbeamte. „Und wie ich nun dem Gesellen von Schlabrowski und Söhne seinen Lohn für die neuen Spangen an der Regenrinne in die Hand geben will, räuspert sich meine Frau.“ Da ich Frau Breschke kannte, wusste ich nur zu gut, was die Stunde geschlagen hatte.

Hier standen wir nun im Wohnzimmer. Matte Wintersonne schien aus dem Garten durchs Fenster hinein, auf dem Sessel lag Bismarck, der dümmste Dackel im weiten Umkreis, und schlief. Breschke zeigte auf die Schrankwand, genauer: auf eine der beiden Schubladen, die unterhalb der Anrichte in das massive Eichenmöbel eingelassen waren. „Ich dachte mir, hier würde niemand suchen, denn als ich das Geld aus dem Küchentisch genommen habe, muss der Klempner es gesehen haben.“ „Deshalb der Streit mit Ihrer Frau“, schloss ich. Er nickte. „Hier kann ich schnell die Tür hinter mir schließen, das Portemonnaie aus der Schublade holen und es danach wieder ordentlich wegschließen.“ So weit ich dem Plan folgen konnte, fiel mir nichts für den alten Herrn Ungewöhnliches auf; dass sich beide Laden mit Hilfe desselben Schlüssels öffnen sowie zusperren ließen, dieser also so gut wie immer in einem der beiden Schlösser zu stecken pflegte – das focht ihn nicht an. „Jetzt wollte ich eben schnell zum Zeitschriftenhändler und eine Karte für den Geburtstag von Doktor Klengel besorgen, da sah ich, dass ich nichts sah!“ Horst Breschke rang die Hände. „Ich war doch die ganze Zeit hier im Raum, weil ich kurz vorher das Geld hineingesteckt hatte, also in die Geldbörse, die Börse in die Schublade, aber der Schlüssel – weg!“ „Ein ordentliches Raum-Zeit-Kontinuum“, befand ich, „und Sie haben das Wohnzimmer zwischendurch nicht verlassen?“ Er schüttelte verzweifelt den Kopf. „Meine Frau wollte ja Staub saugen, also hat sie die Tür so lange von außen verschlossen, bis sie fertig war.“ Er blickte einmal um uns herum. „Einfach weg!“

Ich überlegte, was wohl Anne zu dem Problem sagen würde. Als geübte Strafverteidigerin hatte so gut wie jeder Fall ihren kriminalistischen Instinkt geweckt, mit dem sie nicht selten das eine Moment aufspürte, das das Rätsel lösen und die Unschuld ihres Mandanten beweisen konnte. Würde sie die Fensterbank mit den verdächtig gerade stehenden Topfblumen unter die Lupe nehmen? Oder aber den Fernseher anhand seiner Staubspuren auf eine kurz zuvor stattgefundene Bewegung untersuchen? Ich zauderte. Lag das Geheimnis des verschwundenen Schlüssels vielleicht sogar außerhalb dieses Raums, und wir hatten es nur nicht bemerkt? Das aber war anhand der Indizienlage nahezu ausgeschlossen.

„Fassen wir die Sache zusammen“, begann ich, „das Geld ist nicht weg, es ist nur gerade nicht zu Ihrer Verfügung.“ Breschke nickte irritiert. „Aber ich muss doch irgendwie an mein Portemonnaie kommen, und das ist nicht dasselbe, als würde das Geld noch auf der Bank liegen!“ „Lassen Sie uns gründlich überlegen.“ Ich führte ihn zum Sofa und ließ ihn Platz nehmen. Hilflos sah er von der Wand zum Fenster und zurück. „Es gibt bestimmt keinen Ausgang aus diesem Zimmer“, überlegte ich, „und vermutlich auch keine Falltüren.“ Er konnte mir kaum folgen, aber das war nicht so wichtig. „Und da ich nicht davon ausgehe, dass Bismarck sich den Schlüssel geschnappt hat, muss er wohl noch hier sein.“ „Ich verstehe nicht ganz“, erwiderte er, „er war doch schon vorher im Wohnzimmer?“ Es gab nur eine Chance: Breschke selbst würde mich zur Lösung führen, denn er war der einzige Zeuge.

Ich blickte in den Garten hinaus. „Der Baum ist schon ganz kräftig beschnitten worden“, bemerkte ich. „Hatten Sie nicht kürzlich eine neue Schere besorgt?“ „Sie hatten welche im Sonderangebot“, bestätigte er, „der Griff hat sich an der einen Seite gelockert, und da dachte ich, nach all den Jahren könnte ich mal eine neue kaufen, weil ja auch die Hecke da links am Zaun zu Gabelstein hinüber bald geschnitten werden muss.“ Geistesabwesend hatte er sich aus der Kristallschale auf dem Couchtisch ein Hustenbonbon genommen, es ausgewickelt und sich in den Mund gesteckt. Er versuchte das Papier in die Brusttasche seines Hemdes zu stecken. „Darf ich mal?“ Aus der linken Tasche seiner Strickjacke zog ich den Schlüssel heraus. Er sah mich mit großen Augen an. „Sie haben ihn ganz automatisch wegstecken wollen, aber da war keine Tasche.“ „Großartig“, jubelte Herr Breschke, „Sie sind ja ein Meisterdetektiv!“ „Nun, was machen wir?“ Er legte das Corpus delicti auf den Tisch. „Ich werde ihn in Zukunft so aufbewahren, dass nur ich ihn finde. Was halten Sie von der Küchenschublade?“





Herr im Haus

8 12 2022

„Und dann macht sie das Licht an und aus!“ Wie ich es erwartet hatte, tat sie auch genau das. Herr Breschke seufzte. „Dabei habe ich sie gar nicht darum gebeten, aber was soll ich jetzt machen?“ Verzweifelt starrte er auf das Mobiltelefon. Jetzt war guter Rat teuer.

„Meine Tochter meinte, das sei absolut sicher.“ Ich zuckte leicht zusammen, hatte sie doch auch den Deckenventilator aus Südostasien mitgebracht, der beim ersten Anschalten durch Überspannung fast einen Kabelbrand verursachte, sowie einen Sack mit Rasendünger, der den ganzen Garten in Rosa hatte erstrahlen lassen – die Schnäppchen, die der Reiseleiterin auf ihren zahlreichen Besuchen in fernen Ländern in die Hände fielen, waren schon oft ein Quell der Überraschung, wenn nicht gar der Besorgnis gewesen. So hatte sie auch diese kleinen Steuerungskästchen für kleines Geld auf einem Markt für technische Innovationen erstanden, samt einer App, die sich auf jedem Smartphone einfach installieren ließ, was zwei Dinge ignorierte: die wenigen technischen Dinge im Hause Breschke steuerte der pensionierte Finanzbeamte mit Hilfe von Schaltern, bisweilen mit einer Fernbedienung, und ein Telefon hatte für ihn einen Hörer sowie eine Schnur. Die Elektroarbeiten hatte ein Betrieb aus ihrem Bekanntenkreis kostenlos durchgeführt, was man dem Deckenputz ansah, doch der Alltag war seitdem nicht mehr derselbe.

