Warten auf den großen Kürbis

30 10 2013

Hildegard bremste abrupt. Ich stieß mich fast an der Windschutzscheibe. „Und jetzt Beeilung“, drängte sie. „Wir werden nicht die einzigen Kunden sein.“ Wir waren auch nicht die einzigen Kunden. Sie hatten den Großmarkt schon für andere geöffnet.

Die Dekoration ließ keinen Zweifel aufkommen, wir befanden uns im Herbst. „Warum müssen wir ausgerechnet heute zum Großmarkt“, begehrte ich auf, „für ein paar Tüten Bonbons hätten wir auch zum Discounter gehen können.“ „Es geht aber nicht um ein paar Bonbons“, erklärte sie mir. „Wir haben Halloween, und ich möchte nicht schon wieder so eine Blamage wie im letzten Jahr haben.“ Es stimmt, das vergangene Fest war nicht gut verlaufen. Es bestand von meiner Seite aus in einem halben Dutzend Tüten Süßigkeiten, die bis einen Tag davor spurlos verschwunden waren. Meine Gefährtin hatte zudem über heftige Magenbeschwerden geklagt, mochte keinen Kürbiskuchen kosten und war ungehalten, als die ersten Kinder klingelten. Das dufte sich nicht noch einmal wiederholen. Und das rechtfertigte auch den Besuch im Großmarkt. Was sich wohl auch die anderen zehntausend Käufer gedacht haben mussten.

„Ein paar Sachen können wir ja schon mal mitnehmen“, informierte mich Hildegard und legte zwei Päckchen brauner Papierservietten mit gelben Flecken in den riesigen Einkaufswagen. „Meine Schwester soll nicht denken, dass Du keinen Wert auf Tischkultur legst.“ „Ich bin Dir durchaus dankbar“, replizierte ich, „dass ich schon vorher von Deiner Schwester erfahre. Wann hattest Du es mir sonst sagen wollen?“ „Jetzt hab Dich nicht so!“ Sie tat gekränkt. „Es ist ja nur dies eine Wochenende, und ich gehe davon aus, dass sie bis Sonntag auch wieder abgereist ist.“ Das hatte meine Frage natürlich nicht beantwortet, aber mit den Servietten hatte das nichts zu tun. Hildegard legte zu den braunen auch noch je eine Packung rote, gelbe, weiße, hellblaue, dunkelblaue und beige Servietten mit Motivdruck. „Wenn wir schon einmal hier sind, können wir auch gleich an diese Kleinigkeiten denken. Du würdest Dir ja nie Servietten auf Vorrat hinlegen.“ Damit hatte sie recht; meine Schränke waren so prall gefüllt mit ihren günstig auf Vorrat erstandenen Waren, für Servietten war dort einfach kein Platz mehr.

„Die Girlande würde sich gut im Wohnzimmer ausmachen.“ Nur knapp entwand ich ihr eine unförmige Papierschlange. „Das Ding kommt nicht über meine Türschwelle“, bestimmte ich. „Es schließlich Halloween.“ Damit hatte sie recht, aber das nützte mir wenig. „Dann hängen wir es einfach vors Arbeitszimmer“, beschied Hildegard, „und auf die Schränkchen im Flur stellen wir ein paar Zierkürbisse.“ Die kleinen, schrumpeligen Früchte glänzten farbenfroh, was daran lag, dass es sich um absolut natürlich nachgemachten Kunststoff handelte. Schon hatte sie einen ganzen Schwung in den Einkaufskorb gehebelt. „Du hast ja nie welche im Haus, und wo wir schon einmal hier sind.“

Nie wird sich mir der Sinn erschließen, alle verfügbaren Schränke und Regale, Tische und Fensterbänke mit Kürbissen vollzustellen. Nicht einmal zu anderen saisonalen Anlässen konnten mich grotesk anmutende Schrumpelknollen dieser Art reizen, zumal sich diese Objekte ästhetisch nur schwer in Schleiflack und Muranoschälchen einbetten ließen. Und so hatte ich mich erfolgreich gegen jegliche Art von Kürbisbefall in meiner Wohnung gewehrt. Bis jetzt. „Diese kleinen braunen passen überall hin“, befand sie. „Du müsstest bloß das graue Sakko von der Garderobe nehmen, und den Mantel hängst Du solange einfach ins Arbeitszimmer. Es ist ja bald Ostern.“

Schon hatten wir den Nippes-Gang erreicht. „Bitte keine Kerzen“, flehte ich. „Ich koche Kürbissuppe für Deine Schwester und Breschkes, aber bitte keine Kerzen!“ Doch es war schon zu spät. Hildegard hatte die Stellage erklommen und langte nach Stearinklumpen in Form von Kürbissen, Totenschädeln, Spinnen und ähnlichen Formen, die den Herbst über in meiner Wohnung verbleiben sollten. „Diese verfluchten Staubfänger werde ich nicht aufstellen“, entschied ich. Wir einigten uns auf eine Lage Kerzen. Immerhin sah man dadurch die Servietten nicht mehr.

