Kanzlermaterial

15 12 2021

„Das ist nicht Ihr Ernst!“ Siebels stöhnte. „Ziehen Sie das an“, presste er zwischen den Lippen hervor, „wir sind in zwei Minuten auf dem Studiogelände.“ Ich wusste nicht, wann ich mich je zuvor in einer Limousine in einen Anzug gezwängt hatte, noch dazu auf der Rückbank und bei deutlich überhöhter Geschwindigkeit.

„Niemand wird Sie erkennen“, hickste der TV-Produzent, denn wir jagten über Kopfsteinpflaster. „Sie tun einfach, was Sie in den Anweisungen für Berufspolitiker gelesen haben, dann kann uns gar nichts passieren.“ Ich versuchte irgendwie, am Reißverschluss der Hose zu ziehen. „Und für wen werden sie mich halten?“ Siebels zuckte die Schultern. „Vermutlich für einen Staatssekretär, eventuell auch für einen Minister – das Kabinett ist so neu, die haben sich bestimmt noch nicht alle Namen gemerkt.“ Da öffnete sich auch schon das Rolltor, der Wagen glitt mit scharfem Schwung hinein, um dann abrupt in die andere Richtung abzubiegen. Siebels hielt sich am Griff über der Tür fest. „Die Krawatte sitzt“, lobte er. „Beckmann, wir werden an der 3 erwartet.“ So war es auch, an der Halle stand ein Pulk mit Mikrofonen und Kameras. Der Fahrer ließ das Auto ausrollen. Jetzt galt es.

Kaum hatte Beckmann die Tür geöffnet, hatte ich schon das erste Diktiergerät unter der Nase. Ein junger Mann streckte mir den Arm gefährlich nahe; ein Schritt, und er wäre nach vorne gefallen. „Was können Sie uns zur aktuellen Situation sagen?“ In den Gesichtern der anderen Reporter war deutlich die Verärgerung zu lesen, dass ausgerechnet er die wichtigste Frage zu stellen gewagte hatte. Ich zog die Hände aus den Hosentaschen, vollführte eine beschwichtigende Geste und atmete hörbar ein. Der Geräuschpegel schien sich daran nicht zu stören; es klickte und schnaufte verbissen weiter. „Zunächst ist die Bundesregierung in engem Kontakt mit allen Experten“, begann ich. „Dabei wird es für uns keine roten Linien geben, da wir die Folgen einer solchen Lage wie der gegenwärtigen, in der wir uns jetzt befinden, auch in ihren Auswirkungen für uns und unsere internationalen Partner analysieren – wir machen uns zu jeder Entwicklung ein genaues Bild, aber ich wiederhole nochmals: wir schließen keine notwendige Reaktion auf die Ereignisse aus.“ Ich wippte ein wenig auf den Zehenspitzen, denn es war um diese Tageszeit empfindlich kalt. Siebels sah nervös zu mir herüber. Noch waren wir nicht aus dem Schneider.

„Hüppelspeck“, rief eine Journalistin, „Bad Gnirbtzschener Bote!“ Sie fuchtelte aufgeregt mit dem Kugelschreiber, obwohl ihre Assistentin das Mikrofon hielt. „Welche Maßnahmen sind aus Ihrer Sicht jetzt notwendig?“ Ich warf einen kurzen Blick zu Siebels und räusperte mich. „Vor allem werden wir schnell und entschlossen handeln“, verkündete ich. „Die Lage erlaubt keinen weiteren Aufschub, und ich sage dazu, dass wir über die Parteigrenzen hinweg uns darauf verständigt haben, Lösungen zu finden, die verfassungskonform sind – die Kritik einzelner Teile der Opposition ist nicht konstruktiv und wird uns als Bundesregierung nicht abhalten, einen wirklichen Fortschritt ins Auge zu fassen, den die Bürgerinnen und Bürger in dieser Stunde von uns erwarten können.“ „Was heißt das konkret?“ Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Siebels in diesem Moment zusammengefahren war. Aber gut, sie wollte es wirklich wissen, also würde sie auch eine Antwort bekommen. „Ich will den Beratungen in den Gremien zu dieser Stunde nicht vorgreifen“, führte ich ungerührt aus, „das würde eventuell zu vorschnellen Erwartungen an die Beschlussebene führen, die unsere Lage nicht verbessern.“ Sie nickte. Ein offenes Wort kann doch Wunder wirken.

Sicher hatte Siebels mit dem Finger auf einen der frierenden Korrespondenten haben, denn er fiel mir umgehend ins Wort. „Können wir zur Stunde einen Kursturz an der Börse ausschließen?“ Na gut, mein Junge, dachte ich mir. Du wolltest es ja nicht anders. „Können Sie zur Stunde einen Anstieg der Aktien ausschließen?“ Die anderen wussten nicht, warum sie lachten, aber sie lachten. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee, dieses Training mit dem Produzenten, der vor lauter Talkshows kaum noch vernünftige Sachen machen konnte. „Noch drei Fragen“, tönte es aus dem Hintergrund. Ich atmete auf. „Welche Belastungen werden jetzt auf die Bürger zukommen?“ Ich zog die Stirn in Falten. Zwar unbeabsichtigt, aber es passierte einfach. Pass auf, Freundchen. „Wir haben immer gesagt, dass es die notwendigen Veränderungen geben muss, und wir haben von den Bürgerinnen und Bürgern eine hohe Zustimmung zu den Transformationen in allen Lebensbereichen erhalten, mit denen wir uns nun vor den Krisen schützen, einerseits, andererseits vor den Folgen, die wir zu gewärtigen hätten, wenn wir uns eben nicht für die Zukunft wappnen würden. Das möchte ich an dieser Stelle noch einmal in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringen, weil es der Auftrag ist, den ich persönlich mit meinem Amt in der Bundesregierung verbinde.“

Die Standheizung war ausgefallen. Hektisch knetete Siebels seine klammen Finger und wühlte in den Manteltaschen. „Es lief aber doch ganz gut“, zwängte er zwischen seinen klappernden Zähnen hervor. Der Wagen fuhr langsam an. „Also ich habe ja schon viele gesehen“, sagte Beckmann, „Sie sind ein echtes Naturtalent.“ Siebels nickte, vielleicht sah es auch nur so aus. Schon waren wir wieder auf dem Weg in die Produktionsfirma. „Man muss sich immer etwas einfallen lassen“, keuchte er. „Die politische Klasse verlangt das einfach.“





Extrem

30 06 2020

„Und Sie sind…?“ Bevor ich noch der Dame am Empfang meine Karte hatte reichen könne, kam Minnichkeit aus dem Aufzug, mausgrau wie immer und noch ein bisschen tollpatschiger als sonst. „Wir freuen uns“, strahlte er. „Lassen Sie uns sofort in die Redaktion fahren, er erwartet Sie schon!“

Seit Trends & Friends, der leicht überkandidelten Agentur, hatte er nicht mehr so ein Vergnügen gehabt. Der Bürojob hatte ihn für ein paar Jahre beruhigt, doch nun zog es den Kreativen zurück in sein Metier. „Ich habe ihn entdeckt“, sagte Minnichkeit nicht ohne Stolz. „Wir sind so gut wie ausgelastet, es läuft großartig.“ Der Lift bimmelte, wir hatten das Stockwerk erreicht. Kaum rollten die Türen zur Seite, sahen wir ihn auch schon, wie er aufgeregt mit einem leeren Becher über den Flur stürmte. „Kaffee-Wahnsinn“, keuchte er, „schon wieder leer!“ Minnichkeit nickte. „Er ist in seinem Element. Eigentlich die ganze Zeit.“ „Und was ist noch mal genau seine Aufgabe?“ Der alte Freund zog die Brauen empor. „Er ist unser Schlagzeilenspezialist.“