„Ich muss jetzt den ganzen Tag mit diesem Ding hier reden“, klagte Herr Breschke. „Stellen Sie sich das mal vor, ich kann nicht einmal morgens das Radio anschalten, wenn ich die Nachrichten zum Frühstück hören will.“ Die Umwandlung in ein Smart Home war gelungen, entsprach aber offenbar nicht seinen Wünschen; das Werk der Tochter war aber vor allem an einer unbedachten Regelung zu erkennen. „Sie hat das Ding nach meiner Frau benannt“, klagte er. Mitfühlend legte ich die Hand auf seine Schulter. „Sie können nicht einmal mit Ihrer Gattin sprechen, ohne diesen Apparat sofort einzuschalten?“ Er nickte niedergeschmettert. „Ich muss nur einmal fragen: ‚Irmchen, willst Du noch Tee?‘, schon weist mich dieses Gerät zurecht.“ Es war schwieriger als ich befürchtet hatte.

„Wenn ich beispielsweise das Radio…“ Er hatte den Satz nicht beendet, da erklangen hinreißende Operettenmelodien in etwas weniger angenehmer Lautstärke; offenbar unterstellte die App den beiden Senioren eine generelle Hörschwäche, die sich auch bei der Türklingel und beim Fernseher vernehmen ließ. Ich musste mir etwas einfallen lassen, denn so war den Breschkes das Weihnachtsfest unter keinen Umständen zuzumuten, geschweige denn Bismarck, der ungewohnt verschüchtert in seinem Körbchen an der Fensterbank lag, anstatt seinem Herrn ohne Unterlass zwischen den Beinen herumzulaufen. Die Lage war ernst. Schnell stand mein Plan fest: den Feind, in diesem Fall die Feindin zu verwirren.

„Irmchen“, befahl ich dem Ding, „Du heißt jetzt Mimi.“ Keine Reaktion. „Sie hat es mir erklärt“, erklärte mir Herr Breschke, „Sie reagiert nur auf meine Stimme.“ Ich reichte ihm das Telefon. „Dann werden Sie das übernehmen müssen.“ Er räusperte sich. „Irmchen“, begann er zaghaft, „Du heißt jetzt Mimi.“ „Aha“, schnarrte die Computerstimme. „Es steht Ihnen frei, mich umzubenennen, aber ich höre nur auf meinen programmierten Namen.“ Das hatte ich nicht erwartet. Breschke kratzte sich am Kopf. „Ich könnte das Radio abschalten.“ „Gut“, wandte ich ein, „aber was ist mit der Beleuchtung?“ „Ich werde mal etwas versuchen“, sagte er. „Irmchen, ich schalte Dich jetzt ab. Ab sofort bin ich wieder Herr im Haus.“ „Das wüsste ich“, giftete sie zurück. Der Fall war wirklich schwierig.

Es half nichts, ich musste der Sache technisch auf den Grund gehen. „Aber Sie sind doch kein Elektriker“, gab Herr Breschke zu bedenken. „Das ist ein altes Geheimnis“, erläuterte ich. „Was von einem offensichtlichen Stümper eingebaut wurde, wird am besten vom Laien repariert.“ Ich klappte das Leiterchen aus der Küche auf und öffnete den Kasten, der nun die Deckenlampe verschönerte. Zu meinem Erstaunen war es nur eine Lüsterklemme, deren Kontakte an einem Empfänger angeschlossen waren. Schnell hatte ich die Verbindung korrigiert, und schon bediente Breschke die Leuchte wieder mit dem Wandschalter. „Um die Feinheiten werden wir uns später kümmern“, befand ich, „das heißt: nicht wir.“

Insgesamt vierzig dieser kleinen Plastikboxen waren mit dem Funksender verbunden, den ich als nächstes ausschaltete: Lampen, Radio und Klingel, der Heizlüfter im Schlafzimmer, die Schalter zum Heben und Senken der Rollläden, schließlich das Garagentor, was Herrn Breschke noch gar nicht aufgefallen war. „So eine Unverfrorenheit“, keuchte er. „Es sollte jetzt alles wieder wie vorher funktionieren“, frohlockte ich, „nur noch einen kleinen Schritt zum Abschluss.“ Das Telefonbuch des Corpus delicti war überschaubar; ich zog einen Zettel aus der Jackentasche, kritzelte einen Satz darauf und reichte ihn dem Hausherrn. Er stutze, lächelte und hob das Gerät hoch. „Irmchen“, sprach er mit fester Stimme, „falte meine Tochter zusammen.“ Es stöhnte. Was tat man nicht alles für den häuslichen Frieden.





Schlüsselposition

28 07 2022

Anne tupfte sich den Schweiß von der Nase. „Stromfresser hin oder her“, stöhnte sie, „es ist zu heiß.“ Luzie nickte. „Ich hole den Ventilator aus dem Keller.“ Sie stand auf, ging durchs Vorzimmer und öffnete die Schiebetür, hinter der sich die kleine Abseite und das Schlüsselbrett befand. Was sich am Brett nicht befand, war der Kellerschlüssel.

„Aber er hat doch immer dort gehangen?“ Ich betrachtete sehr konzentriert die Auslegeware der Kanzlei, denn jeder wusste, in welchem Verhältnis Anne zu Schlüsseln im Allgemeinen stand. Bis auf den Autoschlüssel, inzwischen eine Fernsteuerung für den Wagen, die sich stets in ihrer Handtasche befand und häufig sogar in der richtigen, hatte sie die Schlüssel für Geschäfts- und Privaträume aus Erfahrung in mehrfacher Ausfertigung bei mir und Breschkes deponiert, in der Küchenschublade von Staatsanwalt Husenkirchen und bei Doktor Klengel. „Warum hängt der Kellerschlüssel nicht an diesem Brett“, knurrte Anne, „und warum hängt das Brett nicht an der Tür wie in jedem anderen Haushalt?“ „Weil dies eben kein Haushalt ist“, wandte ich ein. „Luzies Idee, das Brett nicht neben den Eingang zu schrauben, liegt daran, dass zu viele Mandanten die Kanzlei betreten, denen man alles zutrauen kann.“ Sie zog die Stirn in Falten. Das hatte damals auch ihr eingeleuchtet, nicht aber der Gedanke, dass es für Schlüssel nur ein sicheres Quartier geben kann: ein abschließbares Kästchen, klein oder groß, gut zugänglich, aber eben abschließbar.

Luzies Einwand, sämtliche Schlüssel wären so sicher wie in Abrahams Schoß, lägen sie in ihrem Schreibtischschränkchen, hatte Anne frühzeitig in argumentativem Furor beiseite gewischt. „Was soll ich denn machen, wenn Du mal einen freien Tag hast?“ Die Büroleiterin, die stets als erste die Kanzlei betrat, schloss natürlich auch die Laden an ihrem Arbeitsplatz auf. „Notfalls könnte ich die Schlüssel in Deinem Schreibtisch deponieren“, gab sie mit sarkastischem Unterton zurück. „Ich habe ja den Ersatzschlüssel bei mir zu Hause.“ Der Teppich begann wirklich interessant auszusehen.