Der freundliche Verkäufer hatte alle Hände voll zu tun, Hildegard und die andere Kundin zu trennen. „Sie hat angefangen“, kreischte die Dame, „sie hat angefangen!“ Hildegard strich sich eine Strähne aus dem verschwitzten Gesicht. „Ich habe diese Kürbislichter zuerst gesehen“, keuchte sie, und das stimmte. Wie ein Berserker hatte sie sich auf die letzte Schachtel mit den fürchterlichen elektrischen Blinklampions gestürzt. Der Verkäufer bot verlegen LED-Fledermäuse aus Plastik und Taiwan an, aber die Kontrahentinnen boten einander die Stirn. Ich lehnte mich gegen den großen Korb mit Kürbisgeschenkpapier. Jetzt half nur Warten.

Hildegard humpelte, griff aber beherzt in die Auslage den Papierlampions. „Fledermäuse“, gurgelte sie. „Fledermäuse!“ Zu den kleinen Gespenstern im Doppelpack und den Kerzenleuchtern in Form eines Baums, der sich als Knochenmann verkleidet hatte, gesellten sich eine böse Fee, die auch als Putzlappen zu gebrauchen war, und ein paar keltischer Sagengestalten, namentlich Zombies, Zauberlehrlinge und Untote aus dem Hollywoodkino. Eine Schaufel voller Kürbispuppen, also kürbisförmigen Puppen, die man auch für puppenartige Kürbisse halten konnte, rundete das Ensemble ab. „Fahr doch schon mal zur Kasse“, schlug sie vor, doch diese verdächtige Leichtigkeit war mir Warnung genug. Ich schon sie an dem zweiten Ständer mit Kürbisdruck-Vorhängen vorbei und bugsierte die Einkäufe zum Laufband. Ein Wagen voll reichte aus.

Wenige Stunden später hatten wir die Waren auf dem erstaunlich preiswert angemieteten Hänger verstaut – das Gesamtgewicht vertrug sich knapp mit der Führerscheinklasse – und quetschten uns in das Gefährt, das gefährlich tief auf der Straße lag. Hildegard gab Gas. Schwerfällig legte sich der Wagen in die Kurve, einem Panzer gleich, zumindest von der Geräuschentwicklung, wenn auch der Fahrkomfort eines Tanks deutlich besser sein musste. Wenige Sekunden nach dem Bremsen verlangsamte sich das Fahrzeug und drückte mich sanft in den Sitz zurück. „Warte hier“, ächzte Hildegard. „Ich hole noch eben schnell eine Tüte Bonbons.“





Aller Seelen Heil

1 11 2010

„… befand der Vorsitzende der Jungen Union, Philipp Mißfelder, bei den alljährlichen Umzügen zu Halloween, das seit einem Jahrzehnt nun auch in Deutschland gefeierte keltische Fest sei ein Angriff auf christliche Werte, so dass man schon eine…“

„… natürlich für Gelächter, dass der Schreihals wieder einmal nichts ausgelassen habe, um sich mit seiner mangelhaften Bildung auf die Titelseiten der Unterschichtenpresse zu…“

„… sich von Mißfelders Diktion abzugrenzen. Die Bundeskanzlerin, die bestrebt war, sich auf der Gedenkveranstaltung der Opfer im Kampf gegen die Demokratie einigermaßen deutlich zu äußern, betonte, liberal, christlich-sozial und konservativ solle man doch sagen können dürfen zu müssen, es handle sich in Wahrheit um die jüdisch-christlichen Werte, die…“