Wir hatten uns schon im Büro niedergelassen, da kam der Spezialist zurück. „Super-Sommer“, verkündete er. „Was Sie jetzt gegen Monster-Hitze tun können!“ Und er kippte das Fenster. „Ich sehe“, bestätigte ich, „Sie sind ein Meister Ihres Faches.“ „Wir sind auch sehr zufrieden“, sagte Minnichkeit. „Ein komplett neues Geschäftsmodell, und es hat sofort wie eine Bombe eingeschlagen.“ „Business-Killer“, erklärte der Redakteur, „Wahnsinns-Umsatz im ersten Quartal – das Start-Up, das Sie kennen müssen!“ Ich schlug die Pressemappe auf. „Das sind also die Titel der letzten Wochen.“ Doch Minnichkeit rümpfte die Nase. „Ich bitte Sie, das machen wir an einem Vormittag!“

„Chaos-Wirtschaft!“ Offenbar hatte unser Schreiber wieder eine Eingebung. „Deutschland geschockt von Merkel-Plan!“ „Ich kann damit jetzt nicht viel anfangen“, bemerkte ich. Möglich, dass es neue Entwicklungen in der Europäischen Union gab, von denen ich noch nichts gelesen hatte. „So werden wir von Ekel-Ausländern abgezockt!“ „Da lag ich dann wohl falsch.“ Minnichkeit knetete die Hände. „Manchmal ist er ein bisschen, wie soll ich sagen – direkt.“ Ich nickte. „Sie richten sich ja auch nicht gerade an eine intellektuelle Zielgruppe.“ „Noch mehr Hartz IV!“ „Ist das jetzt gut oder schlecht?“ „Bezahlt Merkel Corona-Drosten?“ Ich merkte, dass ich eine Pause brauchte. Zum Glück war ihm auch der Kaffee ausgegangen. Wir konnten uns auf dem Balkon ein wenig die Beine vertreten. Dort draußen war die Sommerluft sogar angenehm.

„Klopapier-Terror“, stöhnte er und setzte sich wieder in seinen Drehsessel. „Ist Steuer-Irrsinn jetzt noch Deutschland?“ Ich nippte nur einen kleinen Schluck aus meiner Tasse, aber Minnichkeit lief rot an. „Wir hatten das doch gerade erst“, stöhnte er, „das kann doch jetzt nicht schon wieder… – “ „Hitler-Gold!“ Ich schielte nach dem Fenster. „Vielleicht ist es doch ein bisschen warm hier.“ Ich hatte recht, und der Werbekaufmann erklärte es mir sogleich. „Er läuft ab und zu heiß, dann bleibt er an einer Ecke hängen und wir müssen ihn langsam wieder beruhigen.“ Ich stellte die Tasse zurück auf den Tisch. „Scheint sich um die rechte Ecke zu handeln.“ Minnichkeit räusperte sich mit einer Art von Bestimmtheit, die ich von ihm gar nicht kannte. „Sie wissen, aus welcher Branche ich komme, und da muss man schon darauf achten, dass man sein Produkt auch verkaufen kann – wir würden doch sonst die Leser gar nicht erreichen.“ Ich lehnte mich zurück und wollte gerade antworten, aber ich kam nicht dazu. „Sex-Schock! Extrem-Ausländer! Wird Deutschland von Feministinnen vergewaltigt?“ „Ihr Problem“, antwortete ich kühl, „ist nicht Ihre Branche, Ihr Problem sind Ihre Kunden.“

Minnichkeit blieb eingeschnappt; er rührte noch ein bisschen in seiner Tasse herum, dann blätterte er wieder in der Mappe. „Wir müssen ja heute noch ein bisschen arbeiten“, sagte er schmallippig. „Von alleine macht sich das ja nicht, auch wenn es Ihnen so scheint.“ „Klinik-Skandal“, setzte der Redakteur ein. „Impf-Irrsinn! Merkel fordert neue Risiko-Milliarden für EU! Corona-Wurst tötet Rentner! Ist Autofahren bald verboten?“ „Vielleicht sollten Sie die Installation einer Klimaanlage in Erwägung ziehen.“ „Ruhig“, zischte Minnichkeit. „Das sind die besten Titel, die uns pro Stück mindestens…“ „Lügen-Virologe kriegt Geld vom Staat! Drama im Freibad – Kinder schwimmen in den Tod! Fußball-Entzug für Hartz-IV-Schnorrer! Asylanten fordern Milliarden für Drogen!“ Er hustete kräftig; nicht auszuschließen, dass es psychosomatisch war. „Randale-Migranten – Prügelstrafe jetzt! So viel Geld kosten uns Arbeitslose! Linke wollen alle Polizisten ins Lager schicken! Deutsch-Terror – Grüne schaffen Zigeunerschnitzel ab!“ „Schön“, lobte Minnichkeit, „sehr, sehr schön. Das ist einer der besten Tage seit langem, und ich muss sagen, ich bin wirklich zufrieden mit Ihnen.“ Fast hätte man sagen können, dass ein Lächeln über das Gesicht des Schlagzeilenproduzenten gehuscht wäre, aber vielleicht hatte ich mich auch nur getäuscht. „Wie Sie sehen, haben wir mit unserem Geschäftsmodell eine große Lücke im Journalismus geschlossen und sind auf dem Weg zum großen Erfolg.“ Ich lächelte. „Minnichkeit, nehmen Sie es mir nicht übel, aber dass jemand die Schlagzeilen zu Zeitungsartikeln…“ Er winkte ab. „Nein, Sie haben das nicht verstanden. Er liefert die Titel. Was die Zeitungen dann für Artikel schreiben, das ist nicht mehr unser Problem. Wie gesagt, ein ganz neues Geschäftsmodell.“





Journalistische Standards

14 10 2019

„Das Landeskriminalamt hat die Fahndung zur Stunde schon ausgeweitet, und für uns stellt sich jetzt die Frage, ob Sie Ihre Verhandlungsposition nicht besser auf die…“ „HAT DICH VERKACKTE MISSGEBURT IRGENDWER NACH SEINER SCHEISS MEINUNG GEFRAGT!?“

„Man wirft Ihnen bisher zwei Morde vor, das sind die…“ „BIST DU DER STAATSANWALT ODER WAS?“ „Also zumindest…“ „ICH HAB DICH BLÖDE SAU GEFRAGT OB DU DER STAATSANWALT BIST ODER DER RICHTER ODER EINFACH NUR DEINEN VERKACKTEN ARSCH OFFEN HAST!?“ „Wir haben doch die Aufnahmen von der…“ „OB DU BLÖDE SAU JETZT ENDLICH MAL DIE FRESSE HÄLTST HAB ICH GEFRAGT!“ „Dann lassen Sie uns doch auch einmal die Hintergründe Ihrer Taten…“ „BIST DU LEBENSMÜDE ODER WAS!?“ „… kritisch beleuchten. Ihre kriminelle Karriere begann ja nicht erst mit dem Bankraub.“ „OB DU DUMME SAU LEBENSMÜDE BIST!? ICH BIN ABSOLUT RESOZIALISIERT UND WENN DU DAS NICHT GERAFFT HAST MACHT MEIN ANWALT AUSCHWITZ MIT DEINER PISSFRESSE!“ „Das war ja auch eher als Einordnung, also als Versuch einer Einordnung, die Zuschauer sind ja nicht so ganz im…“ „WAS GEHEN MICH DEINE BLÖDEN SCHEISS ZUSCHAUER AN DIE SIND MIR KACKEGAL!“ „Wir wollen auch die sozialen Hintergründe beleuchten, deshalb fragen wir Sie natürlich ganz unvoreingenommen: was sind denn die sozialen Hintergründe Ihrer Tat?“ „HAST DU SCHEISSE IM SCHÄDEL!? DIE KOHLE! WIR WOLLEN DIE KOHLE!“ „Sie sind also in eher einfachen Verhältnissen aufgewachsen?“ „DU HAST GLEICH EINFACHE VERHÄLTNISSE IN DER FRESSE DU KACKSPATEN!“ „Aus dieser Tat könnt man auch eine kapitalismuskritische Motivation herleiten, und wir wissen ja, dass es in Deutschland Kapitalismuskritiker gibt, denen von eher rechts stehenden Kräften, manche davon auch außerhalb des demokratisch-verfassungsrechtlichen Kontinuums, eine durchaus…“ „SPUCKST DU GERNE VORDERZÄHNE ODER WAS!?“ „Ich will Ihnen damit natürlich keine extremistische Ideologie unterstellen, das läge uns ganz und gar fern, wir sind als öffentlich-rechtliche Medien ganz und gar neutral und würden uns niemals eine eigene Meinung erlauben, die über eine Einordnung des Rezipierten hinausginge.“ „UND JETZT HÄLTST DU ENLICH DEINE VERSCHISSENE FRESSE?“