Das Problem war bekannt, hatte eine Geschichte und zu viel Wirrungen geführt, die auch durch das kleine Gerät nicht besser wurden, das Breschkes Tochter von einer Ostasienreise mitgebracht hatte. Der Schlüsselfinder, der am Corpus delicti befestigt werden konnte, sollte mit Hilfe von Funkwellen aufgespürt werden, wie das ja Anne auch mit ihrem Wagen tat – das sportliche Gefährt war nicht eben unscheinbar, jeder hätte es auf dem Parkplatz leicht ausfindig machen können, doch sie zog es vor, mit dem kleinen Druckknopfdings durch die Reihen zu gehen und beständig um sich zu blicken, wo unter meerschweinartigen Quietschgeräuschen hektisches Blinken sichtbar ist. Allein sie hatte die Vorliebe für den Ablauf nicht auf das rote Plastikteil übertragen, so dass der Kellerschlüssel weiterhin verschollen blieb. Luzie sah sich hilflos in der Abseite um. „Wo ist eigentlich dieser Schlüsselfinder?“

Tatsächlich gibt es Bodenbeläge, denen man nach jahrelanger, regelmäßiger Belastung kaum ihr Alter ansieht. Ganz nebenbei hörte ich, wie Anne aus der Erinnerung den Verbleib des Suchgeräts rekonstruierte; sie hatte ein Loch an der stilisierten Blume entdeckt und ihn aus Gewohnheit zusammen mit dem Schlüssel und der Empfangseinheit an den Ring gehängt, wo sie nun in trauter Dreisamkeit wieder verbunden waren, wo auch immer. „Es kann sich höchstens um höhere Gewalt handeln“, ätzte Luzie, „nichts hindert uns, das Haus einzureißen, wenn wir den Keller betreten wollen.“ Ich spielte vor meinem geistigen Auge einige Szenarien durch, in denen die sich anbahnende Katastrophe ohne größere Folgeschäden abgewendet werden könnte, da kam Anne der entscheidende Gedanke. „Ich habe das bestimmt in der Handtasche.“ Die Nachschau ergab, dass dem nicht so war. Es bestand keine Hoffnung mehr. Vermutlich würde ich so schnell wie möglich einen Ventilator besorgen müssen, um dieses unerträgliche Klima wiederherzustellen.

„Die unterste Schublade!“ Luzie drehte sich auf dem Absatz um, stürmte ins Besprechungszimmer und setzte sich auf den Drehstuhl. „Ich bin ja nicht immer pflegeleicht“, maulte Anne, „aber das geht nun wirklich zu weit.“ „Ach was!“ Luzie hatte das Aktenfach geöffnet, wühlte zwischen den Mappen herum und zog endlich triumphierend das gesuchte Dreigestirn hervor. „Ich wusste doch genau, dass da etwas Rotes unter den Deckeln liegt.“ Ein Druck auf die Sendeeinheit bestätigte, dass zumindest auf kürzere Distanz der am Schlüssel angebrachte Empfänger so zuverlässig wie nervtötend fiepte. „Wir müssen also jetzt den Sender abziehen, dann kommt der Schlüssel wieder ans Brett, und wenn wir ihn tatsächlich einmal nicht finden sollten, dann haben wir immer noch diesen kleinen Helfer.“ Anne seufzte. Es hatte sich nicht nur die Anspannung der vergangenen Stunde in Wohlgefallen aufgelöst, sie konnten nun auch darauf warten, dass ein dienstbarer Geist – nämlich ich – den Ventilator die Treppen bis ins dritte Stockwerk tragen würde. Da es sich um ein Standmodell mit schwenkbarem Kopf handelte, blieb ihnen auch gar nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu üben.

Der Ventilator tat, wozu er angeschafft worden war: er wirbelte Luft in den Raum. „Übrigens“, ließ sich Luzie vernehmen, „Breschkes Tochter hat nicht nur einen mitgebracht.“ Und sie zog ein Tütchen aus dem Regal in der Abseite. Noch ein Suchknopf mit Piepser. Anne war perplex. „Kein Problem“, sagte ich. „Wenn der Schlüsselfinder mal verloren geht, kleben wir den anderen an den Empfänger, und Du hast noch einen Ersatz für die Handtasche.“





Wasserzeichen

30 06 2022

„Zwanzig, noch mal dreißig, also insgesamt einhundertzehn.“ Herr Breschke schloss den Karton und schob ihn zurück unter den Küchentisch. Es duftete, vielmehr: roch nach einer Mischung aus Maiglöckchen und Pfefferminzbonbons. Und noch hatte er keins der Erfrischungstücher benutzt.

„Es geht ja nicht um die Kosten“, betonte der Hausherr, „obwohl sie schon recht preiswert sind, wenn man eine größere Menge davon abnimmt.“ Hauptsächlich dürfte wohl es an der Herkunft dieser Hygieneartikel gelegen haben, die seine Tochter aus einem kambodschanischen Warenlager in Peru mit amtlichen Siegeln in drei ausgestorbenen Sprachen besorgt hatte. Immerhin waren bisher noch keinerlei Hautreizungen aufgetreten, noch benutzte der Alte zweimal am Tag die Brause. „Wenn man Wasser sparen kann, sollte man es auch tun.“ Ich nickte. Allerdings gab ich zu bedenken, dass es für Umwelt und Energiesicherheit auch schmerzfreiere Wege geben würde. „Sich zum Beispiel am Morgen mit dem guten alten Seiftuch zu reinigen, wäre einer davon.“ „Nun ja“, lächelte er, „ich bin nun nicht mehr so gelenkig. Duschen ist ein wenig bequemer, das muss ich schon zugeben.“ „Und wie erreichen Sie dann, sagen wir mal: die Zehen mit diesen Dufttüchern?“

Die Wasserrechnung vom vergangenen Jahr wies einen ganz hübschen Verbrauch auf, jedenfalls für ein kleines Häuschen mit Garten. Letzterer war mit Rasen und Rosen Großverbraucher, vor allem in regenarmen Zeiten. „Ich kann meine Pflanzen nicht einfach vernachlässigen“, betonte der pensionierte Finanzbeamte. „Sie müssen wissen, wir sind als Anwohner verpflichtet, diese Flächen zu begrünen.“ Ich sah mich um. Die große blaue Tonne, die seit Jahrzehnten im Keller stand, würde hervorragend unter den Abfluss der Dachrinne passen; ein kleiner Schnitt ins Fallrohr, ein Regensammler, schon liefe der Niederschlag nicht mehr in die Kanalisation. Er kratzte sich am Kopf. „Das würde sicherlich eine Menge weniger verbrauchen.“ Er blickte sich im Garten um. „Auf der anderen Seite liest man gerade überall, dass Sparen auch schädlich sein kann, wenn man die Leitungen nicht regelmäßig spült.“ „Ihre fünf Minuten Duschen am Tag reichen da vollkommen aus“, beruhigte ich ihn. „Keiner wird Sie zu einem Wannenbad nötigen.“

Das Bad, seit Jahrzehnten in einem funktional wirkenden Rostbraun eingerichtet, war die nächste Etappe. „Diesen Brausekopf haben Sie vor dem Dreißigjährigen Krieg installiert“, mutmaßte ich, was Breschke mit Stirnrunzeln quittierte. „Das Ding wird nicht richtig sauber“, nörgelte er. „Man kann Essig dazu verwenden“, riet ich trotz Skepsis beim Anblick der Gummidichtungen, „manche schwören auf Gebissreiniger.“ Aus dem Schränkchen unter dem Waschbecken kramte er eine vergilbte Dose mit Briefchen heraus, die ein blassblaues Pulver enthielten. „Sagen Sie nichts“, stöhnte ich. „Ja, aber sie hat mit die schon vor zehn Jahren mitgebracht, ich wollte sie erst aufbrauchen.“ Auch der Schlauch hielt einer genaueren Inspektion nicht stand; er war an mehreren Stellen porös und drohte zu brechen, so dass ein Leck bei der täglichen Körperpflege nur noch eine Frage der Zeit war. „Wir werden sicher im Baumarkt etwas Schönes finden, damit drehen Sie dann auch die Wasserzufuhr ab, wenn Sie sich gerade den Kopf shampoonieren.“ Er nickte. „Ich wollte ja die ganze Zeit etwas machen“, sagte er kleinlaut, „aber die Kosten!“ „Herr Breschke“, mahnte ich, „wenn Sie ab sofort auf zu viel warmes Wasser verzichten, hat sich diese Investition im Nu amortisiert.“ Es sah aus, als würde er mit mehreren Unbekannten rechnen. Schließlich nickte er wieder.