„… konnte nicht ausbleiben, dass auch Geert Wilders de erste Verwirrung ausnutzte, um seiner neuen Freundin Angela beizuspringen und zu erklären, man wolle diese islamistischen Umtriebe, das Verschleiern von Kindern und Jugendlichen und die Terrorangriffe auf Klingelknöpfe, nicht mehr länger dulden. Man müsse, so Bundesinnenminister de Maizière, als Eltern darauf eingerichtet sein, dass auch ohne ein Entschuldigungsschreiben kein Recht auf Widerstand gegen die Wasserwerfer der…“

„… fragte der Deutsche Philologenverband, ob eine solche Missbilligung der einfachsten Schul- und Erziehungsinhalte, wie sie der Populist der JU einmal mehr unter das Volk gemischt habe, nicht erst recht dazu führe, die Leitkultur nachhaltig zu schädigen. Man wisse schließlich, dass auch Ostern und Weihnachten mit ihrem Volksbrauchtum nur eine semantische Überformung von…“

„… stellte die ehemalige Ratsvorsitzende fest, dass es sich keinesfalls um eine Verdrängung der lutherischen Tradition handele; Käßmann wies darauf hin, dass der Reformationstag zudem nicht in Konkurrenz zu dem katholischen Fest stehe – Luthers Geburts- und Sterbetag sowie der 25. Juni als Tag der Augsburger Konfession seien zuvor festlich begangen worden, der erste November-Sonntag sei in der Schweiz das gängige Datum – und erst 1667 durch Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen auf den Vorabend von Allerheiligen gelegt worden sei; diese zeitliche Koinzidenz sei zufällig. Mißfelder antwortete in seiner Rede anlässlich der Besichtigung von Ausnüchterungszellen in Berlin, er diskutiere gar nicht erst mit Personen, die vom Katholizismus keinen blassen Schimmer…“

„… natürlich noch weiter, weil Mißfelder die in äußerster Wut geführte Auseinandersetzung nicht versachlichen wollte – es dürfe doch nicht sein, verkündete der Nachwuchs-Sarrazin, dass man Kinder mit Monstermasken zum Bonbonbetteln auf die Straße schicke, denn genau hiermit werde die Anspruchshaltung jenes Hartz-IV-Parasitenpacks erzeugt, dass man im anstrengungsloser Dekadenz an Zuckerzeug seinen Wohlstandsbauch mästen könne, um Geld aus den Regelsätzen zu sparen für Sportwagen, Ferienhäuser am Starnberger See oder Privatflugzeuge, während kinderlose Millionäre mit dem Schicksal leben müssten, vom geliebten Staate nicht einmal das Elterngeld gekürzt zu bekommen, so dass man als Leistungsträger kaum noch jene jüdisch-christliche Vorweihnachtsfreude empfände bei dem Gedanken, wie viele Neger ganz umsonst für die Rendite von Rüstungsaktien…“

„… sickerte dann durch, dass Alice Schwarzer weniger von den freiwillig vermummten Kindern in ihren antisemitischen Bedürfnissen gestört werde, sie empfände es nur als eine Zumutung, dass die Kleinen schon seit drei Jahren mit brennenden Laternen vor ihrem Haus das Lied Da wohnt die alte Schrumpelhex intonierten und…“

„… geriet Mißfelder in Zorn, als er der Presse einhämmerte, dass minderjährige Personen nach Einbruch der Dunkelheit in die Obhut ihres gesetzlichen Vormundes gehören und nicht mit Kerzen oder anderweitigen Beleuchtungsterror erzeugenden Bedrohungsobjekten…“

„… für einen weit verbreiteten Alltagsirrtum zu halten. Prof. Dr. Dr. Dr. Peire Finkelstajner erläuterte, die Entwicklung keltischen Brauchtums einschließlich der Feste im christianisierten Europa sei nicht mehr als eine von vielen ethnologischen Hypothesen, allerdings eine, die auf dem Kontinent keine Anhänger finde. Die Kulturanthropologin, die den renommierten Eugenie-Goldstern-Lehrstuhl für Kontinuitätsforschung innehat, betonte zudem, dass die Festelemente der Lostage und Heischebräuche erheblich älter seien als der Katholizismus und in nahezu identischen Formen über das ganze Festland verbreitet wurden. Der christliche Rechtspopulist erwiderte, er äußere sich genau dann zu der polyatheistischen Hetzpropaganda gewisser Kreise, wenn diese ihre jüdischen Werte nicht länger…“