„Eine Frage noch: die Konsequenzen einer solchen Tat müssen natürlich auch strafrechtlich geahndet werden, da ist uns…“ „DU KRIEGST GLEICH STRAFRECHT!“ „… Ihre Haltung zu den aktuellen Strafverschärfungen schon sehr wichtig. Wenn Sie sich als Einzeltäter, und wir haben ja bisher keinen Beweis, dass Sie beide sich beispielsweise als Bande im…“ „SO FRAGT MAN BLÖDE AUS!“ „Also jedenfalls ist es nach der geltenden Gesetzeslage nur möglich, Sie wegen eines Bandendeliktes zu verurteilen, wenn Sie sich in der strafrechtlichen Ermittlung als eine…“ „DU HAST ANSCHEINEND ZU LANGE KEINE LATTE MEHR IN DER FRESSE GEHABT!?“ „Würden Sie denn der Einschätzung zustimmen, dass die juristische Einschätzung auf Ihr Vorgehen zutrifft? Sie würden damit der…“ „WIR HABEN DIE KOHLE GEHOLT UND DANN WAR DA SO EINE BLÖDE SAU IM WEG UND DAS HAT DANN GEKNALLT!“ „Das war ja meine Frage, also noch mal: würden Sie denn der Einschätzung zustimmen, dass die juristische Einschätzung auf Ihr…“ „DU BRAUCHST EINFACH NUR AUFS MAUL ODER WAS!?“ „Wir sind hier auch an die gängigen journalistischen Standards gebunden, die haben für uns einen hohen Stellenwert, weil wir nur mit ihnen sicherstellen können, dass wir eine richtig kritische Auseinandersetzung im Interview mit den Personen aus dem öffentlichen und politischen…“ „WIE OFT SOLL ICH DAS DENN NOCH SAGEN DU MISSBEGURT!?“ „Was denn?“ „WIR SIND NICHT POLITISCH!“ „Das Private hat natürlich auch immer eine politische Komponente, die wir als…“ „ICH HAU DIR DIE KARTOFFEL VOM HALS DU ELENDER SCHWÄTZER!“ „… Fernsehen für die ganzen Gesellschaft im…“ „HIER KLATSCHT GLEICH WAS IN DEINE FRESSE REIN!“

„Wir haben hier gerade von der Polizei gehört, dass der Platz abgeriegelt ist, das heißt, die Flucht über den Innenstadtring ist nicht mehr möglich. Wie sehr überrascht Sie dies Vorgehen der öffentlichen Sicherheitskräfte?“ „DAS GEHT DICH EINEN FEUCHTEN SCHEISSDRECK AN!“ „Können Sie sich denn eine Alternative zu einer bewaffneten Konfrontation mit dem SEK vorstellen?“ „DAS KRIEGST DU RAUS WENN ES HIER KNALLT DU HALBAFFE!“ „Sie sehen jetzt ja einer langen Haftstrafe entgegen, wie sehr, meinen Sie, könnten Sie Ihre jetzige Position noch verbessern, wenn Sie statt einer Schießerei einfach die…“ „ICH BALLER DIR DIE FRESSE WEG DU SCHEISS UNGEZIEFER!“ „Es wird also von Ihrer Seite aus nicht mehr mit einem Gesprächsangebot zu rechnen sein?“ „NOCH EIN WORT UND DANN PUMP ICH DIR DEINEN DRECKSCHÄDEL MIT BLEI VOLL!“ „Ja äääh… gut, dann wollen wir das an dieser Stelle auch so als Ergebnis stehen lassen. Und jetzt der Sport.“





Gesprächsführung

5 09 2019

Der Einsatz kam ganz überraschend. Siebels sah übernächtigt aus. „Auf einmal“, schimpfte ich. „Wie oft habe ich das gesagt, und jetzt auf einmal sollen Sie als Produzent die…“ „Ich habe das selbst angeordnet“, schnitt er mir das Wort ab. „Und wenn sie jetzt nicht alle spuren, werfe ich jeden einzelnen von ihnen noch heute raus.“

Die Moderatoren saßen alle in der Maske. Hier und da gab es kleine Unstimmigkeiten betreffs des Ablaufs, aber die nervöse Anspannung hielt sie alle unter Kontrolle. Keiner sprach ein lautes Wort, nur in der hinteren Garderobe johlte es. „Gut“, knurrte Siebels. „Dann wollen wir mal.“ Und er schritt geradewegs auf Henriette Mauschel zu, die mit ihrer Talkshow am Donnerstag auf der Kippe stand, sie wusste es nur noch nicht. „Wir haben uns wohl verstanden“, sagte er. „Sie haben zwei Minuten dreißig, danach sind die Fronten klar.“ „Aber…“ Siebels beugte sich leicht nach vorne. „Sie haben zwei Minuten.“

Hinten in der Maske polterte es. Der erste Gast stolzierte ins Studio, das er zugegebenermaßen gut kannte, denn wie viele Sendungen hatte er nicht hier mit populistischem Geplapper erlebt. „Er sitzt links“, dirigierte Siebels den Regisseur. „Das ist aber jetzt bildtechnisch ganz schwierig, wenn wir die…“ Der Produzent packte ihn unvermittelt am Kragen und zog ihn zu sich heran. „Wenn ich sage ‚Mach Dir in die Hosen‘“, zischte er, „dann machst Du was?“ „In die…“ Siebels stieß ihn wieder weg. „Schön, dass wir uns gleich verstehen. Das könnte der Beginn einer langen Freundschaft werden.“ Der Regisseur wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Die Mauschel bitte nach recht, nach rechts bitte!“

„Wir wollen gleich mit den wichtigen Themen beginnen“, setzte die Moderatorin ein. „Sie sehen sich seit mehreren Wochen mit Ermittlungen wegen eines Vermögensdeliktes konfrontiert, obwohl Sie dies in der Öffentlichkeit bisher immer abgestritten haben.“ „Schweinerei“, polterte der Kahlkopf. „Ich werde mich über Sie beschweren, Sie werden, wenn wir die Wahl, werden wir Drecksäue wie Dich in der…“ Siebels vollführte eine wegwerfende Geste. Sofort traten zwei muskulöse Herren, Möbelpacker oder Berufsboxer, an den schimpfenden Gast heran und machten ihm schnell und unbürokratisch klar, dass er eine faire Chance hatte, das Gelände im Vollbesitz seines Gebisses zu verlassen. Henriette Mauschel zitterte am ganzen Leib. „Gut gemacht“, lobte Siebels. „Sie sehen, man muss mit den Leuten nur reden. Und zwar in genau der Sprache, die die Zuschauer verstehen.“

Die zweite Kandidatin war nur wenige Minuten später auf dem dazu vorgesehenen Platz. „Moritz Höfgen.“ Wie Siebels den Namen aussprach, hörte es sich bereits sehr endgültig an. „Sie mögen ihn nicht.“ Er grinste bitter. „Was hat mich verraten?“ „Seine Gesprächsführung ist nun wirklich nicht berühmt für Ausgewogenheit und…“ „Unsinn“, schnarrte er. „Höfgen ist ein pseudointellektueller Schwätzer, der nicht einmal ein Thema braucht, um daran vorbeizureden.“ „Und wie will er jetzt gegen diese hysterische Schlange antreten?“ Er blickte ins Leere. „Fragen Sie mich nicht.“