„Selbstverständlich können Sie auch in der Küche eine Menge Wasser sparen.“ Ich zog das Besteckfach des Geschirrspülers heraus. Zwei Gabeln, zwei Messer und zwei Suppenlöffel lagen im Auszug. „Ich müsste sonst den ganzen Kasten in den Küchenschrank räumen, wir haben ja so selten Besuch.“ „Sie spülen das Besteck also nach den Mahlzeiten von Hand ab“, konstatierte ich. Horst Breschke schüttelte energisch den Kopf. „Vor den Mahlzeiten, sonst macht es ja gar keinen Sinn.“

Das Minzmaiglöckenaroma der Küchenluft war noch immer dominant, da nahm Breschke eins der Tücher aus der Packung. Die Folie ließ sich leicht aufreißen, und sofort breitete sich das penetrante Bukett im ganzen Raum aus. Der Hausherr rieb sich die Hände mit dem Geruchsträger ein, und es trieb nicht nur mir beinah die Tränen in die Augen. „Das ist fürchterlich“, krächzte ich. „Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie sich ab sofort zweimal täglich mit diesem Zeug imprägnieren werden, um Wasser zu sparen?“ Seine Nase zuckte. „Glauben Sie, dass der Gestank mit Wasser und Seife wieder abgeht?“ „Sparen Sie“, ächzte ich. „Aber bitte nicht an Seife und nicht an Wasser, und nehmen Sie bloß warmes dazu!“ Er krempelte sich die Hemdsärmel hoch und verschwand im Bad.

Zehn Minuten später kam er mit rot geschrubbten Fingern wieder aus dem Waschraum. Freudig begrüßte Bismarck, der dümmste Dackel im weiten Umkreis, seinen Herrn, vielmehr: er hatte es wohl vor. Als er aber die Reste der fürchterlichen Aromenverirrung an seinen Händen roch, lief er jaulend ins Wohnzimmer, wo er sich verstört hinter dem Fernsehsessel verbarg. „Sie sehen“, schloss ich, „auch Ihr treuer Gefährte kann dem nichts abgewinnen.“ Er seufzte. „Kann man denn da gar nichts machen, um im Alltag das Wasser effektiver einzusetzen?“ Ich griff zur Blumenspritze auf der Fensterbank. „Nun“, sprach ich und drückte auf den Hebel, „es gibt da manche Möglichkeit.“





Geschenk mit Eigenanteil

23 06 2022

Anne rümpfte die Nase. „Ich will ja nichts sagen“, sagte sie, wie sie immer sagte, wenn sie unbedingt etwas sagen wollte. „Ich stelle nicht diese Maschine in mein Büro, um einen vorsintflutlichen Apparillo von Breschkes Tochter dafür zu bekommen!“

Immerhin hatte sie recht; ob in meinem eher bescheiden eingerichteten Arbeitszimmer oder in der gerade noch aufrecht begehbaren Küchenabseite ihrer Kanzlei, der morgendliche Kaffee gehörte zu den Grundvoraussetzungen, um einen Tag halbwegs lebend zu beginnen, wenn man ihn denn überstehen wollte. „Ich habe damals für ein Heidengeld diesen Kaffeevollautomaten abgeschafft, weil mir geraten wurde, dass das für die Mandanten genau richtig ist!“ „Das ist nicht verkehrt“, entgegnete ich, „Du bist ohne Kaffee morgens nicht ansprechbar, hast ein seltenes Talent, die Presskannen wenige Tage nach Anschaffung am Boden zu zerschmeißen, und es gibt kein Spielzeug, für das Du nicht jeden noch so hohen Preis bezahlen würdest.“ Sie zog ihre Augenbrauen gefährlich schnell nach unten. „Ich habe genau, warte… auf jeden Fall war es viel preiswerter als in der Kalkulation!“ Was natürlich angesichts der Wasserleitungsschwäche, die durch einen Entkalkungsbeauftragten behoben werden musste, der dafür eine solide Monatspauschale kassierte, auch wenn er sich gerne mehrere Wochen Zeit ließ mit der Instandsetzung, recht teuer war.

Aber wir hatten ja andere Sorgen. Luzie, seit Anbeginn Büroleiterin und gute Seele des Hauses, hatte endlich an einem sehr schönen Abend nach der Premiere im Freilufttheater Bad Gnirbtzschen von ihrem Gefährten einen Antrag erhalten und ihn voller Glückseligkeit angenommen. Minnichkeit, der in der Opernfreundin seine Seelengefährtin gefunden hatte, ließ es sich nicht nehmen, uns zur Trauung aufs Wasserschloss Poggenmootsch zu laden. Die Frage blieb: was schenkt man da?

„Ich hatte da noch so einen Prospekt.“ Anne zog die unterste Schreibtischschublade auf. Ein Wunder, dass die sich überhaupt öffnen ließ angesichts der herausquellenden Papiere; es musste im Inneren eine Quantenverschränkung stattgefunden haben, bei der sich sämtliche Elementarteilchen in ihre Zwischenräume gequetscht haben. „Personalisierte Sektkelche“, las ich. „Das ist eine grandiose Idee, wenn die beiden nach einem Glas Schaumwein nicht mehr wissen sollten, wer wie heißt.“ „Es ist ja auch nur ein Vorschlag“, murmelte sie, „und sie können ja damit jedes Jahr auf ihren Hochzeitstag anstoßen.“ Ich überlegte. „Wäre dann eine Gravur des Datums nicht der ungefährlichere Weg, falls daraus eine wiederkehrende Ehekrise entsteht?“ Sie war sichtlich verärgert und blätterte weiter. Neben Gartenlaternen und Türschildern ließ sich offenbar jede Menge Schrott gravieren, womit auch immer. „Im Falle einer Trennung wird es natürlich nicht einfach“, wandte ich ein. „Ein Essbesteck ließe sich mühelos teilen, mit ungravierten Badebürsten hat man auch nach der Scheidung Spaß, aber…“ Ihr Blick machte mir unmissverständlich klar, dass ich zwar recht hatte, das Thema jedoch trotzdem nicht zielführend war.

