Wolfgang Schäuble lutschte am Daumen. Fluchend rollte er durch das Haus, einhändig, denn noch immer saugte er an der Fingerkuppe. Er hob den rechten Arm, als er den Pfleger sah. „Nicht so schlimm“, befand der Fürsorger, „nur eine Quese. Sie müssen mit der Maultaschenzange ein bisschen vorsichtiger sein.“
Der Minister zog die Stirn in tiefe Sorgenfalten. Was, wenn er sich tatsächlich einmal in den Finger schnitte? Die Bundesbürger würden ihr Leben ganz normal weiterleben, alle wären fröhlich und gingen ihrer Arbeit nach, sie würden ihre Kinder in die Schule schicken und vom Kindergarten abholen, ihre Fahrräder in den Fußgängerzonen abstellen, sich abends mit den Nachbarn über den Gartenzaun hinweg unterhalten und Balkonblumen gießen – keiner käme auf die Idee, islamistische Terrorzellen zu gründen und das Regierungsviertel in die Luft zu sprengen. Richtungslos würde die Republik in den Abgrund wanken. Man würde keine Bundeswehr mehr im Inneren brauchen und keine biometrischen Merkmale mehr auf die Oberarme der Untertanen tätowieren können. Das nackte Grauen drohte.
Schäuble handelte sofort. Blutkonserven zu besorgen sei eine leichte Übung, teilte ihm sein Hausarzt mit; allerdings sei in den Sommermonaten wie immer mit Engpässen zu rechnen, so dass ein Anruf im Bundesgesundheitsministerium ratsam sei. Auf dem kleinen Dienstweg ließe sich das sicher schnell erledigen.
Ulla Schmidt bedauerte. So einfach sei das nun nicht, teilte die Krankenkassiererin mit. Da man die ganzen Schwulen nicht mehr anzapfe, stehe viel weniger Blut zur Verfügung. Schäuble traute seinen Ohren nicht. Ein Telefonat mit dem Deutschen Roten Kreuz bestätigte es ihm. Homosexuelle seien generell als HIV-Risikogruppe eingestuft und dürften weder Blut noch Plasma spenden. Zwar sei, was die Lebensgewohnheiten homosexuelle Frauen angehe, kein Unterschied festzustellen, aber die dürften wenigstens noch zur Ader gelassen werden. Bis auf weiteres jedenfalls.
Es war Sommer, die Krankenhäuser rotierten. Die Motorradunfälle häuften sich, ein schwerer Zusammenstoß beim Auffahren auf das Ende eines Urlauberstaus gehörte zum Tagesgeschäft in der Notfallchirurgie. Die Transfusionen versickerten im Klinikbetrieb wie zwischen den Zähnen eines Vampirs. Nur sporadisch kamen neue Spender, die sich für ein ausgiebiges Frühstück eine Kanüle in den Arm rammen ließen. Manche verweigerten aus Solidarität mit den diskriminierten Schwulen ein Blutopfer, andere warteten noch auf die Novelle des Transfusionsgesetzes, die den Bundestag erst noch passieren sollte. Ulla Schmidt musste alle Wünsche unter einen Hut bekommen, was, wie zu erwarten, keine leichte Aufgabe war.
Die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung ließ die Gesundheitsministerin schon vorab wissen, dass die deutschen Dentisten nicht einsähen, sich der Gefahr einer AIDS-Infektion auszusetzen. Schwule hätten beim Zahnarzt nichts zu suchen. Man sei zwar mit einer Anhebung der Vergütung durchaus einverstanden – ab dem elffachen Satz sei man gewillt, das blutige Geschäft zu betreiben – würde aber keinerlei Gegenleistung in Aussicht stellen. Der Kompromiss wurde sofort umgesetzt.
Auch der Fall des Alois Gräselhuber führte zu Diskussionen. Der Ehrenprälat aus dem schönen Dinkelsbühl hatte beim Ausfüllen des üblichen Fragebogens vor der Spende zwar ordnungsgemäß angegeben, dass er nicht in einer monogamen Beziehung lebe, was ihn eigentlich ausgeschlossen hätte, doch verschwieg er arglistig, dass er alle drei bis vier Monate nach Thailand reise. Es fiel nicht auf, denn eine Prüfung der Angaben war ohnehin nicht vorgesehen. Die Kontrolle der Blutprobe lief ordnungsgemäß, so dass Hochwürden schon am selben Tag erfuhr, dass er sich bei dem achtjährigen Mädchen vom Straßenstrich in Pattaya nicht nur eine Pilzinfektion geholt hatte. Das Ministerium wiegelte ab. Nicht alle Männer seien nun gleich als Risikogruppe zu betrachten. Es reiche vollkommen, sämtliche Katholiken auszusondern. Außerdem habe es sich auch nur um Hepatitis C gehandelt.
Der Katholische Deutsche Frauenbund meldete Protest an. Die Diffamierung sei nicht hinnehmbar. Familienministerin Ursula von der Leyen gab zu bedenken, dass die eheliche Treue der beste Schutz vor AIDS sei; es wäre vollkommen ausgeschlossen, dass sich langjährig verheiratete Männer etwa beim Bordellbesuch anstecken könnten.
Unterdessen hob Schmidt nochmals hervor, dass jede Blutspende gewissenhaft geprüft werde; das Risiko, sich an einer Transfusion zu infizieren, liege bei eins zu anderthalb Millionen. Dies sowie die Tatsache, dass Schwule, die ihre Orientierung einfach verschwiegen, selbstverständlich weiterhin Blut spenden dürften, minimierten die Gefährdung auf ein vertretbares Mindestmaß. Das Gesetz sei auf einem guten Weg.
Wolfgang Schäuble hatte genug. Sein Hausarzt riet ihm dazu, sich selbst Blut abnehmen zu lassen. Das sei in der Charité eine Routinesache, ein Dutzend Beutel mit Erythrozyten-Konzentrat wären für den Anfang völlig ausreichend, um im Falle einer Notoperation gut versorgt zu sein. Jeweils ein kleiner Pieks in die Vene, das sei es auch schon. Der Minister schwitzte. Er ballte seine Faust, während er den Musterungsfragebogen ausfüllte. Der Klinikarzt überflog das Papier und zeriss es. Schäubles Gesicht verfärbte sich blutrot vor Zorn. „Sollen wir lügen, Herr Minister?“, tadelte er den Politiker. „Was meinen Sie wohl, warum wir nach psychiatrischen Auffälligkeiten fragen?“
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