„Erst einmal schön, dass Sie sich heute Abend Zeit nehmen“, schwafelte der untalentierte Typ. „Das war zu erwarten“, konstatierte ich. „Nach jeder Sendung fordern die Kritiken, dass man ihn in der Versenkung verschwinden lässt.“ „Und er fasst das als Zensur auf“, fügte Siebels trocken hinzu. „Sie wollen also auf Frauen und Kinder schießen lassen an der Grenze, nur damit ich das richtig verstehe – das sind immense Kosten für Munition und Beseitigung, kann man das dem Steuerzahler wirklich…“ „Aus“, sagte Siebels tonlos. Ein Blick zur Seite, das Scheinwerferlicht verlosch. Höfgen verstummte. „Schmeißt ihn raus.“ Inzwischen regte sich Protest, aber der Produzent bleib unerbittlich. „Drehen Sie das Licht wieder an, wenn er weg ist, und dann schicken Sie den nächsten rein.“

Zu meinem Erstaunen setzte er sich selbst in den Moderatorendrehsessel, als sie den Alten ins Studio begleiteten. „Ich sollte doch…“ „Setzen“, knurrte Siebels. Völlig perplex folgte der Greis dem Befehl. „Sie sind also ein bekennender Faschist“, begann er die Ansprache. „Sie leugnen Verbrechen der Wehrmacht, reden den Krieg, die Verfolgung und den Holocaust klein und geben offen zu, dass Sie den Mord an missliebigen Amtsträgern als ein Zeichen von nationaler Notwehr entschuldigen.“ Der Alte schnappte. „Sie werden sich für Ihre Lügen verantworten“, brüllte er, „ich lasse Sie alle ausrotten!“ „Wir haben für jede Ihrer Äußerungen umfangreiches Filmmaterial vorbereitet, das auch vor Gericht als Beweismaterial hilfreich wäre. Warum bezeichnet sich ein Nationalsozialist, der für die Sicherheit ein Verzeichnis aller jüdischer Einwohner haben will, als bürgerlich?“ „Ich werde Sie alle…“ „Und da sind wir auch schon beim nächsten Punkt, Sie haben die Errichtung von Lagern für Journalisten und Wissenschaftler zum Schutz der Bevölkerung von linker Propaganda gefordert – wollen Sie sich das auch ansehen? Wir haben gleich drei Reden, da waren Sie ein bisschen unvorsichtig. Außerdem waren Hakenkreuzfahnen auf der Bühne, aber das wussten Sie sicher nicht.“ Abrupt stand der Alte auf und blieb mit dem Fuß im Drehgestell des Sessels stecken. „Passen Sie auf Ihren Flachmann auf“, höhnte Siebels, während der Kandidat sich mühsam vom Boden aufsammelte. „Und raus.“ „Sie wissen, dass das Konsequenzen haben wird?“ Der Produzent schnipste mit den Fingern. „Sehen Sie, so macht man das. Wer fragt, führt. Antworten haben diese Knalltüten eh keine.“





Typengerecht

25 04 2019

„So eine leicht getönte Tagescreme vielleicht.“ „Aber auf jeden Fall etwas für den Sommer.“ „Sowieso.“ „Können wir nicht zusätzlich einen Beitrag machen über Trendfarben?“ „Stimmt, das war auch in der letzten Kevin.“

„Wobei Kevin ja auch modelastiger ist als wir.“ „Wird aber gekauft.“ „Ich lese die aber auch wegen der Artikel.“ „Wir könnten den Teil über dekorative Kosmetik diesmal ein bisschen medizinischer halten.“ „Ich würde auch den Aspekt der Verbrauchersicherheit betonen.“ „Haben wir allerdings auch schon im Haushaltstipp.“ „Stimmt.“ „Manche Themen vertragen einen gewissen Fokus und sollten immer wieder in den…“ „Wir sind aber nun mal kein Verbrauchermagazin.“ „Stimmt auch wieder.“

„Jedenfalls haben wir den Modeteil diesmal sehr gut mit den anderen Ressorts abgestimmt, die Fotostrecke steht und wir haben das Go für den Titel.“ „Ich finde das nicht so toll, aber okay.“ „Was stört Sie denn daran?“ „Also ‚Socken und Sandalen – Sieben Super-Kombinationen für den Sommer‘, ich weiß ja nicht.“ „Das hatten die anderen so noch nie.“ „Fragen Sie sich mal, warum.“ „Sowieso.“ „Stört Sie die Produktplatzierung?“ „Also Männer und Schuhe – mehr Klischee geht ja wohl nicht.“ „Ich bitte Sie, wir bedienen einen funktionierenden Markt.“ „Aber deshalb muss man doch nicht über jedes Stöckchen springen und so einen Artikel derart prominent rausbringen.“ „Ich habe ja gleich gesagt, ‚Socken oder Kniestrümpfe?‘ aus der März-Ausgabe ist erst mal genug.“ „Das war ja auch in einem ganz anderen Ressort.“ „Als Alternative könnte ich mir mal was über Elektrowerkzeug vorstellen, ich habe da neulich einen Titel mit…“ „Sonst geht’s aber, Kollege?“

„Das ist Satire, oder?“ „Was verstehen Sie daran jetzt nicht?“ „Also bitte, das muss doch Satire sein.“ „Was stört Sie denn an dem Artikel?“ „Hallo? ‚Mein Bauch gehört mir‘, was soll das denn werden?“ „Wonach sieht es denn auch?“ „Jedenfalls sind die Fotos einfach, ich weiß nicht, schlimm.“ „Wir haben auch einen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen.“ „Und deshalb diese Fotos?“ „Man hätte auch ein paar weniger nehmen können.“ „Sie verstehen das nicht, wir wollen in dieser Ausgabe mal einen Trend setzen und weg von den ewigen Abnehmtipps.“ „Sowieso.“ „Und hier, alle Gürtel aus dem Kleiderschrank verbannen, das macht doch jeder.“ „Ich finde das sehr gut an der Zielgruppe orientiert.“ „Aber genau das ist es ja, ich will das nicht in unserer Zeitschrift haben!“ „Das haben wir jetzt auch schon gemerkt.“ „Haben Sie ein Problem mit Körperbewusstsein?“ „Haben Sie ein Problem damit, dass diese Fotos…“ „Was sollen wir denn bringen? Eine Fotostrecke mit lauter Hungerhaken nimmt uns doch keiner mehr ab.“ „Aber das hier ist auch nicht typengerecht?“ „Typen!?“ „Sie sollten mal ein bisschen an Ihrer Wortwahl feilen, Herr Kollege. Sonst sehe ich hier wenig Möglichkeiten für eine erfolgreiche Zusammenarbeit.“

„Die Homestory haben wir aber gut integriert.“ „Der spielt bei Schalke, oder?“ „Ich habe den Text jetzt nicht präsent, kann aber gut sein.“ „Dabei würde sich das doch auch für einen Titel eignen.“ „Er wollte aber nicht aufs Cover.“ „Stimmt, er war in Balduin mit Urlaubstipps und will jetzt mal einen Gang zurückschalten.“ „Wenn wir das als Homestory machen, warum ist dann dies Bild mit der Hortensie ganz vorne?“ „Lesen Sie mal die Headline.“ „Ach so, verstehe. ‚Meine schönsten Klettergewächse‘, das deckt dann auch den Bereich Garten ab.“ „Plus Lifestyle, wir haben ja zusätzlich das Tofurezept drin.“ „Ich möchte mal wissen, ob sich das mit Ihren Bauchfotos verträgt.“ „Sie hängen nicht an Ihrem Job, stimmt’s?“

„Aber die Gymnastik im Fernsehsessel, das ist auch nicht neu.“ „Hier, Karl-Heinz vom August 2017.“ „Das war die langfristige Vorbereitung auf die Fußball-WM.“ „Ja, ich habe die CD aufgehoben.“ „Mit der Hintergrundmusik?“ „Die war gar nicht mal so übel.“ „Wir machen die immer an zum Fensterputzen.“ „Man kann auch gut die Terrasse dazu kärchern.“ „Das könnte man mal machen.“ „Ist aber eher ein Thema für den Winter.“ „Modisch aufbereitete Fotostrecke.“ „Zehn Jacken für die Gartenarbeit.“ „Plus Trainingsplan.“ „Gute Idee, ich spreche das mal beim Ressortleiter an.“ „Fehlt denn in dieser Nummer noch irgendwas?“ „Wir hatten noch nie etwas über Autos.“ „Wieso Autos?“ „Autos halt. Technik, Motoren, Modelle, Ölwechsel und den ganzen Kram.“ „Sie wissen aber schon, wo Sie hier sind?“