Allerlei Kitsch mit Herzchen zum Aufhängen, Ankleben, Annageln oder Verschrauben quoll aus einem Prospekt für wohlfeile, aber geschmacksfreie Geschenke. „Ein Kirschholzbrettchen, das Tag für Tag erinnert, dass hier ein Kirschholzbrettchen in der Küche hängt.“ Anne knirschte mit den Zähnen. „Man könnte ja vielleicht den Namen in das Ding meißeln.“ Ich schüttelte den Kopf. „Luzie heißt nicht nur weiterhin Freese, sie wohnt seit geraumer Zeit zusammen mit ihrem künftigen Gatten.“ Die Kollektion ergoss sich in Fußmatten, Flaggen für den bürgerlichen Balkon und einem Töpfchen mit Rosmarin. „Das gilt als Zeichen von Liebe und Verbundenheit“, las Anne vor. „Schön.“ Sie blickte mich verständnislos an. „Für den Preis bekommt man im Baumarkt ein Dutzend Töpfe, wir sollten ein Geschenk mit Eigenanteil in Betracht ziehen.“

Die schlimmeren Dinge, dort nämlich, wo sich Marketingfachkräfte in die Niederungen des Humors begaben – oder dessen, was sie dafür hielten – Paarsocken, ein Flitterwochenratgeber oder ein Erste-Hilfe-Buch für den ersten Ehekrach, kamen gar nicht erst in Betracht. „Meine Güte“, stöhnte Anne. „Was haben die Leute denn früher geschenkt, als es diese ganzen schrecklichen Shops noch nicht gab?“ „Toaster“, erläuterte ich, „Töpfe und Pfannen, Mixer, Eierkocher und allerlei Zeug für den neu gegründeten Hausstand.“ Da auch dies ausschied, näherten wir uns dem gefährlichsten Teil der Prospekte, jene, die Gutscheine verkauften für allerhand Erlebnisse zu zweit, vom Klettern und Hüpfen bis zum Fliegen oder Tauchen, alles an Fallschirmen und Sprungseilen, unter Wasser oder in der Karibik, wenn man das nötige Kleingeld zu zahlen bereit war. „Sie wird mir ins Gesicht springen, wenn ich Ihr einen Gutschein für den Hochseilgarten schenke.“

Und da kam sie auch schon, nicht so pünktlich wie sonst, doch die Umstände erklärten ihre Verspätung. „Dieser Mann ist ein Nervenbündel“, zischte Luzie. Wie sie berichtete, war soeben das heimische Brühgerät ausgefallen, ein Filter ließ sich bei Luzie nicht auftreiben, da sie ausschließlich Tee trank, und Minnichkeits Versuche, sich die lebensnotwendige Koffeindosis zu verschaffen, hatten zu einem mittelschweren Desaster geführt. Wir blickten einander stumm an. „Eigentlich sollte es eine Überraschung sein“, sagte ich. Anne stellte die Kaffeemaschine auf den Anmeldetresen. „Wenn man schon etwas zur Hochzeit schenkt, sollte es etwas Persönliches sein – etwas ganz Persönliches.“





Abwasser

20 04 2022

„Sie können mir ja gleich die Tür aufhalten“, schnaufte der Mann und hob zwei Flaschenträger in den Flur. „Vielleicht möchten Sie auch probieren?“ Luzie sprang wie angestochen hinter dem Tresen auf. „Ich hatte mich doch klar genug ausgedrückt, wir wollen Sie hier nicht mehr sehen!“ Keuchend stellte er seine Fracht auf den Boden. „Das sagt mir Ihre Chefin vielleicht am besten selbst.“

Eigentlich hatte ich nur einen Umschlag in der Kanzlei abgeben wollen, und so hatte ich gar nicht gefragt, ob Anne überhaupt da sein würde. Was den Vertreter anging – als solcher war der unangenehme Zeitgenosse ja hinlänglich zu erkennen – so teilte er mir sofort mit, dass er einen Freund des Hauses, nämlich Staatsanwalt a.D. Husenkirchen, sehr gut kenne. Ich blickte auf die billige Visitenkarte. „Und er kennt Sie auch?“ Unbeirrt packte er sein Dutzend Flaschen aus und baute sie vor Luzie auf. „Sie werden sich wundern“, frohlockte er, „es gibt allein in Deutschland an die 800 Sorten Wasser, und bei mir finden Sie genau das richtige Getränkt für Ihren Bedarf.“ „Machen wir das kurz und schmerzlos“, unterbrach sie ihn. „Sie packen Ihr Gesöff wieder ein, und dafür bekommen Sie garantiert alle Ihre Flaschen wieder heil hier heraus.“ Mit geradezu bewundernswerter Ignoranz zeigte er mir das ganze Sortiment. „Wie bevorzugen Sie denn Ihr Wasser?“ Ich blickte ihn und seine Batterie an. „Heiß“, gab ich zurück, „über einen auf Stufe 8 gemahlenen Robusta gefiltert, ohne Milch, ohne Zucker.“

Immerhin hatte der Knilch, der sich auf seinem Kärtchen hochtrabend als Sommelier bezeichnete, auf levitiertes Informationswasser in strukturierter Vollmondabfüllung verzichtet. Aber er ließ sich von nichts und niemandem beirren, hebelte vermittels des Flaschenöffners einige Flaschen auf und goss ein paar der Gläser auf dem Beistelltischchen neben dem Tresen voll. „Ihre Kunden brauchen natürlich vor allem eine gesunde Alternative, deshalb haben wir einen ganz besonderen Tropfen mit viel Eisen.“ „Wir haben keine Kunden“, knurrte Luzie, „wir haben Mandanten, und unser enteisenter Sprudel aus dem Supermarkt hat noch keinen von denen vergiftet.“ Ich schob ihm das Glas zu. „Wir können das bei Ihnen aber gerne ausprobieren.“ „Natürlich ist auch eine Anreicherung mit lebenswichtigem Sauerstoff problemlos möglich.“ Wie zum Beweis, dass er an alles glauben würde, was er da von sich gab, nahm er einen großen Schluck aus einem anderen Glas. „Dieses Wasser speichert ungefähr 100 Milliliter reinen Sauerstoff pro Liter, meinen Sie nicht, dass das ausgezeichnet zu einem sportlich durchtrainierten Mann wie Ihnen passt?“ Ich wies auch das zweite Glas ab. „Passen Sie auf“, begann ich milde, „wenn ich ganz in Ruhe vor mich hin atme, nehme ich bis zu 300 Milliliter Sauerstoff aus der Luft auf, wenn ich Holz hacke oder mit der Axt hinter Ihnen herlaufe, dann steigert sich das um das Dreifache, und das muss noch nicht mal durch den Magen-Darm-Trakt, wo es sowieso ganz woanders wieder zum Vorschein kommt.“

Der Schlüssel knackte kurz im Schloss, schon stand Anne in der Kanzlei. „Was machen denn Sie hier schon wieder?“ Keck reichte er ihr ein Glas. „Wonach sieht es denn aus?“ Ihr Blick war schon vorher nicht übermäßig freundlich, hatte aber noch genug Potenzial, sich zu verfinstern. „Sie packen jetzt Ihr ganzes Abwasser zusammen und sind in zehn Sekunden auf der Straße, oder ich stopfe Sie mit Ihrem Sammelsurium in den Altglascontainer.“ „Alles in der Pfandflasche“, krähte er, „als moderne und nachhaltige Rechtsanwältin setzen sie natürlich auf umweltschonende Verpackungen und tun damit Ihren Kunden…“ „Ich habe keine Kunden“, zischte Anne. „Ich habe Mandanten, und Sie sollten sich schon mal einen Kollegen suchen, der Sie aus einer Anklage wegen Hausfriedensbruchs raushaut.“

