
Gernulf Olzheimer
Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.
Fragt man Menschen im vorgerückten Alter, sie werden überdurchschnittlich oft von den guten alten Zeiten schwärmen, in denen alles noch besser war, weniger schnell und ermüdend, gesünder, tiefer in seiner Befriedigung und mehr getragen von dem nachhaltigen Bewusstsein, in einem qualitativ sich gut entwickelnden Dasein eine richtige Rolle zu spielen – im Gegensatz zu dem Zerrbild, das sich heute als Wirklichkeit ausgibt, mühsam als billige Fassade an die nackte Wand des sozialen Rohbaus getackert, hinter deren Kulisse besser keiner guckt. Da plärren die Gesellschaftsingenieure auf: aber die Zukunft! Flugtaxis! Künstliche Intelligenz! alles bollert mit synthetischem Sprit über Autobahnen! Wozu, möchte man fragen, brauchen wir da noch Zukunft, wenn uns das Ende der Geschichte, wie wir sie kennen, schon prophezeit wurde?
Früher bestand der Geschichtsunterricht daraus, Schlachten auswendig zu lernen, doch wir warten noch immer auf das Ende der Kriege. Was uns verheißen war, sollte nicht weniger sein als die endgültige Befriedung der Welt in einem Zustand der Ultrastabilität, äußerlich geprägt durch die aus militärischen Katastrophen gewachsene Erkenntnis, dass nur Allianzen uns als Menschheit solidarisch retten können, innerlich gefestigt vom Gedanken der christlichen Gesinnungsethik, dürftig mit der Schminke des Kapitalismus als Religionssurrogat verspachtelt, das nur für Grab- und Sonntagsreden reicht, ansonsten aber nur für grobes Grinsen. Die liberale Demokratie sollte das Allheilmittel sein.
Bündnisse hin, Verflechtungen her, allein in der Institution der Nationalstaaten gerinnt die übliche Trennung zwischen uns und allen anderen zu einem bei jeder Gelegenheit produktiven Anlass, den Bekloppten Wurstbrot und Sonnenschein zu versprechen, auf dass es ihnen besser gehe als den Bescheuerten jenseits des Schlagbaums. So dumm wäre kein machthungriger Politiker im Wahlkampf, dass er in seinem Regierungsbezirk, in seinem Staat oder sonst wo stünde und verspräche, dass es den Nachbarn bald genau so gut ginge wie dem eigenen Volk; man würde ihn mit dem Schlagring aus dem Bierzelt jagen und sich eine verlogene Arschgeige holen, die im Vollrausch der Machtbesessenheit ein intellektuell abgehängtes Stückchen Agrarland zur Krone der Zivilisation erklärt und als künftiges Zentrum des Kontinents in die Annalen schwiemelt. Es hat immer funktioniert, es wird auch weiterhin anstandslos funktionieren.
Denn was den Menschen, wenigstens denen mit westlich zentrierter Blickrichtung, eingetrichtert wurde, ist das angebliche Ende aller größeren transnationalen Konflikte unter dem Zuckerguss der kapitalistischen Globalisierung, die heimlich dazu benutzt wird, auf nationaler Ebene die guten alten Ängste zu bedienen, wenn wieder ein Konzern in ein anderes Land abzuwandern droht, weil ihm dort noch höhere Subventionen gezahlt werden, weil der Markt mal wieder anders regelt als erhofft. Einige Kulturen, die sich partout nicht in die westliche Geschichte einordnen, führen ein kapitalistisches Schisma herbei: China, die arabische Welt, die afrikanischen Militärdiktaturen, allesamt nicht an der Demokratie interessiert, nicht einmal an der marktkonformen, schließlich die alte Sowjetunion, die sich als neues Russland verkleidet, alle sie sind treffliche Gegenbeispiele von Kulturen, die in offener Feindschaft auftreten gegenüber einer als dominant empfundenen westlich-reformierten Politik, die auf Narrativen wie dem calvinistischen Gruppenethos oder der unsichtbaren Hand beruht, nicht aber auf dem Eingeständnis, dass jahrhundertealte Sprach- und Herrschaftsgrenzen mit einer Heilslehre nicht wegzuradieren sind, vor allem nicht dann, wenn zentrale Versprechen wie Aufstieg, Wohlstand und Vorsorge sich als dünnes Geschwätz entlarven lassen.
Vor allem aber versagt diese Erzählung, wenn die Menschheit als Ganzes vor ihrer Auslöschung steht, während die Macher der Geschichte sich mit fadenscheinigen Lügen aus der Affäre ziehen oder mit aggressiven Beschuldigungen alle anderen für die Katastrophe verantwortlich machen wollen. Die Rettung der Welt ist auf nationaler Ebene schwer zu bewerkstelligen, denn auf den Wettbewerb kam es nie an. Wo die beste aller Welten in der Theorie bereits so gut wie existierte, konnte man sich als Nutznießer gemütlich zurücklehnen und dem Paradies beider Entstehung zusehen. Wir haben in einem global vollkommen versaubeutelten System gelähmt zugesehen, wie der Wasserstand langsam bis an die Dachoberkante anstieg, und jetzt sind wir überrascht, dass das Wasser nicht nur in einer der vielen Statistiken erscheint, sondern höchst real ist. Auch das könnte das Ende der Geschichte sein, das Ende sämtlicher Geschichten sogar, und es gibt die eine oder andere Religion, in der man den falschen Propheten die Rübe weghaut. Sollten wir nicht den Kulturen, die wir so fleißig ausgebeutet haben, ein wenig entgegenkommen, könnten wir die Propheten sein. Denn Identität ist nach wie vor ein probates Mittel zur Sinnstiftung, und nach wie vor ist es die Utopie. Keiner hat behauptet, dass wir darin die Hauptrolle spielen müssen. Oder bis zum Ende.
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