„Der Aufmacher ‚Die schönsten Biere fürs Wochenende‘ bleibt drin?“ „Ich finde den Text aber grauslig.“ „Zeigen Sie mal her. Au weh, ‚Ein Pils für Peter‘, das geht ja gar nicht.“ „Oder hier, ‚Weizen für Werner‘.“ „Wer hat sich den Schrott denn ausgedacht?“ „Der Praktikant hat sich wohl einen Scherz erlaubt.“ „Das hätte jedenfalls viel früher auffallen müssen.“ „Also ich finde das ja ganz lustig.“ „Lustig, aha.“ „Also das mit dem ‚Bier-Ernst‘, das ist doch tatsächlich…“ „Und Sie meinen, das geht in einer Zeitschrift von unserem Ruf?“ „Meine Güte, wir bringen doch genau denselben Mist wie Karl-Heinz oder die Kevin, da muss man sich doch über so einen Beitrag nicht großartig aufregen.“ „Doch, und wenn das Ihr Qualitätsanspruch an Journalismus sein sollte, dann gehen Sie besser zu einem Herrenmagazin.“





Gernulf Olzheimer kommentiert (CDXLIII): Der Inseratenteil

7 12 2018
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Was der durchschnittliche Renaissancemensch getan hätte, sähe er sich in der regionalpolitischen Beratung mit Brechreiz erregend billiger Reklame für Lupen oder Haarwuchsmittel konfrontiert gesehen, kann man heute nur mutmaßen. Vielleicht hätte eins der venezianischen Edelmännchen bei der Anfrage, ob er nicht zwischen zwei zünftigen Intrigen schnell den Palazzo verscheuern wolle, mit einer hübschen kleinen Bootspartie geantwortet und kanaltaugliches Schuhwerk aus Fertigbeton in die Gondel verlastet. Im Hintergrund posaunt eine dreichörige Sinfonie von den Rängen, zur Linken massakriert das Faktotum gerade die Dummdüse, die eine neue Kollektion Satteltaschen mit in die Kirche geschleppt hat zum informellen Verkaufsgespräch unter Freunden – am Gesäß, Kunde als wäre nichts geschehen? Nur wir müssen uns von derlei aus den Ritzen der Information quellendem Lärm den Tag versauen lassen, weil wir in der Gegenwart vegetieren und es für zumutbar halten. Es ist aber nur der lnseratenteil.

Früher, als das wichtigste Massenmedium noch aus totem Holz geschwiemelt wurde, hätte man den Schmalz en bloc auf den Boden schütteln können, wie alle Beteiligten an diesem Gesellschaftsspiel es eigentlich als konstituierend annahmen: der Kaufmann druckt billige Reklame im arttypischen Umfeld, der potenzielle Kunde ignoriert es aus Selbsterhaltungstrieb. Der gehobene Bedarf vom Möbel aufwärts wucherte vorsichtig in redaktionell eingehegte Bezirke, gab sich zunächst behutsam und stilvoll, bevor auch er in den allgemeinen Brüllmüll der absatzwirtschaftlichen Chöre einfiel. Der Großteil der Bedarfslenkung allerdings machte aus seinem Getrommel keinen Hehl, pappte sich die Bezichtigung, dass tatsächlich Propagandistenwerk zuhanden war, wie einen Warnhinweis obenan: cave, hier plärren die Sirenen, stopft Euch aus, was Euch ausstopft. Aber der Holzschliffjournalismus ging den Weg des Allzuirdischen, wir holen uns das Gebröckel der unteren Lustigkeitsliga auf dem Schirm nach Hause und lesen in den Aggregatoren von bescheuerten Präsidenten, bekloppten Eliten und der Gleitsichtbrille, ohne die kein Feuilleton überlebensfähig wäre. Willkommen in der Hölle.

Deutschlands schönste Insekten, das Fernsehen als amoralische Lehranstalt, die Spritpreise tauchen alles in eine milde Weltuntergangsstimmung. Dazwischen popelt der Newsflash jene Sehhilfe in die Netzhaut, als müsste aus dem Werbeblättchen plötzlich ein seriöses Journal geworden sein, nur, weil drei Viertel der atmenden Freifläche von Agentursülze ausgegossen sind. So fühlt es sich an, als hätte man eine Freifahrt auf der Waschmaschine vom Balkon gewonnen: man kommt irgendwo an, aber was man mit sich in die Tiefe nimmt, braucht’s in diesem Moment sicher nicht.

Alternativ greint der Treppenlift, das Viagra der Zehnerjahre, den angesilberten Kundenstamm in die Hirnembolie; Hörgerät und Lebensversicherung stehen dem freiwilligen Kunden auf dem Vorderfuß und demonstrieren noch einmal eindrucksvoll: wo der Krempel nichts kostet, ist der Verbraucher die Ware. Längst haben die Optimierer es aufgegeben, zielgruppengerecht Vieh vor die Flinte zu treiben, per Schrotschuss rülpsen die Marketingflacharbeiter den ökonomischen Klamauk in die Zwischenräume, die der Sinn noch sein lässt, und längst haben auch die nicht ganz verhaltensauffälligen Nutzer kapiert, dass das Netzwerk unser Gebaren analysiert, aber eben nicht sinnvoll, sondern mit maximal bescheuertem Ergebnis, damit sich die wehrlosen Menschen am anderen Ende der Leitung auch wahrhaftig unter Dumm-Dumm-Beschuss fühlen können. Der Begriff der Marktpenetration bekommt dabei gleich eine ganz neue Bedeutung.

Was kostet ein SUV in Bad Gnirbtzschen wirklich? Es interessiert keinen, der dieses verbale Granulat zwischen den Fingern verrinnen lässt, es hinterlässt nur den nachhaltigen Eindruck, in den Werbeabteilung der Trollkonzerne habe sich eine endgültige Realitätsallergie festgesetzt, die buntes Gewese an die Wände tapeziert, sich um dessen Wirkung aber einen Fisch interessiert, was immer er auch kosten möge. Wir sollten inzwischen lauter schreien, um der drohenden Nullinformation zu entgleiten, die uns den Cortex verseift und die Straße zur Grenzdebilität aufschottert. Es sollte einklagbares Recht werden, wie man die Zeitung auf dem Parkett selektierte, den online gebotenen Tinneff vom weißen Rauschen zu befreien, damit sich die Synapsen nicht irreversibel verkleben.

Spätestens im übernächsten Jahr wird es wieder Sandwichmänner geben, die mit Pappe vor dem Hintern und einem Brett vor dem Kopf durch die fußläufigen Bereiche der Städte diffundieren, und diesmal werden sie die Konsumenten hinterrücks anfallen, in die Waden beißen und ihnen einen Pfund Fleisch ausrupfen, wenn ihnen keiner beim Singsang zuhört. Wir aber werden nach ihnen schlagen und treten, und wenn sie schon einmal auf dem Boden liegen, massieren wir sie gleich ins Geröll ein. Niemand braucht diese Distraktoren. Wir müssen bloß noch wissen, wie viel uns der Spaß kostet.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CDXXXII): Die Lähmung der Medien

21 09 2018
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Relevante Forscher halten ihn für den ersten verbürgten Fall seiner Art, dabei ist nicht einmal sein Name bekannt. Der neolithische Kasper, ein in die Seitenlinie gekrochener Nachfahre aus Ugas Schwippneffenbrut, hatte das zweifelhafte Talent, die Art zu imitieren, mit der der Stammeshäuptling Luft aus den Körperöffnungen entweichen ließ, die ihm dafür zur Verfügung standen. Eine seiner nicht gerade schmeichelhaften Parodien, an der nackten Wirklichkeit bis zur Übelkeit geschult, traf diese eine Idee zu genau auf den Kopf, was zum Verlust desselben führte. Die Ehre des unerschrockenen Wortes hat einen hohen Preis, stets in Abhängigkeit von den Begleitumständen, doch weder Reichtum noch Heiligkeit garantieren, dass in Gesellschaft von Hohlbratzen die Rübe auf dem Rumpf bleibt. Und so schweigt, wer ansonsten etwas zu sagen hätte, und sei es auch nur dem Rechte nach.