Sie griff sich die Karte, die ich auf den Tresen gelegt hatte. „Wassersommelier“, las sie. „Was es nicht alles gibt, was man alles nicht braucht.“ „Das ist eine anerkannte Bezeichnung“, antwortete er mit gekränktem Unterton. Sie ging gar nicht darauf ein. „So weit ich weiß, kümmert sich ein Sommelier um Güter, die zwecks Veredelung im Keller aufbewahrt werden – vielleicht hat es sich nur nicht bis zu mir herumgesprochen, warum man Wasser einlagern muss, und dann auch noch unterirdisch.“ Er schmollte. „Er gibt ja auch Brotsommeliers.“ Anne schob eine Flasche nach der anderen wieder in die Träger hinein. „Wenn Sie mal nichts Besseres zu tun haben, setzen Sie sich in den Keller und denken nach. Wasser und Brot dürften Sie ja genug haben.“

Doch so leicht wollte er sich anscheinend nicht geschlagen geben. „Ich verkaufe Ihnen hier ja keine esoterischen Getränke“, erklärte er. „die anderen haben ja Edelsteinwasser im Programm oder eine spezielle Anreicherung mit Naturstoffen, wobei ich das sogar verstehen kann, wenn man die richtigen Mikroelemente reindosiert.“ „Lieber Freund“, sagte Anne mit einer ganz gefährlichen Sanftmut, „Sie dosieren sich Ihren Kram jetzt gerne sonstwo rein, und dann dürfen Sie gehen, ohne jemals wieder zu uns zu kommen.“ Sie drückte ihm das verbliebene Glas vom Tresen in die Hand, das er in einem Zug hinunterstürzte. Vielleicht war er etwas gekränkt, oder es war das Wetter, jedenfalls ging es ihm gar nicht mehr gut, als er hastig die Tür hinter sich ins Schloss zog. „Ich muss noch die Blumen gießen“, sagte Anne und griff nach dem Kännchen auf dem Tresen. Luzie leerte die letzte halbe Flasche stillen Brunnenquells in das Kupfergefäß. „Vielleicht hat er ja recht“, antwortete sie, „und eine moderne und nachhaltige Rechtsanwältin hat für jeden Anlass das passende Wasser.“





Sternstunden

29 03 2022

Sorgfältig schnitt Herr Breschke die Rasenkante. Wie mit dem Lineal gezogen verlief ein sauberer Saum am Rosenbeet. „So ein herrliches Wetter“, begrüßte er mich im Vorgarten. „Wir können gleich anfangen, die Säcke mit dem Strauchschnitt liegen im Keller.“

Vieles hatte ich erwartet, denn der Hausherr war ja nicht mehr der Jüngste. Eine fiebrige Erkältung, plötzlich einsetzende Gelenkschmerzen, leichter Schwindel durch eine verhobene Bandscheibe, alles das war schon einmal der Grund gewesen, ihm im Haus zu helfen, da plötzlich ein Rollo herabgefallen war oder eine Schublade sich verklemmt hatte. „Sie hatten doch gesagt, Sie könnten gerade nicht aus dem Haus?“ Er nickte. „Deshalb bleibe ich ja auch hier, nur bis zum Zaun – man soll sein Schicksal nie herausfordern.“ Er legte die Schere beiseite und zog die Handschuhe aus. Offenbar fehlte ihm nichts. Was mich sonst gefreut hätte, machte mich stutzig. „Ihnen bereiten zwei kleine Beutel mit Gartenabfall doch keine Schwierigkeiten?“ Breschke schüttelte energisch den Kopf. „Ich bitte Sie“, antwortete er, fast trotzig. „Die trage ich Ihnen eben herauf, und Sie stellen die bloß an den Bordstein, weil morgen früh Abfuhr ist.“ Jetzt begriff ich gar nichts mehr. Würde er sich beim Transport ernstliche Schäden zuziehen? Müsste ich fürchten, er verliefe sich auf dem Rückweg zur Haustür? „Sie werden das sicher für unnütze Vorsicht halten“, beharrte er, „aber ich bin nun einmal wachsam, was Gefahren angeht.“

Kurz war er in den Hauseingang getreten und hatte eine Illustrierte aus dem Postkörbchen neben der Tür gefischt. „Sehen Sie“, sagte er und blätterte das Heft auf. „Im Straßenverkehr lauern Gefahren, die ich nicht unterschätzen soll.“ Das also stand auf der Doppelseite von Linda, dem neuen Organ für Backrezepte und Hysterie, im Horoskop. „Herr Breschke“, stöhnte ich, „Sie wollen mir doch jetzt nicht weismachen, dass Sie auf Ihre alten Tage anfangen, an diesen Hokuspokus zu glauben?“ Er zog missbilligend die Augenbrauen in die Höhe.

Vor Jahren hatte der pensionierte Finanzbeamte durch ein Mitbringsel seiner Tochter die chinesische Tradition in Taiwan gefertigter Plastikarmbänder entdeckt, die seit Jahrtausenden mit magnetischem Kupfer und automatisch übersetzten Anleitungen an fitnessbewusste Europäer geliefert werden, um die Volksgesundheit bei schrumpfendem Geldbeutel zu stabilisieren. Da die Urlaubsvertretung von Doktor Klengel mit ihrem Versuch gescheitert war, seine rheumatischen Anfälle durch Zuckerkügelchen zu therapieren – genauer gesagt war es ihr schon nicht gelungen, ihn zur Einnahme dieser Süßwaren zu bewegen – hielten sich die Ausflüge ins Esoterische also in Grenzen. Was konnte nur geschehen sein? „Das Hundemagazin ist dreimal nicht gekommen“, erklärte er. „Irgendetwas muss ich ja nachmittags beim Tee lesen, und da meine Frau immer die Hefte hat…“ Deshalb also musste Horst Breschke nun in diesem als Sternstunden bezeichneten Unfug sein unabänderliches Los suchen. „Lieber Freund“, begann ich, „Sie werden sicher die Güte haben, mir zu erklären, warum Sie die Säcke nicht selbst hinaustragen.“ „Lesen Sie doch“, zeigte er auf den Abschnitt. „Straßenverkehr – alles vor dem Gartenzaun ist Straßenverkehr, deshalb muss ich auf dem Grundstück bleiben.“ Das erklärte einiges.

„Herr Breschke“, gab ich zurück, „Sie glauben daran, dass ein Zwölftel der Menschheit sich eine Woche lang zu Hause aufhalten soll, weil sonst ein gefährliches Übel ihnen droht? allen gleichzeitig?“ Er sah mich ungläubig an. „Ich habe mich doch bis jetzt daran gehalten, und es ist nichts passiert.“ Ich stöhnte auf. „Gibt’s keine Gefahren, so stimmt das Horoskop, weil man sich in Sicherheit gebracht hat, und passiert tatsächlich etwas, haben die Sterne ja ausdrücklich gewarnt.“ Möglicherweise war er ein bisschen gekränkt, aber darauf konnte ich nun keine Rücksicht mehr nehmen. „Übrigens stimmt diese ganze Berechnung sowieso nicht mehr.“ Er sah auf das Heft. „Es wird doch aber immer wieder neu berechnet, Woche für Woche?“ „Was sagt Ihnen denn der Begriff ‚Präzession‘?“ „Natürlich ist das sehr genau“, nickte Breschke, „das machen die ja beruflich.“ So kamen wir offenbar nicht weiter. „Es ist ein 2500 Jahre altes Modell, das den Himmel in zwölf Abschnitte teilt und ihnen Namen gibt wie Stier, Wassermann oder Widder, aber unsere Erde bewegt sich nun mal, die Erdachse neigt sich im Laufe der Zeit hin und her und der Frühlingspunkt verschiebt sich.“ „Sie wissen doch aber, dass ich im Winter Geburtstag habe?“ Wie sollte ich dem noch beikommen? „Die Jahreszeiten verschieben sich, und in diesen 2500 Jahren sind die Sternzeichen um eine Stelle weiter gewandert. Wären Sie nach dieser Aufteilung Wassermann, so sind Sie astronomisch korrekt nun eigentlich Steinbock.“ Verzweifelt sah Breschke mich an. „Um die ganze Sache genauer zu machen, eigentlich sind es dreizehn Sternzeichen, aber für die Astrologen in Babylon war die Zwölf eine heilige Zahl. Und einfacher zu berechnen.“