„… verbat sich Pater Anselm Zirbler (Pfarrei St. Vitus in Reuth) die Geschmacklosigkeit des CDU-Schreihalses. Zu gegebener Zeit werde man seinen Einfluss geltend machen, zuvor aber rate er allen Mitgliedern der Jungen Union dringend ab, den jährlichen Laternenumzug am Martinstag durch ihre Anwesenheit zu stören oder eventuell…“

„… schon als neues Sendeformat gehandelt: viele Kinder, unsichere Beleuchtungsverhältnisse, Stephanie zu Guttenberg wollte sich mit versteckter Kamera auf Jagd begeben und suchte bereits in BILD nach Protagonisten, die für eine Handvoll Vollmilch-Nuss im Unterschichten-TV Süßes für Saures vorzumachen…“

„… brüllte Mißfelder in die Mikrofone, die Moslems auf Borneo würden ihr Zuckerfest inzwischen im jüdischen Teil der christlichen Leitkultur von Deutschland feiern wollen, mithin sei der Islam doch nur an Karies und Fettsucht interessiert und wolle den Krankenkassen wie die bolschewistischen Untermenschen der Ökostrom- und Internet-Lobby das Mark aus den Knochen…“

„… wusste Angela Merkel nicht, was sie auf diese Anfeindungen entgegnen sollte, immerhin konnte sie dem Ausspruch ihres Rechtsablegers, die Kelten seien ein nicht integrationsfähiges Volk, kaum mit einer Meinung begegnen, denn dies sei die Union nicht gewohnt – ‚Multikulti ist tot‘, gab die Regierungschefin zu Protokoll, ‚und wenn dies kein gemeinsamer Herbst der Entscheidungen wird, dann müssen wir eine gemeinsame Lösung…‘“

„… sich gegen den Monstermaskenverleih, ja bereits gegen die Herstellung derartiger Halloween-Artikel wandte – die Junge Union wandte sich erneut gegen jeglichen karnevalistischen…“

„… keinesfalls ungehalten, aber doch mit leicht amüsiertem Unterton, dass ausgerechnet Mißfelder, der das religiöse Fundament unserer Gesellschaft diskutieren zu müssen meine, sich so despektierlich gegenüber dem Volk der Vereinigten Staaten äußere. Man werde ihn, teilte die Atlantik-Brücke mit, nicht für mehr als untergeordnete Positionen gebrauchen und ihn, sollte er weiterhin Stuss von sich geben, in den Medien zu gegebener Zeit…“

„… legte nach: als ‚Kommerzkacke‘ und ‚unchristlich-jüdische Unwert-Unart‘ bezeichnete Mißfelder das bunte Treiben der Spukgestalten. Mit gottloser Penetranz verunschimpfiere der Pöbel das Allerheiligste der deutschen Nation, man schrecke nicht einmal davor zurück, Kürbisse aufzustellen, wiewohl das Hohlgemüse größtenteils (Thilo Sarrazin habe ihm das selbst gesagt) genetisch nicht nachweisen könne, dass es arischer Abkunft…“

„… teilte Ewald P. (73), Ehrenvorsitzender der Kölner Karnevalsgesellschaft Immerjröne Strüssjer, den Reportern mit, er habe in Übereinstimmung mit Ältestenrat und Präsidium den Mitgliedern der Jungen Union bis auf weiteres untersagt, sich auf den Sessionen blicken zu lassen. ‚Was für ein Unfug‘, polterte der in der Domstadt wohlgelittene Karnevalist, ‚außer Saufen haben diese Affen wohl nichts gelernt!‘ Mißfelder gab zu verstehen, eine römisch-katholische Einzelmeinung sei seiner Ansicht nach nicht geeignet, die ganze Bedeutung des Reformationsfestes zu…“

„… sich auch die mexikanische Gesandtschaft aus der Diskussion zurückzog. Man wolle als weltweit sechstgrößter Erdölproduzent nicht mehr stören, wenn die deutsche Binnenkonjunktur in sich zusammensacke, den Día de Muertos könne man auch ohne europäische Hilfe…“

„… löschten das brennende Fahrzeug, während die Kriminalpolizei die beiden Täter Kevin H. (23) und Stefan P. (22) schnell ermittelt hatte. Die beiden am Tatort hinterlassenen Fachbroschüren Marketing-Impulse zum Muttertag und Valentin – Abzocke mit Herz hatten die Einzelhandelskaufleute verraten. Philipp Mißfelder bekam von alledem nichts mit, er wurde mit einer Alkoholvergiftung von der Halloween-Party der Jungen Union in Krefeld…“