Seitdem Zeitungen als Macht gesehen wurden, die objektiv ernsthaft gearbeitet haben, wussten sie um ihre Abhängigkeit von den Mächtigen. Nicht die Leser aber, gehetzte Laufkundschaft, hetzende Abonnenten, nichts knebelte die freie Presse so nachhaltig wie die Entscheidung der Inserenten. Mit ihnen stand und stolperte jedes Monopol, sei es noch so autonom in seiner Ausdruckskraft oder in der politischen Richtung maßgeblich. Dass neben den ökonomischen Zwängen auch die natürliche Neigung zu Schublade und Scheuklappen die Beziehung zu den Lesern stolpern ließ, war nicht immer beabsichtigt, ergibt sich aber aus der unverbrüchlichen Präferenz des Publikums, nichts zu fressen, was es nicht schon geschluckt hat. Man liest keine Zeitung, um etwas Neues zu erfahren, man will sein Weltbild bestätigt sehen. Alles, was da nicht kritiklos ins limbische System suppt, ist erst einmal gefährlich.

Vollends schlägt das Framing zu, das die laute, als Mehrheit erscheinende Deppendeponie wirr überkreischt, die Monstranz der eigenen Meinung vor sich herträgt und den Diskurs der national schmerzbefreiten Zone zum Mainstream befördert. Die Lähmung erfolgt reflexartig, weil die Macht jede geistige Auseinandersetzung – wie denn auch – unmöglich macht und für schädlich erklärt. Wie Wortwertdiskutierer beim Scrabble plärrt das um Begriffe, will seine eigenen Fakten und hastig aus ihnen gestrickte Deutungsmuster bestätigt haben und mietet sich springereske Ressentimentsorgane, um den Sott auf Papier zu reiben. Woher aber diese peinliche Angst, im Versagen den eigenen Verrat zu rechtfertigen, als handelte es sich bei diesem braungespülten Verbaltofu um den Normalzustand, nicht um eine Ersatzhandlung ad usum Adolfini?

Je mehr der Leisetreter in der Redaktion die Wirklichkeit mit Flauschbegriffen verschwiemelt, in denen man besorgt ist, wenn man es anderen noch besorgen will, desto ärger ist die Verspannung in den halbwegs normalen Echokammern, die derlei nur noch zwischen Tisch und Kopf lesen, und so umgekehrt. Das Männchenmachen vorauseilender Untertanen aus der Schreibstube in den nationalen Furor hinein wirkt nicht nur apokalyptisch, das trifft den Verdacht ziemlich genau. Als jagte sich die ganze kritzelnde Kaste solidarisch Kugeln durch die Birne aus Angst vor dem Tod, so verteidigt sich die gesamte Branche tapfer in ethischem Völlegefühl: sie tun es für die Nation, die ja irgendwie auch die ihre ist, in prätraumatischer Belastungsverstörung und der halbwegs sicheren Annahme, dass man ihnen nach der nächsten Machtergreifung nicht gar so böse ist.

Fast nachvollziehbar ist, dass die Medien, zumal die intellektuell einigermaßen anspruchsvollen, im Kontrast zum populistischen Geschmarr dumpfer Düsen sogar mit Schweigen noch besser klängen, allein sie halten nicht die Klappe, sondern liefern lieber ein Kontrastprogramm für die Egoleptiker von der Hirnabgabeanstalt. Wer nur in Gegensätzen denken kann, also nur Extreme sieht, links gegen rechts, schwer vermögend oder obdachlos, ist kaum geeignet, differenziert zu denken, geschweige denn die Information in eine komplexe Sicht der Dinge einzuspeisen, und hier endet das Dilemma: wer sich nicht nur der Möglichkeiten begibt, ein Publikum überhaupt anzusprechen, sondern es auch nach Belieben anlügt, um seine Haut zu retten, bis die nächste Sau durchs Dorf quiekt, der öffnet seine Fenster bereitwillig für die Brandsätze, die in die Bude fliegen.

Wo zwischen Machterhalt und Gemeinwohl nur ein berührungsloser Abgrund gähnt, auch und vor allem in den Medien, die sich wirklich als Macht begreifen können, wenn sie sich für eine Seite entscheiden, wo hier ein Ressentimentsorgan artig seinen Kotaus vollzieht und dabei doch in der Pose des Herrschers erscheinen will, unterstützt es mehr als die Lüge. Die Verängstigten mögen es ihnen danken, dass man ihnen Waffen in die Hand gibt, mit denen sie umzugehen nicht gelernt haben. Aber wer stirbt schon gern alleine, wenn es sich nicht verhindern lässt? wenn man schon mitschießt?





Seitenwechsel

7 03 2017

„Nehmen Sie noch einen Schal mit“, sagte Siebels und griff auf den Rücksitz. Das Stricktuch war aus dicker, dichter Wolle und passte so gar nicht zu der voluminösen Mütze und den Handschuhen, die ich ohnehin schon trug. „Äußerlichkeiten“, stellte er fest und schlug die Tür zu, „sind Nebensache. In diesem Schneetreiben ist es einerlei, und für einen Sportler wird Sie sowieso keiner halten.“

Was ein wenig beleidigend klang, aber hier vor der gigantischen Kulisse einer Großschanze, wo es vor Profis in Renn- und Sprunganzügen nur so wimmelte, gehörte ich tatsächlich nicht dazu. Der TV-Produzent hatte sich unbemerkt einen Becher mit Automatenkaffee besorgt – manchmal beschlich mich der Verdacht, er würde mitten in der Wüste oder auf einem Floß über dem Marianengraben einen Automaten finden und passendes Kleingeld in der Hosentasche haben – und stapfte durch den Schnee. „Da ist das Reporterzelt“, teilte er mir mit. „Wir werden uns vorwiegend um den Nachwuchs kümmern. Überlegen Sie sich schon mal ein paar gute Fragen.“

Das Zelt war überschaubar groß, aber kalt. Es roch nach Essig, aber das schien niemanden zu stören. Ein paar junge Leute standen in der Ecke und starrten angestrengt auf ihre Notizblöcke. „Das müssen sie sein“, mutmaßte ich, und Siebels gab mir recht. „Den Blonden kenne ich, das ist Hirsch. Die beiden anderen müssen Haberknecht und Kieseritzky sein.“ Artig stellten die drei sich vor, alle am Anfang ihrer Karriere und wissbegierig. „Gehen Sie mal vor“, riet Siebels dem Blonden. „Gleich kommt Muckelmann runter, dann können Sie ihn interviewen.“ Angestrengt blickte Hirsch in Richtung Schanze. Es hatte zu Schneien aufgehört. Schon nahm der Springer Anlauf, stieß sich vom Schanzentisch ab und segelte weit durch die Luft. Ein Aufstöhnen ging durch das Publikum. „Jetzt“, sagte Siebels tonlos. „Tempo. Oder wollen Sie, dass alle anderen vor ihnen bei ihm sind?“

Wir stapften am Zaun entlang. Fast wäre Florian Muckelmann zum Schanzenlift verschwunden, in letzter Sekunde erreichte Hirsch ihn. „Super Sprung“, keuchte er und hielt sich vor Aufregung das Mikrofon unter die eigene Nase. „Wie erklären Sie sich diese Leistung?“ Muckelmann stellte die Skier neben sich in den festgetretenen Schnee. „Ja, ich war eben zu kurz.“ Der junge Reporter war verwirrt; mit der Antwort hatte er nicht gerechnet. „Aber wie erklären Sie sich…“ „Ich bin nicht gut vom Schanzentisch weggekommen.“ Der Sportler sah ihn mit einer geradezu aufreizenden Ruhe an. „Der Anlauf war nicht so, der Sprung war eben zu kurz.“ Hilflos blickte der Reporter Siebels an, der seinen Kaffeebecher mit elegantem Schwung in eine Mülltonne schlenzte. Viel war da offensichtlich nicht zu holen.