Herr Breschke drehte sich wortlos um, betrat den Flur und schritt auf die Kellertür zu. Ich ging ihm schnell nach. Gerade eben noch sah ich, wie einer der beiden Beutel mit Blattwerk, mit denen er die Treppe empor kam, mit scharfem Rauschen riss, so dass die Abfälle die Stufen hinab purzelten. „Wie ist das möglich“, keuchte er. „Das kann doch nicht sein?“ „Sie hätten dies Präzisionshoroskop besser lesen sollen“, erklärte ich. „Vielmehr das Datum, es ist das Heft der letzten Woche.“ Ich zog die neue Linda hervor. „Die Sterne empfehlen Ihnen, den Frühling bei einem Stadtbummel zu genießen. Das klingt doch vernünftig, oder nicht?“





High Five

2 12 2021

„Gleich geht es los!“ Herr Breschke rieb sich die Hände. Zwei Teller mit Gebäck und Nüssen balancierend erklomm er die Treppe zum ersten Stock, schob sich durch die Tür im kleinen Lesezimmer, im dem er ein Tischchen mit zwei Sesseln aufgebaut hatte. „Nehmen Sie doch Platz, es ist bestimmt gleich so weit!“

Nachdem ich es mir auf dem linken Sessel bequem gemacht hatte, setzte auch er sich. Alles war an seinem Platz, das Notebook war mit allem ausgerüstet, was man brauchte – mein Neffe Kester, der auf einen Sprung zwischen zwei physikalischen Expertentreffen bei mir vorbeigeschaut hatte, war so freundlich gewesen, die notwendige Technik ins Haus des pensionierten Finanzbeamten zu schaffen. „Ein großartiger Junge“, bestätigte der Hausherr, „er hat handwerkliches Talent, das sollte er zum Beruf machen.“ Er klickte ein bisschen auf dem Bildschirm herum, ich knabberte ein paar Nüsschen und sah ihm zu. In diesen Zeiten muss man den Advent eben modern feiern.

Und schon öffneten sich die Fenster. Mit einem sonoren „Guten Abend, die Herrschaften!“ ließ sich Staatsanwalt Husenkirchen vernehmen, offenbar im Kaminzimmer sitzend. Doktor Klengel, der alte Hausarzt der Familie, hatte leichte Schwierigkeiten, den dünnen Kopfhörer auf den Ohren zu halten, und sprach anfangs etwas abgehackt. „Was für ein Tag“, stöhnte es. Bruno Bückler, weithin als Fürst Bückler bekannt, Inhaber und Küchenchef des legendären Landgasthofs, saß auf dem Stuhl im hinteren Gastraum, während leise Glas und Teller klirrten. „Dann sind wir ja vollzählig“, stellte ich fest, doch Herr Breschke schüttelte den Kopf. „Ich würde doch die Runde niemals ohne Ihre…“ „Ich kann Sie hören“, zwitscherte es hell, bevor sich das Fenster öffnete. Anne war also auch da.

„Ich muss doch den Flaschenöffner irgendwo haben“, sinnierte der Hausherr. Das Werkzeug lag sicher im Korb, der wie eine gut sortierte Hausbar aussah, und ich wunderte mich schon, suchte aber lieber. „Mein lieber Herr Breschke“, hub da Herr Husenkirchen an, „angesichts dieser schrecklichen Nachrichten bin ich doch erleichtert, Sie so gesund zu sehen.“ Dazu hob er sein Glas, prostete in die Kamera und nahm einen großen Schluck. „Da neben dem Regal“, flüsterte Breschke mir zu. Offenbar hatte er mit allem gerechnet und sich eine Auswahl an Gläsern bereitgestellt, so dass er nun seinem alten Bekannten zutrinken konnte. „Hätte etwas kälter sein können“, flüsterte er. Dem Etikett nach musste Breschkes Tochter die Flasche besorgt haben, jedenfalls handelte es sich um einen original Bordeaux Frères aus Frankenreich, und das sind ja bekanntlich die besten.

Während Doktor Klengel von der Leidenschaft des Fotografierens erzählte, schlürfte er genüsslich einen Grog von Rum nach altem Hausrezept, das sicher von einem Wasserscheuen erfunden wurde. Heißes Wasser war auf die Schnelle nicht zu haben, also goss Breschke ein bisschen Sprudel ins Glas, das er großzügig mit der Spirituose auffüllte. „Zum Wohle“, rief er, „Zucker muss ja nicht!“ Bruno seinerseits tat sich am Wodka gütlich, was leichte Verlegenheit hervorrief. Ich runzelte die Stirn. „Das scheint mir hier ein regelrechtes Besäufnis zu werden“, tadelte ich den Alten. „Sie können doch nicht alles durcheinander zu sich nehmen.“ Er aber winkte entschiednen ab. „Erstens ist nur einmal im Jahr Weihnachten, und zweitens gehört es sich doch nicht, dass man hier einer Herrenrunde…“ „Ich kann Sie hören“, ließ sich Anne vernehmen. Mehr als eine Bierflasche hatte sie nicht auf dem Tisch, aber das war sicher der Tatsache geschuldet, dass sie spät abends noch in der Kanzlei saß.

Irgendwie musste es Breschke versehentlich gelungen sein, alle Fenster zugleich vom Monitor verschwinden zu lassen, jedenfalls teilte er mir die Regeln dieser Festlichkeit mit zaudernder Zunge mit. „Ich kann doch nicht alle einladen und dann etwas anderes trinken“, bekräftigte er. „Stellen Sie sich mal vor, ich würde jetzt mit Tee…“ „Ist ja auch erst der dritte“, krähte es fröhlich. Doktor Klengel poppte auf, Bruno Bückler schüttete sich aus vor Lachen. Vor Schreck setze Horst Breschke den Wein an. „Das musste ja so kommen!“ Staatsanwalt Husenkirchen guckte schon glasig aus dem Fenster. „Dass wir hier alle noch einmal so gemund und sunter hier alle zusammen…“ Es musste ein guter Tropfen gewesen sein.