„Das war wohl nichts“, sagte ich dumpf. Doch Siebels schlenkerte einfach mit den Armen, lief gemächlich zum Zelt zurück und pfiff zwischen den Zähnen. „War doch schon ganz okay“, meinte er leutselig. „Warten Sie ab, da hinten kommt Hansi Puxpaumer.“ Eine Traube junger Mädchen umgab den Biathleten, der tags zuvor den ersten Platz im Sprint erreicht hatte. „Kieseritzky“, rief der Produzent, „Sie sind dran.“ Natürlich musste er sich erst durch die Menschentraube kämpfen, doch Puxpaumer war beim Anblick des Mikrofons sehr interessiert. „Hansi“, schwafelte der Journalist los, „super Rennen, super Ergebnis – wie kam’s dazu?“ „Ja“, bestätigte Puxpaumer. Eine Sekunde, zwei, drei Sekunden Schweigen. Zehn Sekunden. Ich wandte leicht den Kopf; Siebels blieb ganz ruhig und griff nicht ein. „Ja“, sinnierte Puxpaumer. „Ich war schneller als die anderen, und dann habe ich auch immer getroffen.“ Endlich ein Ansatz – begierig Kieseritzky nach der Möglichkeit. „Kurz vor der letzten Steigung hat Kilitenko noch einmal angegriffen, aber es hat dann nicht mehr gereicht.“ „Ja“, bekannte Puxpaumer, „ich war schneller, außerdem habe ich ja auch immer getroffen.“ Ein leichtes Zittern war in seiner Mikrofonhand zu bemerken. Vermutlich würde er gleich zu weinen beginnen. „Was haben Sie sich vorgenommen für den Massenstart am Mittwoch?“ „Ja“, überlegte Puxpaumer, „ich will auf jeden Fall immer treffen, und dann will ich schneller sein als die anderen.“

Üblicherweise hätte Siebels die Eleven mit ein paar trocken hingehauenen Sätzen davon überzeugt, ihre Berufswahl an dieser Stelle noch einmal gut zu überdenken. Doch nichts dergleichen geschah. „Das war doch schon mal sehr angenehm“, lobte er. „Ich würde sagen, es war sogar besser als gedacht.“ War das der Siebels, den ich kannte? „Sie haben es immer noch nicht kapiert?“ Es belustigte ihn, denn ich hatte überhaupt keine Ahnung, wovon er sprach. „Sie haben es nicht bemerkt?“ „Sie trainieren den Reportnernachwuchs“, antwortete ich, „aber davon ist auch wenig zu merken.“ „Falsch“, grinste er. „Die Sportler.“ Jetzt verstand ich gar nichts mehr. „Aber welchen Sinn soll das denn haben, wenn Sie offiziell für den Fernsehsender arbeiten?“ Er wurde immer noch heiterer. „Sehen Sie es als eine Art angewandte Schocktherapie. Diese Tausendsassas fragen inzwischen bei jedem Fußballspiel, wie der Spieler X den Fehlpass auf der linken Seite in der dreizehnten Minute erlebt hat. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass das ein Spieler aushält, ohne irgendeinen Mist zu erzählen, mit dem er sich über kurz oder lang vor den Zuschauern bis auf die Knochen blamiert.“ Da war etwas dran. „Und das war jetzt als Pilotprojekt gedacht?“ Siebels zog sich die Handschuhe an und trat hinaus in die Kälte. „Warten Sie es ab. Ab nächsten Monat machen wir dann Wahlsendungen.“





Gernulf Olzheimer kommentiert (CCCXXXIV): Clickbaiting

24 06 2016
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Für Rrt sah die Sache auch nicht besser aus. Die Hauptfrau hat ihn aus der Höhle geworfen, nachdem er einen Eimer Palmschnaps aufs frisch gereinigte Schlaffell gehustet hatte. Bei Nggr war gerade die bucklige Verwandtschaft zu Besuch, die Gattin von Uga hatte soeben irgendein Kind zur Welt gebracht – so genau zählte man damals nicht – und er wusste nicht, wo er übernachten sollte. Ein Kleckerchen Getreidebrei trug er noch bei sich für die Nacht, aber das verbesserte seine Gefühlslage nicht nennenswert. Da stand eine fesche Braut an der Blätterhütte neben dem Fischtümpel. Rrt drückte der Drallen drei Eberzähne ins Händchen, nestelte erwartungsfroh seinen Pelz auf und spürte das Blut in seinen Arterien gefriertrocknen. Auf der Moosunterlage rekelte sich etwas, das nur einen Schluss zuließ. Die am Eingang musste ihre Enkelin gewesen sein. Schade eigentlich.

Das funktioniert bis heute, und das funktioniert im Internet erst recht. Weil das Klickibunti mit den gefühlten 99 Prozent Luft nach unten jede noch so redundante Information zur Not hinter sich selbst versteckt, um den Nutzer im Augenblick festzuschwiemeln, braucht es Angelhaken, spitze Dornen zum Kobern für den schnellen Leserausch, damit die hirnreduzierte Masse im Dunkel des unsortierten Wortdurchfalls nicht weiterdümpelt und nach dem nächsten Wurm schnappt. Das bisschen intelligente Leben in diesem stehenden, halb umgekippten Gewässer, es hat sich schon fast abgewendet von der Hoffnung, in der medialen Unratsuppe zu überleben. Die Nebenprodukte der Zivilisation haben die Herrschaft übernommen, kurzlebige Arten mit der Aufmerksamkeitsspanne von Mikroben, instinktgesteuert, wenngleich mit wenig davon ausgestattet. Zehnmal wollen sie unbedingt sofort und jetzt gleich alles, statt etwas zu verpassen, von dem sie nicht einmal wissen, was es ist. Sie wissen nicht, dass sie eigentlich Köder sind, weniger Konsumenten als das Produkt selbst, das in evolutionär signifikanten Mengen verbraucht und gleich darauf entsorgt wird.

In der eher vernachlässigbaren Existenz der Querkämmer passiert nachweislich nichts – wie auch, wenn Permanentberieselung mit medialem Sondermüll zum seit Generationen in die Gene eingelaserten Programm gehört, das die mähliche Abstumpfung bis in valiumgeschwängerte Gefilde hievt, wo nur noch grobe Schmerzreize für wenige Sekunden aus dem Halbkoma holen, bevor die Dumpfklumpen wieder im Sopor ersaufen. Jetzt aber, jetzt! Unglaublich, was der Mann da mit dem Eierkarton macht! Faszinierend! Wir werden alle gar nicht darauf kommen, was dann geschieht! Der nackte Wahnsinn! Wahrscheinlich klatscht er ihn platt und tritt das Ding in die Tonne.

Aber selbst da, rabulierende Rhetorik im letzten Gewindegang für zu viel Scheiße unter der Sahnehaube, rechnet sich der knapp kalkulierende Businesskasper aus, wie viel Adrenalin er braucht, um den Aggregatzustand der sedierten Herde zu ändern. Er arbeitet gegen seine eigene Verrichtung an, proximate Ursachen des Verhalten zeitweilig wieder zu unterdrücken. Der instinktiv Beknackte wird intellektuell ausgeknipst, bevor er in einer Art Kurzschlusshandlung aufflackern darf, damit der Konsumismus nicht die Grätsche macht. Latscht in die Werbung, sagt der Schmadder, um mehr geht es doch gar nicht. Wenn wir sie verkaufen, dann doch wenigstens für dumm.