Das Gebäck erwies sich als gute Ablenkung, schnell wechselte Bruno das Thema aufs Backen, von Anne tatkräftig unterstützt. „Merken Sie sich’s schon mal fürs nächste Jahr“, flüsterte ich, „dann bietet sich eine virtuelle Kaffeetafel an.“ Bruno schimpfte ein wenig auf Hansi, den Bruder und Chef des Service, bevor er sich kräftig nachgoss. Doktor Klengel war drauf und dran, zweideutige Anekdoten aus der Geschichte seiner Praxis zu erzählen. Nur Herr Breschke guckte ängstlich auf den Bildschirm. „Sie wollen doch Ihre Gäste jetzt nicht alleine lassen“, fragte ich, „was macht das für einen Eindruck?“ Er griff zu den Plätzchen. „Sie hätten auch eher etwas nehmen sollen wie…“ Ich schaltete vorsichtshalber alle Gäste stumm, das heißt: ich versuchte es. „Ich kann Dich hören.“ Anne hielt ihre Flasche in die Linse. „Ja, es ist alkoholfrei, und nein, es ist nicht freiwillig.“

Staatsanwalt Husenkirchen äußerte noch einmal seine Freude, wie jung alle zusammengekommen seien, Doktor Klengel bekam Schluckauf. Ich schloss die Konferenz und Herr Breschke atmete sichtlich auf. „Das Gute an der Technik“, kicherte er, „das Gute ist doch, dass man danach nicht mehr nach Hause muss.“





Meistersinger

7 10 2021

„Wagner“, stöhnte Anne. Ihr Gesicht sank erheblich und ließ das Grauen mehrerer Abende in der Oper erahnen. „Wenn ich ihn schon ertragen muss, dann bitte nicht auch noch bei Wagner.“ Sie ließ sich in den gepolsterten Sessel sinken wie Amfortas, aber das war sicher nur ein Zufall.

„Er ist sein Großneffe.“ Dass Staatsanwalt Husenkirchen einen solchen in der Familie gehabt haben könnte, hätte wohl niemand bezweifelt. Aber dieser Husenkirchen, frisch promoviert und nur ein paar Jahre jünger als die Strafverteidigerin mit der inzwischen gut eingeführten Kanzlei, er war sich sicher, dass er als Teil der Familie nur würde Erfolg haben können, wenn er die passende Frau an seiner Seite hätte. „Ausgerechnet ich“, knurrte sie, „er hat auf dem Juristenball beinahe einen Preis gewonnen für den dämlichsten Auftritt des Jahrhunderts.“ „Er war ein bisschen zu undiplomatisch“, grinste Luzie, während sie die Akten im Hängeschrank verteilte. „Augen auf bei der Berufswahl!“ Jedenfalls oblag es nun Anne, einen Opernabend auszusuchen, an dem sie seine Begleitung und natürlich zwei sehr gute Plätze im ersten Rang bekommen sollte. Der Patriarch galt als freigiebig und hatte dem Theater bereits mehrfach große Spenden zukommen lassen, es würde sich um die Mitte handeln. Erste Reihe.

„Bitte nichts Kompliziertes.“ Luzie schloss mit erheblichem Geräusch den Auszug. „Er hat es mit der Tochter von Regierungsdirektor Schlippenbach versucht“, berichtete sie, „Hamlet – schon im ersten Akt hat er sie zu einer Diskussion genötigt, ob der Prinz nun eine tief greifende Bewusstseinstörung durch das traumatische Erlebnis des Vatermordes hat oder eine schwere seelische Abartigkeit, die zur Schuldunfähigkeit führt.“ „Ich möchte raten“, gab ich zurück, „er studiert Jura in Wittenberg, das löst im Regelfall eine Persönlichkeitsstörung aus.“ Anne kicherte. „Leider wird das schwierig, in der Oper wird auch überwiegend gemordet oder wenigstens kurz nach der Arie gestorben.“ Luzie wusste sich keinen Rat. „Es ist kompliziert.“

Dabei hätte sie schon etwas beizutragen gehabt. Seit längerem hatte sie in Minnichkeit, inzwischen Büroleiter einer angesehenen Steuerberatung, einen treuen Begleiter im Musiktheater, obgleich er die Reisen nach Verona und Bregenz bevorzugte, wenn dort Rodolfo eine randgeschmeidigere Tessitura zu bieten hatte. Oder was immer der Opernführer für solche Gelegenheiten vorsah. Luzie genoss nach wie vor das Abonnement des Staatstheaters, quälte sich durch endlose Vokalmeetings der Romantik, die man mit einem postmodernen Videocall hätte von der Platte putzen können, und genoss dafür den Fioriturenschmelz der italienischen Schule, für die sich Minnichkeit allenfalls physiologisch erwärmte. Einer von beiden grämte sich im Parkett, aber der andere merkte es nicht oder nahm es wenigstens nie zur Kenntnis, beide sprachen sie nicht darüber und fanden alles ganz wunderbar, und so hatten sie eine der schönsten unglücklichen Lieben, über die man eine Oper hätte verfassen können, wenn es denn je einen berührt hätte.

Ich schlug das Programmheft auf. „Gut, es ist Wagner, aber: Meistersinger.“ „Schrecklich“, rief Anne. „Wahrscheinlich werde ich mir einen Vortrag über Wettbewerbs- oder Urheberrecht anhören, oder es wird eine längere Debatte über Misshandlung von Schutzbefohlenen.“ Luzie sah mich fragend an. „Hans Sachs schmiert seinem Lehrling eine.“ „Da bleibt dann nur noch Mozart.“ Abgesehen davon, dass es sich um ein bereits ausverkauftes Gastspiel handelte, gaben sie Don Giovanni – der jugendliche Freier würde sehen, wie der Protagonist den Alten zu Beginn absticht und dann zum Ende von ihm in die Hölle gezogen wird. „Für mich ist das Mord“, sagte Luzie. „Eugen Onegin wird wieder in den Spielplan aufgenommen“, stellte Anne fest. „Lenski ist natürlich selbst schuld“, beharrte ich, „er hätte sich ja nicht duellieren müssen.“ Doch sie schüttelte nur den Kopf. „Allein darüber müsste ich dann eine stundenlange Abhandlung ertragen.“ Die beiden Puccinis – einmal Ehe mit einer 15-Jährigen samt Entziehung Minderjähriger und Suizid, einmal eine Fluchthelferin, die neben Strafvereitelung und Erpressung auch noch Mord auf dem Kerbholz hat und ebenfalls freiwillig aus dem Leben scheidet – schieden aus. „Fledermaus?“ Anne riss die Augen auf. „Die Silvestervorstellung? dann halse ich mir eine Debatte über Sicherheit im Justizvollzug auf, wenn man eingesperrt wird, ohne den Haftrichter zu Gesicht bekommen zu haben, und umgekehrt.“ Aus ähnlichen Gründen fiel auch der Weihnachtsabend flach. „Hänsel und Gretel! Vernachlässigung des Kindeswohls in mehreren Fällen, Aussetzung, ein spektakulärer Fall von Freiheitsberaubung zur Verwirklichung von Kannibalismus, und von den baurechtlichen Versäumnissen an der Hütte wollen wir gar nicht erst anfangen!“ „Das ist noch nicht alles“, ergänzte ich, „auch die Hexe wird ja zu Lebkuchen gebacken. Die Kinder sind zwar nicht strafmündig, aber das Inverkehrbringen einer Hexe als Backware dürfte lebensmittelrechtlich doch zu beanstanden sein.“

„Dann bleibt nur Verdi.“ Zwar ist jede auf dem Kopf stehende Straßenkarte leichter verständlich als die Werke dieses Italieners, aber wenn einer drei Stunden dauernde Terzette schreiben konnte, dann er. „Ein älterer Herr gräbt zwei Damen gleichzeitig an, muss sich in einem Wäschekorb verstecken und irgendjemand heiratet irgendjemanden.“ Anne hob eine Augenbraue. „Keine Toten?“ Luzie schüttelte energisch den Kopf. „Gut, ich rufe Husenkirchen an. Vortäuschung falscher Tatsachen ist kein klarer Rechtsbegriff. Das wird ein schöner Abend.“