Damit der dünn angerührte Schlumpf sein Äußerstes gibt, wird er am Plärrzentrum gepackt. Ein Zehnjähriges ist seit Wochen um, jetzt lesen wir den erschütternden Brief an die Eltern. (Reklame für Appetitzügler, mit einem einfachen Trick zehn Kilo in weniger als einer Million Jahren verlieren.) Die Tragödie eines Schülers, der als Großvater wieder nach Hause fand. (Weil er mit einem Kredit die Hütte abreißen konnte.) Die dreiundneunzig Dinge, die man nicht verpasst haben darf, wenn man vor siebenunddreißig Jahren höchstens elf war. (Billiger Spot für gefärbte Zuckerplempe, die es damals noch nicht gab, aber der Creative Director macht den Mist auch nur für die Kohle, außerdem ist er noch nicht alt genug.) Kurz bevor es haarig wird, rutschen Kinder und Katzen auf den Rührungsdrüsen herum. Irgendwie kriegt man die Sache immer verkauft.

Der Guckreiz drückt von innen gegen die Rinde. Der auf Passivität gedrillte Kurzstreckendenker muss selbst die Tür eintreten, die ihm ein Komplize von innen vernagelt, er ist nicht verführt worden. Und der Komplize weiß um die Denkart der Schnitzelkinder: was alle wollen, das muss gut sein. Teilt der Bescheuerte seinen Müll, den er nicht einmal begriffen haben wird, auch noch in den asozialen Medien, so wird er endgültig seinem Ruf als Marionette gerecht: die Beute, die Lockspeise wird. Das Schrecklichste, was man sich vorstellen kann. Achtunddreißig Gründe, warum es einem trotzdem wumpe ist. Bei Nummer dreizehn wäre der Redakteur fast eingeschlafen. Und jetzt die Klickstrecke. Bleib dran, Du Opfer.





Verraten und verkauft

14 05 2014

Die Dame an der Rezeption sah mich feindselig an. „Aber ich hatte doch mit Herrn Paulheinrichs telefoniert.“ Das schien sie nicht zu beeindrucken. „Kenne ich nicht, nie gehört.“ Ich zeigte ihr die Visitenkarte. „Wie gesagt, ich kenne den Namen nicht. Ich darf Ihnen auch nicht sagen, ob er hier überhaupt…“ Dabei kam er gerade mit einem Aktenordner unter dem Arm aus seinem Büro und stürzte auf mich zu. „Aber von mir wissen Sie das nicht!“

„Sie sind hier ja eingerichtet wie in einem Geheimdienst“, wunderte ich mich. Die Buchhalterin, die Paulheinrichs Papiere auf den Schreibtisch legte, trug einen Umhängebart. Ich mochte mich täuschen, aber nirgends war eine Steinigung zu hören. „Sie ist nur zur Tarnung in der Buchhaltung beschäftigt“, entschuldigte er sich, indem er die Papiere sorgfältig in den Schredder stopfte. Wahrscheinlich wäre es sonst jemandem aufgefallen, dass sie keine echte Buchhalterin war. „Sie arbeitet an einem sehr geheimen Projekt, da darf sie nicht auffallen.“ Ich wollte wissen, woran. Doch er schüttelte den Kopf. „Sie dürfen es mir nicht sagen?“ Wieder schüttelte er den Kopf, doch diesmal, weil er den Kopf schüttelte. „Ich kann nicht. Ich weiß es nämlich nicht, weil es nur ein paar Leute hier bei uns wissen dürfen. Ich nicht.“ „Und sie weiß es hoffentlich?“ Er seufzte. „Ich hoffe. Manchmal wissen das unsere Ermittler auch erst, wenn sie im Einsatz sind. Tarnung ist alles.“

Paulheinrichs war schon eine imposante Figur. Er sah so durchschnittlich aus, dass man ihm alles hätte zutrauen können. „Ich habe sehr erfolgreich als Supermarktkassierer gearbeitet“, bestätigte er, „und es ist niemandem aufgefallen, dass ich gar nicht kassieren kann.“ „Was mich interessiert“, hakte ich nach, „wie sind Sie Supermarktkassierer geworden, wenn Sie nach eigener Aussage keine Befähigung dazu hatten?“ „Ich arbeite nun mal als Undercover.“ „Sie mussten also Ihre Bewerbung frisieren?“ Er verzog ein wenig das Gesicht. „Wir haben uns Kopien von Arbeitszeugnissen verschafft und so eine Legende aufgebaut. Damit wurde ich im Supermarkt eingestellt.“ Ich erinnerte mich an die Story, die in seinem Buch Verraten und verkauft erhebliches Aufsehen erregt hatte. Er hatte aufgedeckt, dass viele Kassierer nicht ausreichend für ihren Job qualifiziert waren.

„Mein bester Mitarbeiter“, flüsterte er und zeigte durch die Glastür auf einen Putzmann. „Er ist investigativer Journalist, hat daher zehn Jahre lang als Taxifahrer und Klempner gearbeitet und war für einen Auftrag als Herzchirurg in einer Klinik.“ Ich sah ihn beklommen an, doch Paulheinrichs winkte ab. „Nur für Privatpatienten, Ihnen wäre also nichts passiert.“ Er drehte ein Blatt Papier um; darauf war ein Firmenschild abgebildet. „Von mir haben Sie das nicht. Aber genau da werden wir ihn ab nächste Woche einsetzen. Er wird alles herausfinden: die dreckigen Böden, Lärm, Abgase, mangelhaft geputzte sanitäre Einrichtungen.“ „Es handelt sich um eine Autowerkstatt“, gab ich lakonisch zurück. Paulheinrichs triumphierte. „Endlich haben wir es schwarz auf weiß, dann werden unsere Kritiker endlich mal Ruhe geben!“

Die Erfolge dieses Mannes konnten sich sehen lassen. Er ließ einen Sicherheitsfachmann auf dem Bierfest auftreten und filmte ihn heimlich, wie er heimlich die Betrunkenen filmte. In der Großküche deckte er auf, dass die Schnitzel vorgekocht werden und danach erst in der Pfanne landeten. „Immerhin waren wir die Ersten, die das gezeigt haben!“ Fast trotzig zog er die Stirn in Falten. Seit seinen Veröffentlichungen wussten wir nun also, dass in einer Wäscherei zentnerweise Bettlaken in große Kessel plumpsten und dass Friseure ihren Beruf zum größten Teil im Stehen ausübten, sich ständig in die Finger schnitten und den ganzen Tag lang mit Chemikalien zu tun hatten. „Außerdem dieser Psychostress!“ Paulheinrichs verdrehte die Augen. „Die Kunden erzählen einem da entsetzliche Sachen, und wir mussten uns das alles anhören. Stundenlang!“ Er war wirklich nicht zu beneiden gewesen.

Jetzt wollten sie eine Werbeagentur infiltrieren. „Wir haben uns schon die besten Leute geholt“, versprach er mir. „Einer unser Agenten, der war zwar auch noch nie in der Werbung, aber er weiß genau, was da abgeht.“ Ich nickte bedächtig. „Diese ständige Wochenendarbeit, die Nachtschichten, und dann diese bekloppten Kunden, die einem auf der Zielgeraden jede halbwegs sinnvolle Kampagne zerschießen, weil sie sie nicht kapieren.“ Er war irritiert. „Das heißt, es ist alles nicht…“ „Doch“, beruhigte ich ihn. „Alles stimmt, sämtliche Gerüchte. Dass sich manche Werber tagelang nur von schwarzem Kaffee und Bleistiften ernähren, das kann ich bestätigen. Viele gehen auch zwischendurch Golfen. Falls es nicht mit dem Termin für den nächsten Herzinfarkt kollidiert. Aber das wussten Sie ja sicher.“

Die bärtige Buchhalterin hatte noch einmal wortlos ein paar Papiere reingereicht, da zog Paulheinrichs unvermittelt ein Blatt aus dem Aktenordner. „Wir arbeiten da an einer ganz großen Sache“, zischte er mir zu, „absolut geheim! Top Secret! Wir warten nur noch auf den richtigen Zeitpunkt.“ Es handelte sich um einen Lageplan; zur Vorsicht war er jedoch nicht beschriftet. „Wir werden die Bundesregierung unterwandern“, gab er bekannt. „Wir werden da reingehen, wir werden alle Heimlichkeiten aufdecken. Alle! Dazu werden wir mit den besten Leuten zusammenarbeiten und…“ Er drehte das Blatt wieder um. „Sagen Sie mal, Sie kennen sich doch mit Politik aus?“